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Alfred Schütz

Geb. 13. April 1899 in Wien; gest. 20. Mai 1959 in New York

 

1917 beendete S. das Gymnasiums mit einer „Not-Matura“, um gleich seinen Militärdienst anzutreten. Nach Kriegsende studierte er an der U Wien Jura und Sozialwissenschaften mit den Sonderregelungen für Kriegsveteranen: verkürztes Studium und Dispens einer Dissertation bei der Promotion. Dadurch konnte er schon 1921 das Studium in der Rechtswissenschaft abschließen, mit Hans Kelsen (1881 – 1973) als Hauptprüfer. Der virulente Antisemitismus an der Wiener Universität, dessen Opfer auch Kelsen war, [1] traf auch ihn und versperrte die Möglichkeiten einer universitären Karriere. S. war daher beruflich in Wien im Bankensektor tätig und konnte seine wissenschaftlichen Interessen gewissermaßen nur nebenbei verfolgen. 1938 wurde er als Folge der „Arisierung“ der Bank, bei der er tätig war, entlassen und wurde so doch zum Opfer der rassistischen Verfolgung. Er emigrierte nach Frankreich,[2] 1939 bei Kriegsbeginn weiter in die USA, jeweils mit der Fortsetzung seiner Banktätigkeit, zusammen mit den ebenfalls ausgewanderten früheren österreichischen Arbeitgebern. In den USA arbeitete er mit anderen sozialwissenschaftlichen Emigranten zusammen. Seit 1943 lehrte er auch an der New Yorker New School of Social Research. Erst nachdem er dort 1956 eine Professur (full professor) erhalten hatte, gab er die privatwirtschaftliche Tätigkeit auf.

In seiner Wiener Zeit beteiligte er sich an den dort damals sehr differenziert entfalteten intellektuellen Diskussionen, aktiv in den Zirkeln um Hans Kelsen und seinem wirtschaftswissenschaftlichen Lehrer Ludwig von Mises (1881 – 1973),[3] sowie einem nicht akademisch verankerten „Geist-Kreis“ sozialwissenschaftlich ausgerichteter Intellektueller, in dem S. wiederholt referierte (u.a. über „Sprachtheorie“, s. Wagner [Q]: 12).[4] Bestimmend war für S. eine kritische Position gegenüber den ansonsten dort dominierenden abstrakt-„logisch“ konstruierten Prämissen der Analyse wie vor allem beim Wiener Kreis.[5] Aus diesen Diskussionen resultierte u.a. eine enge Beziehung zu Vögelin, die er später im Exil weiterführte. Da die in Wien gerade auch im akademischen Feld dominierenden rassistischen Ausgrenzungen für ihn das Ziel einer Habilitation aussichtslos machten, lag für ihn wie für viele andere der dort Engagierten die Perspektive einer Auswanderung nahe.[6]

Die faschistischen politischen Entwicklungen schufen allerdings neue Hindernisse, insbesondere auch in Deutschland. Nachdem S. sich am Ende der 1920er Jahre wissenschaftlich neu auf Husserls Phänomenologie orientierte (s.u.), hatte dieser ihm in Reaktion auf sein Buch von 1932 angeboten, als sein Mitarbeiter nach Freiburg zu kommen, weil er bei ihm seine eigenen Bemühungen um eine transzendentale Begründung in Strukturen der Lebenswelt kongenial aufgenommen sah. Eine realistische Einschätzung der politischen Verhältnisse ließ S. das Angebot ablehnen. Die schließlich nach seiner Entlassung in Wien 1938 vollzogene Auswanderung über Frankreich in die USA war das Resultat.

Spezifischer Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit war die Suche nach einer Vermittlung der sozialwissenschaftlichen Grundlagenreflexion mit den alltagspraktisch ausgebildeten Reflexionsformen. Zunächst orientierte er sich an den Arbeiten von Henri Bergson (1859-1941), sah aber in dessen Dualismus einer der rationalen Reflexion gegenübergestellten nur intuitiv zugänglichen „inneren“ Erfahrung keine Lösung. Statt dessen sah S. einen objektiven Ansatzpunkt bei den Sprachformen, bei denen allerdings dazu die fundamentale Schichte der Formen zu bestimmen ist, die Alltagserfahrungen artikulieren. Auf diese ist die Begrifflichkeit der Wissenschaften analytisch zu beziehen.

Dazu findet sich in seinem Nachlaß ein umfangreiches Manuskript „Erleben, Sprache, Begriff (Spracharbeit)“ aus dem Jahr 1925,[7] in dem er die analytischen Grundlagen für die „Spracharbeit“ zu bestimmen sucht, durch die aus Worten Begriffe werden (so dort S. 242). Er analysiert dort die grammatischen Grundkategorien, ausgehend von den Wortarten Substantiv / Verb / Adjektiv als Formen der Aneignung von Erfahrung, die sich kommunikativ, also sozial, bewähren müssen. Dazu gehören insbesondere auch die morpho-syntaktischen Ressourcen zur Artikulation von Äußerungen (Sätzen), die in der sozialen (intersubjektiven) Welt verankert sind: von syntaktischen Strukturen durch Kasusmarkierungen (S. 244) bis hin zu informationsstrukturellen Gesichtspunkten, z.B. im Unterschied der attributiven vs. prädikativen Verwendung von Adjektiven (S. 238). An Numerusdifferenzierungen zeigt er, daß solche genuin sprachlichen Kategorien nicht „anschaulich“ auf die unmittelbaren Erfahrungen  reduzierbar sind (S. 218 ff. mit Pluralbildungen im Gegensatz zu Kollektiven u.a.).

Grundsätzlich bestimmte er sprachliche Kategorien durch die Ausrichtung auf ein Du in der sozialen Interaktion, die ihren objektiven Status gegenüber dem subjektiven Erleben begründet. Zwar setzte er sich hier nicht mit den auch zeitgenössisch schon auf solche Fragen abgestellten semantischen (pragmatischen) Ansätzen auseinander, aber er differenzierte systematisch die Analyse des Sinnes von Äußerungen gegenüber der theoretischen Konstruktion der Bedeutung in kontextfrei begrifflich konstruierten Propositionen. Für eine solche Analyse war die Abklärung der damit aufgerufenen verschiedenen kognitiven Welten nötig. Bei diesen dient ihm die alltagspraktisch mit den sprachlichen Formen verbundene Typisierung von Erfahrungen gewissermaßen als Scharnier zwischen ihnen, wobei die begrifflich ausgerichtete Spracharbeit die alltagspraktische Schranke der Bindung an die Brauchbarkeit für die jeweils anstehenden Aufgaben hinter sich läßt.

Auf dieses Weise suchte S. eine Alternative zur „logischen“ Sprachanalyse, wie sie damals in Wien von Carnap u.a. angegangen wurde. Zu diesem Unternehmen hatte er zunächst offensichtlich auch Husserls „Logische Untersuchungen“ gerechnet. Das änderte sich grundlegend, als er dessen „Formale und transzendentale Logik“ (1929) las, bei der er eine weitgehende Homologie zu seinen eigenen Überlegungen fand. [8] Das Ergebnis ist „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie",[9] seine einzige fertiggestellte große Monographie. Dort unternahm er eine wissenschaftstheoretisch begründete Auseinandersetzung mit dem damals in der Soziologie dominierenden Fachverständnis von Max Weber, das für ihn durch sein Studium bei von Mises (s.o.) in den Vordergrund gerückt war. Seine Argumentation entwickelte er stringent unter den Prämissen von Husserls Phänomenologie, die er über weite Strecken des Buches systematisch referierte.

Sprachanalytische Fragen werden dabei nur eher beiläufig thematisch; Fragen der grammatischen Artikulation sind hier anders als in der Skizze von 1925 nicht mehr direkt im Fokus. Zentral ist seine Leitfrage nach der Explikation der Kategorie Sinn. Er rekonstruiert sie als grundlegend für das Alltagshandeln, als Form von dessen Orientierung.[10] Dabei ist Sinn eine reflexive Kategorie, mit der das Handeln objektiviert wird (als Handlung gefaßt wird, wie er terminologisch differenziert). Aber anders als Bedeutungen, die durch die vor allem auch wissenschaftliche „Spracharbeit“ etabliert werden, ist Sinn in soziale Handlungszusammenhänge eingebunden: in der individuellen Praxis gebunden an die Vorerfahrungen der Akteure. Insofern ist Sinn immer situiert: im Horizont der jeweils zu bewältigenden Dinge definiert und dadurch begrenzt (s. bes. S. 167/168).[11] Dabei beruht Sinn auf einer abstrahierenden Distanz zu dem damit Strukturierten: die damit praktisch ausgerichteten Erfahrungen werden typisiert: sie werden konzeptuell artikuliert und erhalten dadurch die Festigkeit einer gesellschaftlich gebundenen Objektivität. Darin liegt für S. das Spezifische der Sprache.

Auch wenn es bei ihm hier nicht im Vordergrund stand, so argumentierte S. ganz selbstverständlich mit sprachtheoretischen Axiomen. Als Grundfunktion der Sprache stellte er die Repräsentation heraus – in Abgrenzung zu allen Formen von Ausdruck.[12] Ausgehend von Husserls Klärung des Zeichenbegriffs (Zeichen in Abgrenzung zu Anzeichen) bestimmte er die Leistungsfähigkeit der Sprache (des sprachlichen Systems) als begründet in der Arbitrarität ihrer Architektur, durch die Art, wie die materiale Form eines Zeichens und seine semantische Form miteinander verknüpft sind (z.B. S. 166). Die systematische Auseinandersetzung mit Husserl blieb von da an in seinen Arbeiten zentral (er spricht von ihm denn auch als „meinem Lehrer“, z.B. KS II: 87). Dazu stimmt, daß er seine Arbeiten auch im Exil weitgehend auf Deutsch verfaßte (und sie zum großen Teil auch in deutschsprachigen Zeitschriften gedruckt sind, s. die KS). Seitdem Husserl in S. Buch von1932 eine kongeniale Fortführung seiner Philosophie entdeckt hatte, war zwischen beiden eine relativ enge persönliche Beziehung entstanden, mit regelmäßigen Besuchen von S. in Freiburg, bei denen Husserl ihm auch Manuskripte seiner Arbeiten gab (z.B. schon früh eine vorläufige Fassung des erst posthum erschienenen „Erfahrung und Urteil“, auf das S. sich denn auch immer bezieht).[13]

In einer Reihe von Aufsätzen, oft als ausführliche Besprechungen von Husserls Schriften, hat S. die methodischen Grundlagen der phänomenologischen Analyse herausgearbeitet. Dabei kam er schließlich in Hinblick auf sein sozialwissenschaftlich intendiertes Projekt doch zu einer grundsätzlichen Kritik an Husserls Anspruch, eine „lebensweltliche“ Fundierung seines Theoriegebäudes mit dem „transzendentalen Wir“ geleistet zu haben, wie dieser es explizit in seinen „Cartesischen Meditationen“ herausgestellt hatte, s. besonders „Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl“ (1957 - KS II: 51-84).[14] Husserls Ansatz, die „Lebenswelt“ als „transzendentale“ Leistung eines „einsamen“ kognitiven ego zu entwickeln, stellte sich für S. als eine theoretische Münchhausiade dar, die den allein tragfähigen Ausgangspunkt bei einem historisch verstandenen Ich zu umgehen versucht, dessen Welt durch seine Vorerfahrungen und Erwartungen strukturiert ist. Entsprechend fordert S. eine konsequente phänomenologische Explikation des zu akzeptierenden Ausgangspunkt bei der immer schon intersubjektiven Welterfahrung (die das „Phänomen“ im emphatischen Sinne der Phänomenologie ausmacht), die sich eben nicht als nur „mundan“ „einklammern" läßt, einschließlich der kommunikativen  Begleiterscheinungen, von denen auch Husserl spricht.

Dieses Programm setzte S. in einer phänomenologisch genauen Rekonstruktion des interaktiven Handelns um, die die Grundstrukturen alltagspraktischer Kommunikation zu identifizieren erlaubt, damit aber auch den Nachweis erbringt, daß diese nicht auf die beobachtbaren Formen der Interaktion zu reduzieren ist: kommunikatives Agieren ist kontrolliert durch die anschaulich zugänglichen Reaktionen des Gegenübers (was sich aber so auch in der tierischer Interaktion findet), die aber nicht Sinnstrukturen erschließen. Diese müssen als solche der Erfahrung rekonstruiert werden, die dem situativen Agieren vorgängig sind (damit bleibt S. in den Bahnen der  Husserlschen Argumentation). Leitend sind Idealisierungen, die S. als (konzeptuelle) Typisierungen bestimmt. Dabei bleiben solche kognitiven Strukturen immer „pragmatisch“ gebunden: in der fundierenden „Alltagswelt“ (S. apostrophiert sie öfters auch als „natürlich“ im Gegensatz zu den theoretischen Konstrukten der Sozialwissenschaften) setzen die Zwänge, situativ bestimmte Problemkonstellationen zu einer Lösung zu bringen (vor allem auch kooperativ mit andern), jedem theoretisch drohenden Regreß begrifflicher Begründung eine praktische Schranke.

Dem ist S. im US-amerikanischen Exil in einer ganzen Reihe von Arbeiten nachgegangen, die sich oft auch als geradezu umgepolte Paraphrasierungen auf die Husserlsche Argumentation lesen.[15] Auch für S. verlangt die theoretische „Reduktion“ eine Epoché: aber damit wird der philosophische Zweifel und alle dazu gehörigen intellektuellen Zugangsweisen eingeklammert [16]– „gerettet“ werden die konstitutiven Momente der Alltagswelt (bei S. auch als „world of working“ angesprochen), auf die alle alternativen Welten (darunter insbesondere die wissenschaftliche bzw. philosophische) bezogen bleiben; diese müssen in Hinblick auf die jeweilige besondere Art der Alterität bestimmt werden, wie S. es auch für fiktive Welten der Literatur, aber auch des Traums u.a. unternommen hat („On multiple realities“, 1945, KS 1: 207 – 259). Nur für die wissenschaftliche Welt gelten strukturelle Charakteristiken wie konsistent verknüpfte propositionale Strukturen u. dgl. Aber auch für sie gilt, daß gerade die für sie konstitutive diskursive Verfaßtheit letztlich an die Alltagswelt und die diese artikulierende Sprache gebunden bleibt: nur in dieser kann der kritische Diskurs unter Wissenschaftlern geführt werden (KS 1: 219-220) – ganz im Husserlschen Sinne einer Absage an die logistische Programmatik des Wiener Kreises.[17] Insofern ist eben auch der für die wissenschaftliche Argumentation konstitutive hypothetische Status aller propositionalen Setzungen nur als Alter zur kategorischen Geltung der Alltagswelt möglich. Alle Welten sind definiert durch selektive Setzungen, die damit jeweils ein Relevanzkriterium liefern. Aber anders als die Alter-Welten kann die Alltagswelt nicht suspendiert werden: sie ist in der Lebenszeit fundiert, die als Leben zum Tod aufgespannt ist.[18] Andererseits wird die Alltagswelt durch das „Einklammern“ aller möglicher Bezüge praktiziert, die nicht für die jeweils anstehenden Aufgaben relevant sind – der Horizont einer universalen Offenheit bestimmt nur die wissenschaftliche Welt.

Mit dieser Ausrichtung seines Arbeitsprogramms lag S. einigermaßen quer zur zeitgenössisch dominierenden US-amerikanischen Sozialwissenschaft, wie er es auch in einer ganzen Reihe von wissenschaftstheoretisch angelegten Arbeiten analysiert hat.[19] Mit seinen dort entwickelten methodologischen Überlegungen schrieb er den Ansatz seines Buchs (1932) fort. Dabei behielten Sprachstrukturen als Instanz der Vergewisserung des „Sinnes" des Handelns ihre Schlüsselrolle. Insofern sind seine methodisch ausgerichteten Arbeiten zu den Sozialwissenschaften immer auch indirekt auf die Sprachwissenschaft bezogen: sie sind in einem systematischen Sinne semiotisch ausgerichtet, indem sie bei den fundierenden symbolischen Verhältnissen ansetzen. Anders als bei den Naturwissenschaften definieren Zeichenverhältnisse nicht nur die analytische Praxis (das Verhältnis von Analytiker und Untersuchungsgegenstand), sondern auch den Gegenstand selbst: die symbolische Praxis der Untersuchten. Diese spezifische Struktur der sozialwissenschaftlichen Forschung bringt die Gefahr der Entgleisung der Analyse (und auch schon der Beschreibung) zu einem narrativen Weiterspielen des ggf. untersuchten Diskurses mit sich. Daher verlangt die Analyse (anders als z.B. bei einem literarischen Werk) eine distanzierte Modellierung, die mit einer strikt kontrollierten Typisierung der Untersuchungsobjekte operiert (explizit so in KS 1: 255).[20]

Mit diesem Fachverständnis bewahrte S. auch im Exil einen europäischen Reflexionshorizont, wie sich nicht nur an der systematisch weitergeführten Auseinandersetzung mit Husserl zeigt, sondern auch in der Art, wie er die Arbeit anderer Emigranten kritisch verfolgt, im Bereich der Sprachtheorie z.B. Cassirer und Goldstein, s. z.B. „Language, language disturbance, and the texture of consciousnes“.[21]  Für ihn zeigt Goldsteins Rekonstruktion der pathologischen Störungen als dadurch bedingte spezifische (eingeschränkte)  Art, den Umgang mit der Welt zu bewältigen, ein Schlüsselbeispiel für die so gerade auch in den Sozialwissenschaftlen geforderte Grundbestimmung ihres Gegenstands. Im einzelnen rekonstruiert S. so Goldsteins Analyse, ausgehend von dessen analytischer Grundfigur der kategorialen Haltung auf einer Husserlschen Basis.[22] Kategorial zielt in diesem Sinne auf die kognitive Artikulation, mit der Erfahrenes als etwas Bestimmtes gefaßt wird, und damit letztlich auf seine sprachliche Artikulation, in der die Erfahrung gewissermaßen einen Halt findet. Begrifflich ergibt sich das für S. auch im wortgeschichtlichen Sinne, den er mit dem Grundbegriff der Prädikation aufnimmt:[23] das „thematisierte“ Erfahrene wird so als Thema gesetzt, von dem „relevante“ Aspekte prädiziert werden.[24] Er stellt dabei die auch für Goldstein leitende praktische Perspektive heraus, die durch das jeweils Erreichbare begrenzt ist: mit der kategorialen Haltung offen im virtuellen Raum der möglichen Bestimmungen, die abhängig vom praktisch gesetzten Horizont zumeist weitgehend implizit bleiben, aber sprachlich eben explizit gemacht werden können. Die pathologische (aphasische) Störung setzt dem enge Schranken, wenn z.B. Hirnverletzungen die für den kognitiven Abgleich nötigen Gedächtnisressourcen nicht mehr im hinreichenden Umfang verfügbar sind. So findet sich in diesem Aufsatz von S. eine sehr systematische Bestimmung der in der Literatur meist als sperrig empfundenen Kategorie kategorialen Haltung.

So, wie S. die Sozialwissenschaften rekonstruiert, ist darunter auch die Sprachwissenschaft subsumiert, nicht nur im weiteren Sinne von Sprachforschung. Das ist besonders in seinem theoretischen Aufriß „Symbol, reality, and society“ (1955, KS 1: 287-356) deutlich, der von Husserl ausgeht, in dieser Hinsicht aber über diesen hinausgeht. Grundlegend ist Husserls Begriff der Appräsentation: die kognitive Verarbeitung dessen, was im Wahrnehmungsfokus präsent ist, aber im Horizont des damit zugleich Mit-präsentiertem (zu lat. ad-praesentāre) gedeutet wird. Die Präsentation ist eine Sache der unmittelbaren Wahrnehmung. Liegt die Interpretation auf der gleichen Ebene, handelt es sich im Husserlschen Sinne um Anzeichen. Appräsentiert kann aber auch ganz Anderes werden, vor allem Gedankliches, das insofern auch nur als Appräsentiertes in die Welt kommt.[25] Das beschreibt für S. den systematischen Ort der Sprache (anders gesagt: deren primäre Leistung).

Das sprachliche Zeichen ist an die Appräsentation in dem gebunden, was in der gängigen Saussureschen Terminologie (die S. aber nicht benutzt) der signifiant genannt wird (in der gesprochenen Sprache also die Lautung). Appräsentiert wird damit ein Konzept, mit dem das Zeichen interpretiert wird – nur dann handelt es sich um ein sprachliches Zeichen. Darauf zielt bei S. auch seine terminologische Festlegung: den Terminus Symbol bindet er an diese Bedingung (KS 1: 312). Ihre Festigkeit erhält die symbolische Relation in der Kommunikation, in der sie von einem alter ego bestätigt wird (in diesem Zusammenhang spricht  S. von der fundierenden Du-Beziehung). In dieser symbolischen Übereinstimmung in der Alltagssprache kann Sinn aus dem Alltagshandeln gemacht  werden.

Damit führte S. die Argumentation in seinem Buch von 1932 weiter. Die für die sinnvolle Interpretation konstitutive Typisierung beruht auf einer solchen Appräsentation: alle Idealisierungen sind solche kognitiven Leistungen (KS 1: 323). Darin liegt eine Besonderheit der sprachlichen Interaktion, die sie von anderen sinnhaften Formen unterscheidet, die wie insbesondere die Musik durchaus auch als Grundlage gemeinschaftlicher sozialer Praxis dienen können – aber ohne damit Konzeptuelles zu appräsentieren (und ggf. diskursiv umzusetzen, KS 1: 324). Die konstitutive Rolle dessen, was auch von S. als „Muttersprache“ apostrophiert wird, für die fundierende Alltagswelt gründet darin, daß die Akteure sich bei ihr darauf verlassen, daß sie bei ihr in den Interpretationen übereinstimmen – im Gegensatz zu einer fremden Sprache bzw. generell bei einer (nur) formal gelernten Sprache, die, auch wenn sie beherrscht wird, nicht auf einem solchen alltagsweltlichen Vertrauen beruht, das die Möglichkeit von Mißverständnissen „einklammert“ – die, wenn sie doch auftreten, als Krisen bearbeitet werden müssen (KS 1: 328). Dabei unterstreicht S., daß diese sprachliche Leistung nicht nur auf lexikalische (also konzeptuell durchsichtige) Elemente beschränkt ist: sie wird durch die Grammatik bestimmt, vor allem durch den (syntaktischen) Bau der Äußerungen, mit denen Sachverhaltsdarstellungen artikuliert werden (KS 1: 349).

In einigen exemplarischen Studien hat S. hat diese Argumentation sehr anschaulich in Fallanalysen umgesetzt, die in der neueren Forschung aktuell geblieben sind. Das gilt z.B. für „The stranger“ (1944, KS 2: 91 – 105), der ein Standardverweis in der Migrationsforschung ist. Am Beispiel der Erfahrungen von Fremden, nicht nur, aber insbesondere von Einwanderern, zeigt er, daß die unhintergehbare „paramount reality“ des Alltags nicht naturhaft ist (auch wenn er selbst gerne den Terminus „natürlich“ verwendet, s.u.); vielmehr ist die diesen bestimmende Empfindung von Natürlichkeit ein Faktor der spezifisch konstruierten „Mitwelt“ in einem sozialen Verband, die in Krisenkonstellationen wegfällt, bei denen ein „thinking as usual“ scheitert (KS I: 95). Die Alltagssprache spielt dabei eine fundierende Rolle i.S. des oben angesprochenen „Muttersprache“-Syndroms, wie er in einer in gewisser Weise spiegelbildlichen Studie „The Homecomer“ (1944/45, KS 2: 106 -119) zeigte. Das Vertraute beruht auf den lebensgeschichtlich geteilten „muttersprachlich“ artikulierten Konstellationen (also den Konnotationen der sprachlichen Formen), dabei orientiert auf die Erwartung, daß es so weiter geht. Wenn diese Bedingungen wegfallen, kommt es auch zuhause zur Krise. [26] In der Fremde entspricht dem das „Heimweh“: die Sehnsucht nach diesen Selbstverständlichkeiten.

So sehr S. immer auf einem systematisch durchgehaltenen disziplinspezifischen Argumentieren bestand, so wenig läßt sich sein Werk einer der akademischen Disziplinen subsumieren. Das ist besonders deutlich bei seiner lebenslangen, auch analytisch entfalteten Auseinandersetzung mit der Literatur. Diese hatte als allein sprachlich konstituiert (ohne die Widerständigkeit außersprachlicher Faktoren wie in der „world of working“) für ihn einen Schlüsselcharakter, da dort die Verschränkung verschiedener weltkonstituierender Horizonte direkt vorgeführt wird. Dem ist er seit seinen frühen Wiener Jahren immer wieder in Einzelstudien nachgegangen, vor allem zu Goethe, aber z.B. auch zu Cervantes. Mit der Differenzierung des als objektiv gesetzten Horizonts des Handlungsablaufs in einem Roman gegenüber dem interpretierenden Horizont des Lesers, dieser wieder unterschieden von dem des Autors und dann den im Werk aufgespannten unterschiedlichen Horizonten der einzelnen Figuren in entsprechend komplex gebauten Texten. Wie ernst er dieses Untersuchungsfeld nahm, zeigt eine Analyseschema „Sociological aspect<s> of literature“ von 1955,[27] in dem er die Struktur der verschiedenen literarischen Gattungen mit dem gleichen Raster differenziert, das er für die Analyse der Alltagswelt entwickelt hatte. Dabei differenziert er die Grunddimensionen „Ausdruck / Wirken / Darstellung“ mit weiteren Binnendimensionen, vor allem die Relevanz, aber eben auch sprachliche Aspekte: die besonderen Ausdrucksformen,[28] die „Kommunikation“ (worunter er die Rezeptionsverhältnisse subsumiert), sowie die deskriptiv-medialen Aspekte.[29]

In dieses Feld gehört auch eine detaillierte Kritik an den theoretisch gemeinten Äußerungen zu Kultur des von ihm geschätzten Dichters T. S. Eliot,[30] die für ihn Anlaß ist, exemplarisch die Notwendigkeit aufzuzeigen, nicht zwischen Aussagen in verschiedenen Welten hin und her zu springen. Gegen Eliots elitärer (also parteilicher) Literatenposition (mit religiösen Untertönen), die sich in einem „britisch-snobistischen“ Kulturkonzept spiegelt, setzt er ein soziologisch-analytisches, das als Kultur die Selbstverständlichkeiten in der gesellschaftlichen Reproduktion faßt (die bestimmt durch die jeweilige Position in der Gesellschaft sehr verschieden artikuliert sein können, s. WW 8: 255). Sie sind die Grundlage dafür, daß (und wie) die Akteure Sinn aus ihrem Leben machen (s. WW 8: 246). Es ist bemerkenswert, wie konsistent er in seinen Arbeiten von den frühen Wiener Jahren her seine Argumentation und deren analytische Grundfiguren durchhält. Dazu gehört die Selbstverständlichkeit als grundlegendes Kriterium für sein Konzept der „Mutterprache“. Greifbarwerden die konstitutiven Selbstverständlichkeiten in Krisenkonstellationen, in denen sie zusammenbrechen.

In seinen letzten Jahren hat S. versucht, eine zusammenfassende Darstellung seines Werks als Monographie fertigzustellen. Diese ist zwar ein Torso in seinem Nachlaß geblieben, auf deren Grundlage sie dann aber von Thomas Luckmann, der bei S. in New York studiert hatte und sich auch explizit als sein Schüler verstand,[31] ausgearbeitet wurde, publiziert mit der gemeinsamen Verfasserschaft als „Strukturen der Lebenswelt“.[32] Über weite Strecken besteht sie aus übernommenen Textstücken aus den angeführten älteren Arbeiten von S., hier aber in einem eher dogmatischen Darstellungsstil, der die motivierenden Argumentationen und die Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Ansätzen zurückstellt. Die sprachlichen Zusammenhänge werden hier relativ prominent herausgestellt, vor allem auch in einer genetischen Sichtweise: als Ausbau von vorsprachlich aufgebauten kognitiven Potentialen, insbesondere der Typisierung der Erfahrungen, die die Grundlage für den kontrollierten Umgang mit der Welt bildet (angefangen von der nur dadurch möglichen Wiederholung von Handlungen). Deren sprachliche Fassung ermöglicht ganz andere („höhere“) Formen des Handelns, weil sprachliche Zeichen nicht isoliert bleiben, sondern in einem Feld eingebunden sind, das begriffliche Zusammenhänge vorgibt und damit zugänglich macht. Dieser Ausbau erfolgt ontogenetisch und damit sprachspezifisch (mit einem Verweis auf die i.e. agensorientierte Bauform von Sätzen, S. 452). In diesem Sinne bildet die ontogenetisch zu erlernende Sprache eine „Weltanschauung“ (S. 336 u.ö.), indem sie als „natürlich“ erfahren wird.[33] Aber alle solche Strukturierungen sind in pragmatische Relevanzhorizonte eingebunden, in denen sie sich bewähren müssen: ihre Geltung hat immer den Vorbehalt „bis auf weiteres“, der in Krisen aktiviert wird.

Die Argumentation in diesem Band ist sehr um Systematik bemüht, gerade auch in den sprachbezogenen Abschnitten (bes. S. 653 – 672). Allerdings bleibt sie dabei öfters in anschaulich entwickelten Momenten hängen: die für den Lernprozeß grundlegenden Konstellationen der Ontogenese (Mutter-Kind-Interaktion), generell die „face-to-face“-Kommunikation erscheinen dann als Sprache schlechthin – wie überhaupt die gesprochene Sprache. Daß es sich dabei um spezifische Bedingungen der Sprachpraxis handelt, wird zwar angesprochen (z.B. S. 665 – 668), aber nicht theoretisch eingeholt. Das macht einen Unterschied zu den allerdings auch im Grundsätzlichen bleibenden Ausführungen in den KS, die insofern durch diesen Band keineswegs überholt sind.

Mit seinem phänomenologischen Ansatz hat S. versucht, Grundlagen für die Sozialwissenschaften zu definieren. Damit hat er aber zugleich einen begrifflichen Rahmen für die Sprachforschung geliefert: die Grundlagen, um die Sprachpraxis als situierte zu analysieren. Bei ihm findet sich das nötige theoretische Verbindungstück, um rein formale Strukturmodellierungen (wie die der Grammatiktheorie) mit konkreten empirischen Beobachtungen etwa der  ethnographischen Forschungen zu vermitteln. Grundlegend ist das „Management“ der verfügbaren sprachlichen Strukturen, ausgerichtet auf den jeweils gesetzten Relevanzhorizont, kalibriert auf die in der jeweiligen Konstellation zu lösenden Probleme. Für die empirische sprachwissenschaftliche Forschung folgt daraus, daß die Analyse von Äußerungen an die Aufschlüsselung ihres Kontextes gebunden ist. In diesem Sinne ist sein Ansatz auch in der inzwischen als Subdisziplin etablierten „Gesprächsanalyse“ aufgenommen worden, in Deutschland nicht zuletzt auch über Thomas Luckmann vermittelt.[34]

S.s Arbeiten blieben in der US-amerikanischen Wissenschaft lange marginal, weitgehend beschränkt auf andere Emigranten, mit denen er eine intellektuelle Matrix gemeinsam hatte (A. Gurwitsch, E. Vögelin u.a. in der Soziologie, darüber hinaus aber z.B. auch K. Goldstein). Dem entspricht, daß er seine Texte, insbesondere auch die Vorarbeiteten für ein geplantes abschließendes großes Werk auf Deutsch schrieb.[35] Präsent war er zunächst nur in der philosophischen Diskussion (bei den auch den USA aktiven Phänomenologen), erst posthum auch in den Sozialwissenschaften, in denen die Neuorientierung auf eine „Mikrosoziologie“ (vor allem die sog. „Ethnomethodologie“) direkt auf ihn Bezug nahm – bei jüngeren Fachvertretern, die durch ihre Ausbildung aber auch im soziologischen main stream verankert waren: so bei seinem persönlichen Schüler Harold Garfinkel (1917-2011), bei Aaron Cicourel (geb. 1928), der sich bei seinen theoretischen Arbeiten immer auf ihn bezieht, im weiteren Sinne auch bei Erving Goffman (1922-1982). An die Ethnomethodologie schloß dann auch die spätere sprachwissenschaftliche Rezeption in der oben erwähnten „Gesprächsanalyse“ an.

Mit dieser Rezeption ist zumeist ein selektiver Blick auf S. verbunden, dessen Arbeit einen sehr viel umfassenderen Horizont hatte: die Fokussierung auf alltagspraktische Strukturen markierte bei S. nur einen Pol beim Umgang mit den sprachlichen Ressourcen. Zu deren Analyse gehörte für S. auch, ihren Ort im Horizont des Sprachausbaus zu bestimmen. Dem ging er nicht nur bei der „Spracharbeit“ nach, die aus alltagspraktisch beschränkten Konzepten eine wissenschaftliche Begrifflichkeit macht (s.o. zu seiner Arbeit aus dem Jahr 1925), er analysierte auch direkt andere Ausbauformen, vor allem in der Literatur (s.o.), verbunden mit einer theoretischen Bestimmung von Kunst / Ästhetik, der er auch in der nicht  sprachlich artikulierten Musik nachging (die er auch selbst praktizierte).[36]

Q: Helmut R. Wagner, Alfred Schutz. An intellectual biography. Chicago: Chicago univ. pr. 1983.[37] Mehr oder weniger ausführliche biographische Artikel zu S finden sich in allen größeren sozialwissenschaftlichen Handbüchern. Einen sehr informativen Überblick mit entsprechenden Verweisen liefert der Wikipedia-Artikel zu S. Zur Entwicklung seines Ansatzes s. bes. I. Srubar im Einleitungskapitel zu ders. (Hg.), A. Schütz: Theorie der Lebensformen. Frankfurt: Suhrkamp 1981. Eine große Werkausgabe, hg. von H.G. Soeffner / I. Srubar (Köln: H. von Halen) erscheint seit 2003, bisher (2018) 9 Bände  – ggf. in deutscher Übersetzung; zitiert als WW. Vorher waren die „Kleinen Schriften“ in einer englischen Ausgabe, jeweils sind mit entsprechenden Einleitungen und ggf. in englischer Übersetzung) zugänglich  als „Collected papers“: Bd. 1 – 3, Den Haag: Nijhoff 1962 – 1966; Bd. 4, Dordrecht: Kluwer 1996; Bd. 5, Dordrecht: Springer 2011.[38] Auf diese Ausgabe beziehen sich die meisten Textverweise im Beitrag, zitiert als KS.

 


 

[1] Die Parallelen bei seinem Lehrer Kelsen liegen auf der Hand: der war dem Wiener Antisemitismus 1930 durch die Auswanderung  nach Deutschland entkommen (mit einer Professur an der U Köln), dort aber 1933 aus rassistischen Gründen entlassen worden und 1940 in die USA emigriert.

[2] Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ war S. geschäftlich in Paris, wo er ein darauf abgestelltes Visum erhielt, das es ihm auch erlaubte, seine Familie nachzuholen.

[3] Auch er war Opfer des an der Wiener Universität grassierenden Antisemitismus, der u.a. verhinderte, daß er trotz der internationalen Anerkennung dort keine ordentliche Professur erhalten konnte. 1934 emigriere er in Schweiz, 1940 weiter in die USA.

[4] S. dazu C. Fleck, Zum intellektuellen Umfeld der Wiener Jahre von Alfred Schütz, in: K. Leube / A. Pribersky (Hgg.). Krise und Exodus. Österreichische Sozialwissenschaften in Mitteleuropa. Wien: WUV 1995:98 – 116, der ihn allerdings dort eher passiv und marginal verortet.  Interessant wäre es, eventuellen Verbindungen zu Max Adler (1873 – 1937) nachzugehen, der damals nach einer Neubegründung der marxistischen Analyse ausgehend von der „gelebten“ Erfahrung suchte. Hinweise auf ihn finden sich gelegentlich, vgl. z.B. KS 1: 165.

[5] S. Wagner (Q), außerdem Ilja Srubar in der Einleitung zu den von ihm hg. frühen Schriften von S. aus dieser Zeit (aus dem Nachlaß): Alfred Schütz: Theorie der Lebensformen. Frankfurt: Suhrkamp 1981:  9 – 76.

[6] Die Parallelen bei seinem Lehrer Kelsen liegen auf der Hand: der war dem Wiener Antisemitismus 1930 durch die Auswanderung  nach Deutschland entkommen (mit einer Professur an der U Köln), dort aber 1933 aus rassistischen Gründen entlassen worden und 1940 in die USA emigriert.

[7] Abgedruckt bei Srubar (Q, in dem Buch 1981: 209 – 250).

[8] Die Neuausrichtung seiner Arbeit läßt sich in KS 4 nachverfolgen; s. auch Srubar ( Q) mit den entsprechenden Anmerkungen.

[9] Wien: Springer 1932. Neuauflage Frankfurt: Suhrkamp1974.

[10] Wie bei Husserls Grundbegriff der Intention ist bei Sinn das Wortfeld grundlegend, bei dem Sinn für Richtung steht (vgl. noch in Ausdrücken wie einsinnig, gegensinnig u.dgl.). Eine etymologische Rückführung auf ein gemeingermanisches Wort für Weg, Richtung (so ahd. sind) war allerdings nicht S.‘ Sache.

[11] In neueren sprachwissenschaftlichen Darstellungen ist das Begriffspaar Sinn / Bedeutung inzwischen fest mit Freges begrifflichen Differenzierungen verbunden, die aus den Bemühungen um die Formalisierung logischer Kalküle resultierten – S. erwähnt sie erst gar nicht, da das für ihn ein eine technische Spezialangelegenheit darstellte. Nicht zuletzt in der Einführungsliteratur sollte S.‘ Ansatz aber der produktivere sein. Transferiert man den S.schen Sinn auf eine sprachtheoretisch systematischere Ebene, geht es dabei um die Konnotation von Ausdrücken, nicht um ihre Denotation (i.S. des von Hjelmslev geklärten Konnotationsbegriffs).

[12] Die Übereinstimmung mit den Arbeiten von Karl Bühler liegt auf der Hand (hier bei dessen Schlüsselbegriff Darstellung), findet aber in S.‘ Arbeiten keinen Anhaltspunkt. In seinen Diskussionen mit Gurwitsch verwies anscheinend nur dieser schon mal darauf, s. z.B. Wagner (Q): 225.

[13] Ausführlich dazu Wagner (Q).

[14] S. hatte Husserls dazu 1931 in Paris in frz. Übersetzung erschienen Vorträge schon 1932 auf  Deutsch besprochen, s. KS 4: 155-165.

[15] Für ein Verständnis seiner Klärungsversuche sind die ausführlichen Briefwechsel aus dieser Zeit aussagekräftig, die Wagner (Q) ausgewertet hat und extensiv zitiert.

[16] Damit bietet S. eine konzeptuelle Basis für die sprachwissenschaftliche Analyse – im Gegensatz zu den gerade auch durch die Einführungsliteratur geisternden Verweisen auf Wittgenstein, dessen Überlegungen gerade auf die Frage nach der Gewißheit zielten.

[17] S. aber auch bei Carnap zur „natürlichen Sprache“ als letzter Metasprache für die Formalisierung von Theorien. 

[18] Das stellte S. immer wieder pointiert heraus – und partizipierte damit auf seine Weise am existenzialistischen Diskurs des 20. Jhd.

[19] Noch vor seiner Auswanderung setzte er sich eingehend mit den in den USA dominierenden sozialwissenschaftlichen Ansätzen auseinander, vor allem mit Talcott Parsons (1902-1979), dem maßgeblichen Vertreter des Strukturfunktionalismus. Ein großes dazu ausgearbeitetes Manuskript hat er bis auf einen letzten Abschnitt mit dem Ausblick auf seinen eigenen kontrastierenden Ansatz nicht mehr veröffentlicht, s. KS II: 3 – 19. Mit Parsons hat er später noch eine briefliche Diskussion geführt, die aber für beide Seiten wenig befriedigend war. Auch da, wo S. argumentativ gelegentlich auf Parsons Bezug nimmt, betont er immer die grundlegenden konzeptuellen Unterschiede, z.B. KS 1: 351, Fn. Wichtiger für seine inhaltliche Arbeit war die Auseinandersetzung mit der pragmatischen Tradition der US-amerikanischen Philosophie: mit William James (1842-1910) und George Herbert Mead (1863-1931), wobei er Meads interaktionistischen Ansatz ausgesprochen kritisch behandelte.

[20] Die analytischen Aussagen gelten nicht den ggf. beobachteten Personen sondern ihrer Typisierung – er spricht von „puppets“ im Modell (wie Saussure in seinem Spätwerk von „manekines“ [Männeken] sprach, also mit der wortgeschichtlich alten Form von Mannequin).

[21] Zuerst 1950 als Besprechung von Goldsteins Buch (1948), hier zitiert nach KS I: 260 – 261.

[22] Dabei legte Husserls Spätwerk „Erfahrung und Urteil“ zugrunde.

[23] Bei der Terminologie ist hier auf griech. katagoreuein [καταγορεύειν] „anzeigen, darstellen“ zurückzugehen.

[24] Wie vertraut S. mit der einschlägigen sprachanalytischen Forschung ist, zeigt sich daran, daß er in Hinblick auf die ontogenetischen Zusammenhänge auf Vygotzki im Gegensatz zu Piaget verweist (KS1: 265).

[25] Auch der Andere als Person wird in diesem Sinne appräsentiert durch seinen für die Wahrnehmung faßbaren Körper, der durch diesen interpretierenden Akt zu seinem Leib wird.

[26] Der Kontext des Aufsatzes (zunächst ein Vortrag) war der Umgang mit Kriegsveteranen in den USA – für S.  wohl auch autobiographisch geprägt durch seine Erfahrungen als Rückkehrer von der Front mit Giftgaseinsätzen u. dgl. in das bürgerliche Leben eines Studenten in Wien.

[27] Wohl die Grundlage für einen Vortrag an der New School of Social Research in New York, in WW 8: 269-274.

[28] Hier ist er begrifflich durchaus kreativ, z.B. mit einer Kategorie von autarlogischen Formen, die sich ausdrücklich dem Rezipienten gegenüberstellen wie bei der Lyrik (zu gr. autar, das den Gegensatz markiert, insbesondere auch als rhetorischer Begriff für die Weiterführung).

[29] Diese Arbeiten hatten denn auch Einfluß auf die neuere Literaturtheorie, s. die Hinweise in der Einleitung zu WW 8.

[30] „T.S. Eliot’s theory of culture”, in: WW 8: 239-261.

[31] Luckmann (1927 – 2016) war selbst Emigrant: er stammte aus einer slowenischen Familie und hatte nach dem Krieg zunächst in Wien studiert, seit 1950 dann in den USA, u.a. an der New School of Social Research in New York bei S. 1965 erhielt er eine Professur an der U Frankfurt/ M., dann von 1970 bei zu seiner Emeritierung 1994 an der U Konstanz.

[32] Zuerst in zwei Bänden Frankfurt: Suhrkamp, Band 1 / 1975, Bd. 2/ 1984. Neuauflage in einem Band Konstanz: UVK 2003.

[33] S. benutzt die Rede von „natürlich“ durchgehend (s.o.), so auch in dieser Darstellung. Darin liegt eine genuin anthropologische Sichtweise mit der Hervorhebung der biologischen Grundlage aller kulturellen Leistungen, die in der Lebenszeit erbracht werden, für die er immer hervorhebt, daß sie ein Leben zum Tod ist.

[34] S. Peter Auer, Sprachliche Interaktion, Berlin: de Gruyter 1998 (2. A. 2013), mit einer ausführlichen Darstellung von S. und seinem Werk (S. 119 – 130).  

[35] S. dazu Luckmann im Vorwort zu dem als gemeinsamen Band präsentierten Werk (2003).

[36] Die entsprechenden Schriften sind jetzt in seiner Werkausgabe (Q) zugänglich: Bd. 7/ 2016 zur Musik, Bd. 8/ 2013 zur Literatur. Die KS (Q) klammern diesen Bereich noch aus, s. die Hinweise des Hg. von Bd. 4, F. Kersten, in der Einleitung.

[37] Wagner (1904-1989) war selbst in Deutschland politisch verfolgt und 1934 zunächst in die Schweiz, dann 1941 in die USA eingewandert. Er kannte S. persönlich und hat an dieser Biographie mit der Unterstützung durch dessen Witwe Ilse (geb. Heim, 1902 – 1990) gearbeitet.

[38] Die Ausgabe der KS wurde zunächst noch von seiner Witwe (s.o.) betreut.