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Schücking, Levin Ludwig

Geb. 29.5.1878 Burgsteinfurt/Westf., gest. 12.10.1964 in Farchant/Oberbayern.

 

Nach dem Abitur 1897 in Münster Studium der Anglistik und Germanistik (aber nach den Angaben in der Vita fachlich sehr breit ausgerichtet) 1897-1901 in Freiburg, Berlin, München und Göttingen. 1901 promovierte er in Göttingen in der Anglistik; 1904 Habilitation. Sein Interessenschwerpunkt lag bei der Literatur; schon in seiner Göttinger Studienzeit war er in einem literarischen Zirkel aktiv.[1] Ausführlich stellt er diese Dinge, insbesondere auch im Horizont der Verhältnisse in der Familie bzw. zu seinen Brüdern im »Selbstbildnis« (Q) dar. Die Dissertation hatte einen literaturgeschichtlichen Schwerpunkt: »Studien über die stofflichen Beziehungen der englischen Komödie zur italienischen bis Lilly«,[2] wobei S. selbstverständlich parallele Textstellen in Englisch wie in Italienisch ohne Übersetzungen anführt (entsprechende Sprachkenntnisse also voraussetzt).

Die Habilitationsschrift lieferte die für die Universitätskarriere erforderliche sprachwissenschaftliche Qualifikation im Altenglischen: »Die Grundzüge der Satzverknüpfung im Beowulf«.[3] Hier legte er eine rein deskriptive Untersuchung vor, die syntaktische Konstruktionen identifiziert (in der Einleitung grenzt er seine Arbeit ausdrücklich von «logischen« Ansätzen, vor allem aber auch von psychologisierenden Ansätzen in der Nachfolge von Wundt ab). Er gibt eine detaillierte Auflistung in Verbindung mit einem statistischen Inventar der Belege nach »konstruktiven Momenten« (S. 30), wobei er diese in Hinblick auf die »noch nicht völlig ausgereiften altenglischen Verhältnisse« (S. 20*) mit Parallelen in der gesprochenen (Umgangs-)Sprache plausibel macht (bes. S. 16*).

S. gehörte zu der breiten Strömung der Neuerer, die den junggrammatischen Positivismus programmatisch ablehnten (s. seine entsprechenden Bemerkungen in der Autobiographie 1958, Q), der aber gleichzeitig das sprachwissenschaftliche Handwerk souverän beherrschte: angefangen bei seinen sprachhistorischen Studien vor allem zum Altenglischen bis hin zu editorischen Detailuntersuchungen in dem Feld, das wohl den Hauptanteil seines Werkes ausmacht, zu Shakespeare: 1912-1929 war er Mitherausgeber der englisch-deutschen Gesamtausgabe, 1931 gab er eine Shakespeare-Bibliographie heraus, mit einem Ergänzungsband 1937. Auch hier produzierte er sprachwissenschaftliche Einzelanalysen, z.B. »Das Wort ›disposer‹ bei Shakespeare«,[4] in denen er durch eine detaillierte Kontextanalyse im Gegensatz zu der üblicherweise angesetzten Bedeutung »Geliebte, Flirt« eine höfisch-gespreizte Redeform (»Gebieter«) sieht.

Mit diesem Profil etablierte er sich im Fach: seit 1910 hatte er eine Professur in Jena, seit 1916 in Breslau und schließlich 1925 in Leipzig. Sprachanalytische Fragen bearbeitete er als Zugang zu den historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen, im Sinne des damaligen Fachverständnisses von ihm explizit als Stilanalyse angesprochen. In seinen »Untersuchungen zur Bedeutungslehre der angelsächsischen Dichtersprache«[5] zeigt er exemplarisch an (alphabetisch angeordneten) Beispielen des altenglischen Wortschatzes auf, daß eine Bedeutungsanalyse nicht im Sinne einer gesellschaftsfreien Lexik möglich ist, sondern eine genaue Textanalyse (kontrolliert durch eine syntaktische Analyse) verlangt, die die in die Texte eingeschriebenen gesellschaftlichen (kulturellen) Spannungen zeigt – bei den altenglischen Texten das Spannungsfeld zwischen heidnisch-»heldischer« Stilisierung und Christianisierung. Dieses Spannungsfeld artikuliert die dichterische Kunstsprache sehr unterschiedlich, die er detailliert im Kontrast zur alltagsnahen altenglischen Prosa rekonstruiert.

In dieser Perspektive hatte er auch seine Habilitationsschrift geplant, von der er die publizierte Analyse 1904 auf dem Titelblatt nur als »I. Teil« avisierte: der zweite Teil sollte mit einer stilistischen Analyse die Einheitlichkeit der Beowulf-Dichtung zum Gegenstand haben.[6] Daneben bemühte er sich, seine Qualifikation im Sinne der akademisch etablierten junggrammatischen Forschung unter Beweis zu stellen, z.B. in »Altengl. SCEPEN und die sogen. idg. Vokativreste im Altengl.«,[7] wo er für die in nordhumbrischen Quellen zu findenden Variationen von scepen(d) »Schöpfer« neben der üblicherweise angesetzten lautlichen Apokope der partizipialen Bildung eine eigene nominale Wortbildung mit einem Suffix *-in ins Spiel brachte (die Forschung ist ihm darin nicht gefolgt).

Entsprechend verweigerte er sich einer rein ästhetischen Literaturwissenschaft. Programmatisch wurde dafür sein einflußreiches Werk, mit dem er Grundlagen der Literatursoziologie definierte: »Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung«.[8] Literaturgeschichte soll, wie er es exemplarisch vorführt, nicht nur die Produktionsbedingungen (Autor, materiale Bedingungen der Textproduktion u. dgl.), sondern auch die Rezeptionsbedingungen rekonstruieren: die Einbettung des Werks in zeitgenössische Randbedingungen, zu denen der »Geschmack« gehört, der in seiner historischen Wandelbarkeit zu analysieren ist. Dabei gilt es, neben den identifizierbaren »inhaltlichen« Momenten auch die der u.U. zugrundeliegenden unterschiedlichen sozialen Rekrutierung der Konsumenten zu analysieren. Literaturgeschichtliche Überblicke sind bei ihm entsprechend eingebettet in umfassende sozialgeschichtliche Kontexte, so z.B. in seiner Darstellung »Die angelsächsische und frühmittelenglische Dichtung« in dem gemeinsamen Band mit Hans Hecht, »Die englische Literatur im Mittelalter«.[9] Diese Arbeit hatte er als ersten Teil einer großen englischen Literaturgeschichte geplant, die er aber nicht fertigstellen konnte (s. »Selbstbildnis«, Q: S. 323). Später griff er in diesem Sinne auch polemisch in die literaturtheoretischen Diskussionen ein und forderte eine historisch kontrollierte Textanalyse, z.B. »Der neue Othello«.[10]

S. war engagierter Pazifist, der im Ersten Weltkrieg öffentlich gegen die chauvinistischen Erklärungen deutscher Professoren auftrat. Von 1918 bis 1925 amtierte er als Vorsitzender der schlesischen Abteilung der »Deutschen Friedensgesellschaft«. Er kritisierte die Politisierung gerade auch der fremdsprachlichen Fächer mit ihrer Ausrichtung auf »Feindaufklärung«, die für die sog. kulturkundliche Bewegung bestimmend war. 1929 trat er unter Protest aus der deutschen Shakespeare-Gesellschaft aus, weil diese ein ausländisches Mitglied wegen vorgeblich antideutschen Äußerungen ausgeschlossen hatte. Er war publizistisch auch in England tätig, was ihm durch honorierte journalistische Beiträge in der Inflationszeit ökonomische Ressourcen verschuf (s. in seinen Autobiographien, Q). In der Weimarer Republik trat er auch als politischer Redner im Umfeld der SPD auf (s. »Selbstbildnis«, Q).

1930 gehörte er zu den »republikanischen und sozialistischen Hochschullehrern«, die eine Protestresolution gegen die nationalsozialistische Agitation in Heidelberg gegen Gumbel unterzeichneten (s. Auswertung: 2. 1. 3. 3). Daraufhin war er gleich 1933 nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten Ziel von deren Angriffen, die nur aufgrund der Unterstützung in der Universität und darüber hinausgehenden persönlichen Interventionen bei den politischen Instanzen nicht zu seiner Entlassung führten. S. trug sich damals schon mit dem Gedanken der Emigration und verhielt sich von jetzt ab auch taktisch vorsichtig: 1933 unterzeichnete er das »Bekenntnis der Professoren zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat«.[11] Als 1938 noch Denunziationen hinzukamen, wurde er systematisch diszipliniert, u.a. aus dem Prüfungsamt der Universität ausgeschlossen. Er erhielt keine Erlaubnis mehr zu (dienstlichen) Auslandsreisen und wurde schließlich 1942 ohne Gehalt suspendiert. Allerdings konnten fachliche Ehrungen auch später noch erfolgen (1939, 1941). Er erreichte es 1944 sogar noch, emeritiert zu werden. In den letzten Jahren lebte er auf seinem zweiten Wohnsitz in Farchant in Oberbayern, u.a. von privatem Englischunterricht. 1946 kam er als Lehrstuhlvertreter an der Universität Erlangen wieder in den Dienst, 1952 nach der erneuten Emeritierung nahm er noch bis 1957 einen Lehrauftrag an der Universität München wahr. Nach 1946 gehörte er zu denen, die offen gegen politisch belastete Fachvertreter auftraten (zu den daraus resultierenden Konflikten, s. »Selbstbildnis« Q: S. 326-27).

Über fachliche Beiträge hinaus nahm er zu bildungs- und hochschulpolitischen Fragen Stellung, wobei er sich als distanziert-ironischer Beobachter zeigt, der vor allem auch die soziale Dimension der Hochschulpraxis und -reform analysiert: so z.B. in »Die Herkunft unserer Philologen«,[12] wo er dem schon damals verbreiteten Topos einer Kritik an der Praxisferne der geisteswissenschaftlichen Hochschullehre gegenüber der geforderten Lehrerausbildung die soziale Rekrutierung der Studierenden in den philologischen Fächern gegenüberstellt, die aus kleinbürgerlichen Schichten stammen, die aufstiegs-, aber noch mehr abstiegsbedroht sind und insofern sich auf den memorisierbaren Lernstoff ausrichten, womit sie einerseits auf das geringe soziale Prestige des Lehrerberufs reagieren, wie sie andererseits damit die schlechte Schulpraxis festschreiben.[13]

Q: V; Autobiographie: »Memorabilia«, in: Anglia 76/1958: 1-26; eine ausführliche Manuskriptfassung ist postum veröffentlicht worden: »Selbstbildnis«, in: U. Morgenstern (Hg.), »L. L. Schücking, Selbstbildnis und dichterisches Schaffen«, Bielefeld: Aisthesis 2008: 189-364; eine vollständige Bibliographie in Morgenstern 2006[14]: 369-378; Kürschner 1961; Haenicke/Finkenstaedt 1992; DBE; Hausmann 2003; Würdigung von W. Clemen, in: Anglia NF 62=76/1958: 27-40; dort eine Bibliographie von B. Ehrl: 217-226 (eine Bibliographie bis 1937, hg. von W. Ebisch, »Bibliographie der wissenschaftlichen Arbeiten von L. L. Sch. anläßlich seines 60. Geburtstages« war bereits 1938 [Leipzig: Lorentz] erschienen). Nachrufe: (N.N.) in: Anglia 82/1964: 1-2; F. K. S., »L. L. S: Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages«, in: Germ.-rom. Ms. NF 28/1978: 263; Hinweise von U. Morgenstern.[15]



[1] Bei Morgenstern 2008 (Q) sind seine dichterischen Werke versammelt.

[2]Halle/S.: Niemeyer 1901.

[3] Halle/S.: Niemeyer 1904.

[4] In: Mitt. über englische Spr. und Lit. u. über engl. Unterr. 43/1932: 189-191

[5] Heidelberg: Winter 1915.

[6] Aufgenommen wurde diese Perspektive von S.s Schüler Borinski, s. bei diesem zu dessen Dissertation 1934.

[7] In: Englische Studien 44/1912: 155-157.

[8] München: Rösl 1923; übersetzt u.a. ins Englische, Spanische, Russische und Slowakische.

[9] Potsdam: Athenaion, 1927: 1-68 (im Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. von O. Walzel).

[10] In: S. Korninger (Hg.), »Studies in English language and literature« (FS K. Brunner), Wien: Braunmüller 1957.

[11] Zu den politischen Konflikten s. Morgenstern 2006 (Q).

[12] In: März. Wochenschrift für deutsche Kultur 5 (4)/1911: 171-177.

[13] S. auch seine »Plaudereien mit Lothar Engelbert«, Bamberg: Baessler 1948 (er identifiziert seinen Gesprächspartner dort auch ausdrücklich als seinen älteren Bruder), in denen er ironisch-realistisch die Alltagspraxis an der Hochschule in Lehrveranstaltungen und vor allem auch in Prüfungen darstellt.

[14] »Das Fach der Anglistik an der Univ. Leipzig in der Weimarer Republik und im Dritten Reich«, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2006 (= Beitr. Leipziger Universitätsgeschichte Reihe B, 9).

[15] Im Druck (2012) ist auch eine Familienbiographie: U. Morgenstern, »Bürgergeist und Familientradition. Die liberale Gelehrtenfamilie Schücking im 19. und 20. Jahrhundert«, Paderborn: Schöningh (Dissertation Leipzig 2011).