Kraus, Fritz Rudolf
Geb. 21.3.1910 in Spremberg (Brandenburg), gest. 19.1.1991 in Leiden/NL.
Zu K.s Abitur 1928 gehörte bereits das Hebraicum. Er studierte in München und Leipzig semitische Philologie mit dem Schwerpunkt Assyriologie. 1935 promovierte er in Leipzig bei Landsberger (Dissertation: »Die physiognomischen Omina der Babylonier«).[1] Aus rassistischen Gründen fand er keine Anstellung und emigrierte 1937 in die Türkei, wo ihm Landsberger eine Stelle für Numismatik am Museum in Istanbul verschaffte, für das er die Sammlung der Keilschrifttäfelchen inventarisierte. Bei seiner Emigration kam ihm zugute, daß er bereits während des Studiums neben den altorientalischen Sprachen Arabisch und Türkisch gelernt hatte. 1942-1949 lehrte er mit Unterbrechungen (nach eigener Darstellung: auf türkisch) an der Universität Istanbul; zeitweise war er arbeits- und einkommenslos.[2] 1942 wurde er in Istanbul noch als »Halbjude« zum Wehrdienst nach Deutschland zurückgerufen (was er nicht befolgte, ihm aber Unsicherheiten bei seinem rechtlichen Status verschaffte).
1949 erhielt er einen Ruf nach Wien, unterstützt durch ein ungemein lobendes Gutachten von Landsberger, der zuvor eine Berufung auf diesen Lehrstuhl abgelehnt hatte.[3] Zu den Absurditäten damaliger Besetzungsverfahren gehörte es, daß die Universität Wien von K. den Nachweis verlangte, nicht in der NSDAP gewesen zu sein – einen Nachweis, den er nicht beibringen konnte, dem er aber durch den Hinweis auf seine rassistische Verfolgung offensichtlich Genüge tun konnte. Die Professur in Wien, wo er auch die österreichische Staatsbürgerschaft erwarb, nahm er von 1950 bis 1953 wahr. 1954 wurde er ordentlicher Professor für babylonische und assyrische Sprache in Leiden, wo er 1980 emeritiert wurde.
Seine Publikationen betreffen die ältere Kulturgeschichte des Vorderen Orients im breitesten Sinne. Sprachwissenschaftliche Methoden sind für ihn eher Hilfsmittel der historischen Forschung, die dieser zugleich aber auch Schranken setzen. Ein Beispiel dafür, wie souverän er sprachwissenschaftliche Analysen einzusetzen wußte, ist seine »Einführung in die Briefe in altakkadischer Sprache«.[4] In einer sorgfältigen Corpusanalyse (mit synoptischer Auswertung der Formen, S. 100-101) bestimmt er die formalen Gattungsspezifika der babylonischen Briefe, wobei er im Horizont der jüngeren Diskussion um orate/literate Strukturen Muster mündlicher Kommunikation als rhetorische Formen bestimmt, die eben auch schriftlich fest sein können. Systematisch geht er Fragen der Spuren von Zweisprachigkeit nach (sumerische Muster in akkadischen Texten: Wortstellung, Kalkierungen u. dgl.); detailliert auch Problemen der syntaktischen Analyse etwa bei angeführten Äußerungen u. dgl. Mit seiner strikt positivistischen Grundhaltung gegenüber dem in der Altorientalistik Erforschbaren markierte er eine extreme Position in der fachwissenschaftlichen Diskussion.[5] In diesem Sinne waren auch seine in der Zunft gefürchteten Rezensionen, wobei deren Schärfe wohl auch die Verletztheit von jemandem ausdrückt, der unter »neun, zeitweise recht harten Jahren« im türkischen Exil zu leiden hatte: er war dort über längere Zeit von der Unterstützung anderer abhängig.[6]
Von seiner methodischen Grundposition aus ist es erstaunlich, daß er sich doch auch i. S. seines Lehrers Landsberger bemühte, über die Analyse der sprachlichen Form das Weltbild der Sprecher/Schreiber zu erschließen, so vor allem in seinem späteren Hauptarbeitsgebiet, dem Babylonischen.[7] Im Vordergrund standen für ihn die editorischen Arbeiten, in deren Kommentaren seine sprachwissenschaftliche Ausrichtung zum Ausdruck kommt, s. »Altbabylonische Briefe in Umschrift und Übersetzung«;[8] in diesem umfangreichen Unternehmen, das er in der Einleitung zu Bd. 1 begründet, sollten in diplomatischen Ausgaben die Sammlungen der verschiedenen Museen für die Forschung erschlossen werden. Die Ausgaben enthalten neben der Abschrift eine Übersetzung (mit Kommentar zu problematischen Stellen), aber keinen eigentlich philologisch-sprachwissenschaftlichen Apparat. Das Unternehmen wurde von Leidener Kollegen fortgeführt; von K. stammt Bd. 1 (»Briefe aus dem British Museum«), Bd. 4/1968 (»Briefe aus dem Archiv Šamaš-Hazir in Paris und Oxford«), Bd. 5/1972 (»Briefe aus dem Istanbuler Museum«), Bd. 7/1977 (»Briefe aus dem British Museum«), Bd. 10/1985 (»Briefe aus kleineren westeuropäische Sammlungen«).
Neben der Historiographie liegt der Ertrag seiner Arbeiten vor allem in der Lexikologie.[9] Obwohl bei ihm philologische Fragen im Vordergrund stehen, bei denen er für die Kontrolle der Interpretation kulturgeschichtliche Plausibilitätsargumente heranzieht, behandelt er doch auch ausführlich grammatische Fragen, wenn das zur Klärung notwendig ist. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Klärung eines in der Forschung dubiosen Verbs °r T b° »anfangen/fortfahren« (die Interpretation des mittleren Radikals ist zweifelhaft), bei dem er sorgfältig zwischen seiner Funktion als koverbaler Modifikation im komplexen Prädikat gegenüber einem Matrixverb in hypotaktischen Konstruktionen unterscheidet, s. »Lexikalisches und Lexikographisches zu einem akkadischen Verbum«.[10]
Q: BHE; Widmann 1973; Universitätsarchiv Wien; G. van Driel u.a. (Hgg.), »Zikir Sŭmim« (FS f. K.), Leiden: Brill 1982; R. Stol, »In memoriam F. R. Kraus«, in: Bibliotheca Orientalis 48 (3,4)/1991: 331-336 (mit bibliographischen Ergänzungen zur FS); Nachruf von D. O. Edzard, in: Z. f. Assyriologie 81/1991: 1-3; M. Stol, »F. R. K.«, in: »Levensberichten en herdenkingen«, Amsterdam 1992 (Huygens Institute – Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences [KNAW]): 33-38; Hanisch 2001; Hoss 2007.
[1] Gräfenheinichen: Schulze 1935.
[3] Auf der Berufungsliste standen noch vor K. Falkenstein und Oppenheim, die ebenfalls abgelehnt hatten. Die Fakultät schlug die Besetzung des Lehrstuhls mit K. auf einer a.o. Professur vor, weil dieser »wegen seiner Jugend« (so der Dekan am 28.9.1949 an das Ministerium) für ein Ordinariat nicht infrage kam (K. war damals 39 Jahre alt). Die Folge waren Gehaltsbedingungen, unter denen K. sich gegenüber der Türkei verschlechtert hätte – was längerwierige Gehaltsverhandlungen nach sich zog.
[4] In: Jahresbericht van het Vooraziatisch-Egyptisch Genootschap Ex Oriente Lux 24/1975: 74-104.
[5] S. W. W. Hallo, »The Limits of scepticism«, in: J. Amer. Oriental Soc. 110/1990: 187-199, bes. 191-192.
[6] Das machte er in seinem Briefwechsel vor dem Ruf an die Universität Wien mehrfach zur Unterstützung seiner Ansprüche geltend, s. in diesem Sinne auch den Nachruf von Edzard. Aufschlußreiche anekdotische Hinweise bei Hoss (2007: 148).
[7] S. dazu die ausführliche Besprechung seiner Vorlesungen »Vom mesopotamischen Menschen in altbabylonischer Zeit und seiner Welt« 1973, von W. Farber in: Die Welt des Orients 8/1976: 124-128.
[8] Leiden: Brill 1964-1985.
[9] S. auch das Register über seine lexikologischen Beiträge von A. Ganter in: Z. f. Assyriologie 81/1991: 3-6.
[10] In: W. Meid/H. Trenkwalder (Hgg.), »Im Bannkreis des alten Orients. FS. K. Oberhuber«, Innsbruck: Innsbrucker Beiträge Kulturwissenschaft 1986: 125-141.