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Lichtenstadter, Ilse

(bis 1944: Lichtenstädter)

Geb. 10.9.1901 in Hamburg, gest. 23.5.1991 in Boston.

 

L. stammte aus einer jüdischen Familie, besuchte aber eine Klosterschule. Diese Spannung bestand für sie lebenslang: später in den USA hatte sie den engsten Arbeitskontakt (und auch persönliche Bindungen) zu jesuitischen Arabisten (s. Schimmel, Q). Nach dem Abitur unterrichtete sie als Lehrerin und war zugleich wandervogel-aktiv (in einer jüdischen Organisation, aber in Abgrenzung vom Zionismus). Schon als Schülerin hatte sie orientalistische Vorlesungen in Hamburg gehört. Ihren Lehrerberuf gab sie schließlich auf, um in Frankfurt im Hauptfach Arabistik zu studieren. 1931 promovierte sie dort (zur Dissertation, betreut von J. Horovitz, s.u.). Nach der Promotion erhielt sie ein Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie emigrierte 1933 vor der rassistischen Verfolgung nach England, zunächst nur mit einem Besuchervisum, erst 1935 erhielt sie ein reguläres Visum. Sie hatte Mühe, ihren Aufenthalt zu finanzieren, u.a. mit Arbeiten bei der Oxford University Press. Daneben studierte sie in Cambridge und Oxford, wo sie 1937 nochmals den Ph.D. mit einer partiellen Edition des »Kitāb al-muḥabbar« erwarb.[1]

1938 emigrierte sie weiter in die USA, wo sie zunächst in New York als Bibliothekarin an der Jüdischen Theologischen Hochschule tätig war, später am dortigen Asia Institute, seit 1942 als Dozentin für Arabistik und Islamwissenschaft (seit 1945 als Assistenzprofessorin, seit 1951 als ordentliche Professorin). Nachdem das (auf einer privaten Stiftung beruhende) Asia Institute eingestellt wurde, lehrte sie von 1953-1959 an der New York Universität, von 1959-1960 an der Rutgers Universität. Erst 1960 erhielt sie eine feste Stelle am Middle East Center in Harvard, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1974 lehrte. Offensichtlich war sie in den USA sozial integriert und entsprechend vielfach aktiv (in New York z.B. im Orientclub). So fühlte sie sich offensichtlich dort auch wohl, obwohl sie zeitweise ohne Unterstützung blieb, weil sie als »pro-arabisch« gerade auch in jüdischen Kreisen auf Widerstände stieß (Hinweis von Menges).

Das Profil ihrer Arbeit ist eindeutig kulturgeschichtlich: in ma­terialreichen Studien arbeitet sie den Islam als eine integrative Kulturform heraus, gewissermaßen als Kon­trast zu den rassistischen »westlichen« Formen politischer Kul­tur – wobei sie Themen der ei­genen Migrantenbiographie verarbeitete: so untersuchte sie die integrativen Potentiale des Islam ge­genüber der ethnisch-tribalen Vielfalt gerade auch am Beispiel der Ju­den, die für den Propheten Mohammed nur als religiöse Konkurren­ten, die sich nicht integrieren ließen, Gegner wurden (s. etwa die materialreiche Studie »From Particularism to Unity: Race, Nationa­lity and Minorities in the Early Islamic Empire«).[2] In ihrer »Introduction to clas­sical Arabic literature«[3] betont sie eben­falls den kulturellen (im Gegensatz zum ethnischen, »muttersprach­lichen« o.ä.) Status der arabischen Literatur.[4] Äußere Geschichte und Ideengeschichte liefern ihr eine Folie für die Auseinandersetzung mit der arabischen Literatur (die er­wähnte Einführung enthält eine ausführliche Anthologie, S. 149-392, mit teilweise von ihr selbst übersetzten Texten). Ein weiteres Forschungsgebiet war für sie die Rolle der Frauen/Mädchen in der islamischen Welt, wozu sie aufgrund eines längeren Feldforschungsaufenthaltes in Ägypten 1950/1951 publizierte.

Spricht das alles dafür, L. nicht als Sprachwis­senschaftlerin zu zählen, so hat sie doch auch Arbeiten mit sorg­fältigen sprachwissenschaftlichen Analysen angefertigt, insbesondere in ihrer Frankfurter Dissertation »Das Nasīb der altarabischen Qaṣīde«.[5] Obwohl auch hier eine kultur­soziologische Fragestellung für ihre Untersuchung dieser Liebesly­rik leitend ist (insbes. eine Rekonstruktion des Verhältnisses der Geschlechter zueinander aufgrund der Darstellung in den Dichtun­gen), ist die Grundlage dafür eine extensive formale Beschreibung (vom Wortschatz bzw. den Wortfeldern bis zur Syntax bzw. stilisti­schen Figuren). Insofern steht sie mit dieser Arbeit vor ihrer Emigration im Kontext der damaligen kulturanalytischen Sprachwis­senschaft in Deutschland – die sie nachher, bei ihrer Tätigkeit in den USA, anscheinend nicht mehr fortgesetzt hat (ich habe in spä­teren Arbeiten nur noch sehr pauschale Hinweise auf die »externe« Sprachgeschichte gefunden). Über im weiteren Sinne philologische und literaturwissenschaftliche Gegenstände hinaus befaßte sie sich vor allem auch mit religionsgeschichtlichen Themen, wo sie bemerkenswerterweise auch im Koran Spuren einer außerarabisch-semitischen (vor allem auch außerjüdischen) Tradition findet, z.B. mit Verweis auf altägyptische Quellen: »Origin and interpretation of some Koranic symbols«.[6]

Q: LdS: temporary; BHE; Nachrufe: A. Zysow, in: Middle East Studies Assoc. Bull. 25/1991: 308-310; A. Schimmel, in: Die Welt des Islams 32/1992: 173-176. Hanisch 2001; Hinweise von Menges.



[1] Die vollständige Textausgabe dieses frühen arabischen Grammatikers (9. Jhd.) erschien 1942 in Hyderabad: Matbacat Jam ciyat Da'irat 'al-Macarif 'al-cUthmaniyah 1942.

[2] In: Islamic Cul­ture (Hyderabad), 1949: 251-280.

[3] New York: Twayne 1974.

[4] S. bes. a.a.O. s. 3-4.

[5] Dissertation Franfurt/M. 1931, gedruckt in: Islamica 5/1932: 18-96. Nasīb bezeichnet das (erotische) »Frauenlob« dieser Dichtungsgattung.

[6] In: G. Makdisi (Hg.), »Arabic and Islamic Studies in honor of A. R. Gibb«, Leiden: Brill 1965: 426-436, demjenigen gewidmet, der L. nach Harvard geholt hatte.