Günther Siegmund Stern

geb. 2.7.1902 Breslau, gest. 17.12.1992 Wien

 

S. figuriert in der neueren Literatur meist unter seinem Alias-Namen Anders, den er seit Anfang der 30er Jahre für Veröffentlichungen benutzt hatte und den er später in seinen Veröffentlichungen durchgängig beibehielt - wohl auch weil er mit anders seine Position im Alias des intellektuellen Diskurs charakterisiert sah (wörtlich wie lat. alias „anderswo, auf andere Art“). Im Text behalte ich die amtliche Namensform der Ausweispapiere bei. Dort (auch nach der Einbürgerung in Österreich im Februar 1952) findet sich nur der Zusatz des ‚Künstlernamen "Anders"‘.[1] Er war der Sohn von William und Clara Stern, in deren Aufzeichnungen auch seine frühe Kindheit nachzulesen ist. Das Verhältnis zu seinem Vater war offensichtlich in jeder Hinsicht sehr eng: in seiner Vita erwähnt er, daß er auch bei ihm gehört hat, und seine erste Buchveröffentlichung („Über das Haben“, 1928, s.u.) widmete er ihm. Im Vorwort zur Neuauflage von dessen „Allgemeine[r] Psychologie“ (1934) erwähnt er ausdrücklich, daß er mit ihm diskutiert hat, diese auf Deutsch (und nicht auf Englisch, wie es der Exilsituation entsprochen hätte) zu veröffentlichen: als „Sieg über Hitler“, um den Nazis die usurpierte Sprache nicht zu überlassen. Damit positionierte er sich als jüdischer Deutsche und nicht als auszugrenzender deutscher Jude (s. die Parallele bei Benjamin).[2] Diese Haltung bestimmte auch die Arbeit seiner beiden Schwestern Hilde und Eva.[3]  Antisemitische Erfahrungen als Schüler bestimmten ihn früh dazu, seinen Lebens- und Arbeitsraum in Europa, statt eng in Deutschland zu sehen. Wie seine Mutter es in ihren Tagebuchaufzeichnungen festhielt, war sein Selbstverständnis als anders für ihn schon als Schüler bestimmend, wozu solche antisemitischen Erfahrungen beigetragen haben. Der spätere Alias-Name war für ihn insofern nicht nur ein literarisches Spiel mit einem Pseudonym; daher benutzte er ihn später durchgehend. Mit diesem Namen operiert denn auch die umfangreiche Literatur zu ihm, manchmal nur mit dem Hinweis, daß er früher unter dem Namen ‚Stern‘ veröffentlicht habe.

Von seinem umfangreichen Werk gehe ich hier nur auf die sprachanalytisch einschlägigen Werke ein, die in seinen Arbeiten nach dem Weltkrieg nur noch indirekt eine Fortsetzung gefunden haben, weil sich das Koordinatensystem seiner Reflexion seit Anfang der 1930er Jahre verschoben hatte. Zunächst weil die faschistische Zäsur sein Exil erzwungen hatte, im Weltkrieg war für ihn dann der Abwurf der Atombombe über Hiroshima eine weitere Zäsur: die damit möglich gewordene Selbstzerstörung der Menschheit bestimmte seitdem sein Denken. Sie erzwang für ihn auch eine andere, direkt politisch intervenierende Form der Analyse, die seine späteren Arbeiten bestimmt.  Das geht so weit, daß er dort von seinen früheren Arbeiten feststellt, daß er sie nicht mehr lesen bzw. verstehen könne.[4] Der Grundtenor der späteren Arbeiten ist die Pervertierung der anthropologischen Grundbestimmung des homo faber: dieser kontrolliert das produzierte Werkzeug (im umfassenden Sinn: die Technik) nicht mehr, sondern spielt bei ihr nur noch mit – nicht mehr als historisches Subjekt im vollen Sinn, sondern herabgestuft zum Niemand.[5]

Nach dem Abitur 1920 hatte S. in Hamburg (u.a. bei seinem Vater), dann in München, Marburg und Freiburg studiert, in den letztgenannten Orten vor allem auch bei Martin Heidegger, mit dem er sich sein Leben lang auseinandersetzte. Das bestimmte auch sein intellektuelles Verhältnis zu Hannah Arendt (1906-1975), die er aus der gemeinsamen Studienzeit (gemeinsam auch bei Heidegger) kannte und 1929 heiratete (1937 wurden sie geschieden). 1924 promovierte S. in Freiburg bei Husserl mit einer Weiterführung von dessen methodisch entwickelter phänomenologischen Reduktion, die diese radikal auf die Füße stellte, s.u. Die von ihm angestrebte Habilitation in seinem weiteren Fachgebiet, der Musikologie, scheiterte an akademischen Widerständen (in Frankfurt u.a. an Adorno). So blieb ihm nur die publizistische Arbeit, die er extensiv betrieb, u.a. im Börsen-Courier, wo er zeitweise auch angestellt war. Dort nutzte er auch zuerst wegen der großen Anzahl seiner Beiträge den Alias-Namen neben seinem Familienamen. Sein Leben verlief (weitgehend gemeinsam mit Hannah Arendt) zwischen Berlin und Paris, wohin er 1933 endgültig emigrierte, was die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft nach sich zog. In Paris war er aktiv in dortigen Emigrantenzirkeln, u.a. im engeren Kontakt mit Walter Benjamin (mit dem er auch entfernt verwandt war). 1939 migrierte er weiter in die USA (in gewisser Weise also zu seinem Vater). Trotz der Unterstützung durch den Vater verzögerte sich die Einbürgerung, weil er als Linker auf politische Vorbehalte stieß (er war daher längere Zeit staatenlos). Zeitweise unterrichtete er an der New School for Social Research in New York.

Seit dem Einsatz der Atombombe durch die USA in Japan am 6.8.1945 sind seine Veröffentlichungen explizit politisch ausgerichtet, sodaß sprachliche Fragen nur noch eine nachgeordnete Rolle spielen. Dadurch läßt sich sein Werk ohnehin nicht unter Sprachforschung subsumieren.[6]   Aber seine Arbeiten sind immer durch eine intensive Fokussierung auf die jeweils von ihm angegangenen Dinge charakterisiert, wodurch auch sprachliche Fragen thematisch werden. Dann bricht er seine politische Kritik auf eine "Sprachkritik" herunter, wie er es in seiner Auseinandersetzung mit Hannah Arendt auch zum Thema machte (z.B. in seinem fiktiven Gespräch mit ihr „Die Kirschenschlacht“,  S. 41).[7] Vor allem aber hat S. angefangen bei seiner Dissertation (1924) und den daran anschließenden frühen Arbeiten grundlegende, in der fachlichen Diskussion noch ungenügend gewürdigte Beiträge zur Sprachforschung geleistet.

Für die Dissertation  „Die Rolle der Situationskategorie bei den ‚Logischen Sätzen“[8]  bildete der Abschnitt über „wesentlich okkasionelle Ausdrücke“ in Husserls „Logischen Untersuchungen“ (1901) den Ausgangspunkt.[9] Für Husserl, der primär auf die phänomenologische Reduktion der formalen Argumentation wie in der Geometrie abzielte, war das nur ein Nebenstrang seiner Überlegungen, um damit die Analyse der Bedeutungserfüllung abzuschließen. S. ging den von Husserl methodisch aufgemachten Weg konsequent mit der Analyse der Sprachpraxis im „natürlichen Leben“ (S. 3 und öfters) weiter, dabei durchgehend in kritischer Auseinandersetzung mit Heideggers „Daseinsanalayse“, die er gegen den Strich bürstete. Zwar diente ihm wie für diesen auch die physikalische Zeit nicht als Orientierungssystem, aber ein solches muß in der gelebten Zeit verankert werden und nicht ontologisch im Sein.[10] Jede Äußerung muß, um Sinn zu machen, auf diese Weise in der Lebenspraxis verankert werden. So nahm S. in seiner Dissertation auch die Husserlsche Terminologie auf: Gegenstand ist die okkasionelle Verankerung der Äußerungen bzw. ihrer Interpretation. Äußerungen machen nur Sinn, wenn sie Fragliches artikulieren, was etwas anders ist, als auf existenziell indifferente Fragen zu antworten (fraglich ist etwas nur aus einem bestimmten Anlaß - nicht im Sinne von Heideggers Sorge als Fundierung der menschlichen Praxis schlechthin).

In der Dissertation spielte S. diese Argumentation in ihren deskriptiven Konsequenzen durch, bis hin zu formalen Strukturen wie in der Wortstellung und der Prosodie (s. bes. S. 95 und 99). Relativ systematisch musterte er die lexikalischen Ressourcen der Enunziation: Partikel wie vielleicht, eigentlich, überhaupt, noch, schon u.a. (S. 77 – 99). Dabei entwarf er eine in gewisser Weise duale sprachtheoretische Konzeption zu der tradierten „apophantischen“ Tradition aus der Antike, deren Basis das Urteil ist: grundlegende Kategorie ist vielmehr die Frage, also eine offene Form, die symbolisch fest nur ihre Schließung verlangt.  Ein Urteil macht alltags- (lebens-) praktisch nur Sinn, wenn es Fragliches artikuliert. Für eine so rekonstruierte Sprachtheorie muß es darum gehen, die indifferenten Hypostasierungen der Tradition auf ihre lebenspraktische Fundierung zurückzuführen, beim Urteil z.B. auf ein mit entsprechenden Äußerungen artikuliertes Staunen (S. 55). Die kategoriale Struktur der Sprache, mit der Erfahrenes als etwas Bestimmtes faßbar wird, wird von ihm so genetisch fundiert.

Dieser Fundierung sinnvoller sprachlicher Akte im Fragen entspricht aber nicht die Möglichkeit der Extrapolation quasi axiomatischer Basismuster, wie es die sprachtheoretische Tradition versucht hat (und immer noch versucht): die Suche einer „Urfrage“[11] ist gegenstandslos, weil der fundierende Frageakt immer nur „okkasionell“ artikuliert werden kann.  Die Konsequenz seiner radikalen phänomenologischen Analyse ist die Kritik an einer letztlich doch deduzierenden Argumentation, wie sie sein Doktorvater Husserl trotz seines umfassend ausgerichteten begrifflichen Systems nur für die Geometrie implementieren konnte (s. den Eintrag zu Husserl). Die von S. (jedenfalls im Ansatz) durchgeführten Analysen zu den Diskurspartikeln (s.o.) führen nicht zu sprachlichen Konstanten, die quasi kontextfrei definierbar wären. Sie erweisen sich vielmehr als Vektoren der Artikulation, für deren Analyse nur die Methode zu entwickeln ist, nicht aber eine Art begrifflichen Glossars zu extrapolieren ist. Im Sinne des phänomenologischen Unternehmens gilt es eben, das Wesen der sprachlichen Akte zu „retten“, das nur als akutes greifbar wird (bei ihm eine andere terminologische Option zu okkasionell).[12]

Erweitert hat er diesen Versuch zur Fundierung der Strukturen der „gewöhnlichen Rede“ in einer Reihe von Aufsätzen im Anschluß an die Dissertation, die auch im empirischen Zugriff über diese hinausgehen, wobei er sie immer in einen systematischen philosophischen Horizont stellte. In „Über Gegenstandstypen“[13] führte er die ontologische Grundfrage auf die Akte zurück, mit der die Thematisierung eines Gegenstands erfolgt, gegen die Eskamotierung des thematisierenden Aktes in der Extrapolation der logisch explizierbaren Aussageform. Die Fundierung der sprachlichen Akte, im Husserlschen Sinne ihrer Bedeutungserfüllung, verlangt ihre Verankerung im leiblich Gelebten. Formal gesehen ist das die Leistung sprachlicher Indizes, die im „leiblichen Apriori“ der Sprache (wie der kognitiven Aktivität überhaupt) verankert sind, wobei leiblich nicht wie in der philosophischen Tradition auf den Seh-Sinn eingeschränkt werden kann, wie es auch bei Husserl der Fall war.[14]

Systematisch ist er dieses Vorhaben in seiner Aufsatzsammlung „Über das Haben“ angegangen,[15] die er im Vorwort 1928 in Paris datierte. Der Untertitel „zur Ontologie der Erkenntnis“ macht den Anspruch deutlich, mit einer ironischen Umnutzung des tradierten Konzepts der Ontologie: ontologisch bedeutete für ihn, das Sein (gr. ὄν, Pzp. Neutr. Sg., also wörtlich "Seiendes") so zu fassen, wie es sinnlich greifbar ist (bzw. wie es im Sinne der Phänomenologie erscheint) und wie es damit auch sprachlich artikuliert wird – gegen eine „Logifizierung“ der traditionell auf das Urteil ausgerichteten Reflexion. Diese stellt auf indifferente Aussagen ab, festgemacht an der grammatischen Form der 3. Person, die im Sinne der Fundierung im Äußerungsakt die nicht-beteiligte (nicht anwesende) Person der Sprechsituation ist. Die Fundierung sprachlichen Sinns muß statt dessen auf die 1. und 2. Person zurückgehen, die das Gesagte etwas angeht, für die es fraglich ist (s. bes. S. 56ff.).  In diesem Sinne entwickelte er hier eine Systematik sprachlicher Indizes, die in der Grammatiktheorie noch einzuholen bleibt.[16] Derartige Analyse-Ansätze finden sich in weiteren frühen Arbeiten, die jetzt aus dem Nachlaß zugänglich sind, z.B. in „Situation und Erkenntnis“ (von den Herausgebern datiert auf 1929).[17]  Dort analysierte S. recht differenziert Probleme des referenziellen Bezugs, der sich nur im Rückgang auf den Äußerungsakt (also okkasionell, s.o.) bestimmen läßt. Allerdings sind für dessen Artikulation die sprachspezifisch grammatisierten Kategorien zu isolieren, mit dem grundlegenden Kontrast nominaler vs. verbaler Formen (s. bes. dort S. 167). Hier analysierte er auch noch weitere grammatische Kategorien, z.B. die nominale Determination für ihre Funktion zur Differenzierung von sozial unterstelltem Wissen gegenüber situativ aktivierten (S. 162 zu generischen Ausdrücken).

Aber der Rahmen für seine sprachtheoretische Reflexion ging über die Fokussierung der grammatischen Form hinaus, im übrigen wieder angelehnt an Husserl, den S. auch in der kritischen Reflexion überbot.  Auch bei Husserl war die Verselbständigung der sprachlichen Form gegenüber der Kontrolle durch das sprachliche Subjekt schon am Rande im Blick gewesen.[18] S. radikalisierte diese Sichtweise: die sprachliche Form erlaubt nicht nur ihre Isolierung, sondern diese kann bis zu ihrer Verselbständigung gegenüber ihrer sinnstrukturierenden Grundfunktion gehen. In letzter Konsequenz führt das zu einer Sprachpraxis, bei der der Sprecher nicht mehr Subjekt im vollen Sinne ist, sondern nur noch als „niemand“ (s.o.) mitspielt. Das war für S. die Grundlage dafür, die Sprachanalyse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse auszurichten, mit einer kritisch-ironischen Kontrafaktur von  Heideggerschen Topoi, wie insbesondere dessen man als entsubjektiviertem Subjekt der Alltagssprache und der Technik als „Gestell“. Die nicht mehr kontrollierte Sprache fungiert als Teil der nicht mehr kontrollierten Technik, deren fortgeschrittener Entfaltung der Mensch als antiquiert gegenüber steht (so auch herausgestellt in den Titeln der späteren Sammelbände, s. Fn. 5).  

Nur mit dieser Transposition des argumentativen Koordinatensystems blieb Sprache bei S. weiterhin thematisch, insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit den Massenmedien. Mit denen wird die sprachliche Form in Umkehr ihrer Genese in den sprachlichen Verhältnissen zum gesellschaftlichen Machtfaktor, indem die alltägliche Sprachpraxis auf die Wiederholung von medialen Vorgaben reduziert zu werden droht.[19]  Diese Kritik hat S. auch für die wissenschaftliche Sprachpraxis durchgezogen, bei der für ihn das Weiterspielen der akademisch eingefahrenen Diskurspraktiken angesichts des infrage gestellten Weiterbestehens der Menschheit geradezu makaber wird. Er brach diese Kritik bis zu detaillierten sprachlichen Analysen herunter, festgemacht vor allem (aber nicht nur) an den Veröffentlichungen von Martin Heidegger. Mit Adorno als Zielscheibe hat er das ironisch durchgespielt in einer Art szenischem Essai "Über die Esoterik der philosophischen Sprache" von 1943,[20] systematischer durchargumentiert in "Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung".[21]

Aber das waren für ihn zunehmend nur noch Nebenschauplätze angesichts der drohenden Selbstzerstörung der Menschheit, die mit der Atombombe auf Hiroshima und dann mit der chemischen Kriegsführung im Vietnamkrieg konkret geworden war, als die systematische Zerstörung der Natur als Waffe eingesetzt wurde (mit dem Agent Orange zur Entlaubung der Wälder). Er sah sich der drohenden Apokalypse als jemand gegenüber, der ihr in Auschwitz entkommen war. Auf dieser Folie konfrontierte er sich damit in einer bewußten Anamnese bei einer Reise nach Auschwitz und der Rückkehr von dort in das als frühkindliche Idylle erinnerte Breslau. Er protokollierte diese Reise in literarischer Form als Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966.[22]  Dabei zeigte er, wie die idyllische Erinnerung schmerzhaft durch die nicht zu verdrängende Katastrophe überlagert wird. Das leicht von der Zunge gehende Reden über diese Katastrophe ist ein Indiz für den "Betrug der Sprache"  (S. 9). In solchen Argumentationen wird der sprachkritische Grundtenor seiner Arbeiten deutlich.

Deutlicher als in diesen direkt politisch argumentierenden Schriften ist die sprachlich artikulierte Praxis Gegenstand seiner literarischen Werke, von kleineren Erzählungen bis zu seinem Roman Die molussische Katakombe, an dem er durchgehend in seinen Exiljahren gearbeitet hatte.[23] Dort spielt er in einer literarischen Bearbeitung der faschistischen sozialen Deformierung durch, welche Konsequenzen das Verbot (offener) sprachlicher Artikulation und damit die Reduktion auf handgreifliche „Kommunikation“ haben kann.[24] Die anthropologischen Mythen im Kielwasser von Herders Predigtmärlein vom Nachahmen des blökenden Lamms spiegelt er dort gewissermaßen zähneknirschend im parodierenden Mythos vom halbfertig gebackenen Menschen des „Weltbäckers“.[25]

Nach dem vergeblichen Versuch einer Habilitation im Anschluß an seine Promotion hat S. eine andere, öffentlich intervenierende Form der Analyse gesucht und gefunden. Aus dieser Außenseiterposition heraus hat er gegen die akademischen Fachvertreter, die ihn nicht zugelassen hatten, seine intellektuelle Überlegenheit kritisch ausgespielt. Das gilt auch für das Feld der Sprachforschung im weiteren Sinne. Zwar ist offensichtlich, daß sein Werk nicht unter diese subsumiert werden kann; aber daß er dort grundlegende Fragen angegangen ist, steht außer Frage.

Q: Aus der umfangreichen Sekundärliteratur sei nur Chr. Dries, Günther Anders (München: Fink 2009) genannt, mit einer Bibliographie seiner Werke; für die Biographie, s. R. Bahr, Günther Anders. Leben und Denken im Wort (Wien: Art Science 2010).

 

[1] Detaillierte Hinweise dazu verdanke ich Gerhard Oberschlick (per mail).

[2] Die damit verbundene Gratwanderung hat er immer wieder thematisiert, wobei er, auch unter dem Druck der rassistischen Verfolgung, die jüdische Identität in den Vordergrund rückte (anders als bei seinem Vater, der von seinem Sohn zur Emigration gedrängt werden mußte). S. seine Stellungnahme in H.J. Schulz (Hg.), Mein Judentum. Zürich: Benziger 1999:69-87.

[3] Hilde (1902-1992), nach ihrer Heirat Marchwitza, und Eva (1904-1992), nach ihrer Heirat Michaelis. Hilde war in jüdischen Organisationen im Reich aktiv, ausgehend von ihrer Tätigkeit bei der Arbeitsvermittlung, bis sie 1935 wegen Hochverrats inhaftiert wurde; nach der Entlassung 1937 emigrierte sie über die Niederlande in die USA. Nach dem Krieg kehrte sie zurück, zunächst in die BRD, dann in die DDR, wo sie als Übersetzerin tätig war.  Eva war in zionistischen Organisationen aktiv, emigrierte 1933 in die USA, später dann nach England und 1945 nach Palästina.

[4] So seine Vorbemerkung (1981) zu einem Aufsatz von 1930, in: Hannah Arendt / G.A., Schreib doch mal hard facts über Dich. Briefe. München: Beck 2016: 104.

[5] Die Ausrichtung seiner späteren Reflexion spiegelt sich in den Titeln der darauf bezogenen Sammelbände: Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bände München: Beck 1956 und 1980 (Bd. 1 Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 2 Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution), sowie posthum (hgg. von  Chr. Dries / H. Gätjens), Die Weltfremdheit das Menschen. Schriften zur philosophischen Anthropologie. München: Beck 2018.

[6] Die Titel umschreiben die angesprochene Spannung in seinem Spätwerk zwischen der anthropologisch verstandenen Realisierung der menschlichen Potentiale und der Entfremdung ihrer Realisierung, die der Mensch nicht mehr kontrollieren kann: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. C. H. Beck, München 1956 (Neuauflage 2012); in der Aufsatzsammlung Die Weltfremdheit des Menschen: Schriften zur philosophischen Anthropologie (hgg. von Christian Dries, Henrike Gätjens, et al.), München: Beck 2018, läßt sich die Entwicklung seines Gedankengangs nachvollziehen.

[7] Es handelt sich dabei um eine etwas idyllisch verklärte Rückerinnerung an die gemeinsame Zeit des Studiums in Berlin, inszeniert als Gespräch auf dem Balkon ihrer Wohnung auf dem Land (in Drewitz) beim Kirschenentkernen (daher der Titel).

[8] Masch.-schr. Freiburg i.Br. 1924. Ein kompakte Kurzfassung in seiner Aufsatzsammlung „Über das Haben. Sieben Kapitel zur Ontologie der Erkenntnis“ (Bonn: Cohen 1928) unter der Kapitelüberschrift „Satz und Situation“, S. 153- 189.

[9] Dort in Band II/1: 79-86.

[10] Indem er Heidegger gegen den Strich bürstete, geht es nicht wie bei diesem um die Zeit zum Tode, sondern um die Zeit, die mit der Geburt aufgespannt wird (in dem Sinne, wie Hannah Arendt als Grundbestimmung des Menschen seine Gebürtlichkeit nahm).

[11] Als Entsprechung zu Göthes „Urpflanze“ oder „Urtier“ in seinen naturwissenschaftlichen Studien.

[12] So nimmt er Heideggers Verankerung der Analyse im existenziellen Jetzt auf.

[13] In „Philosophischer Anzeiger“ 1/ 1925-26:359-381. Diese Zeitschrift wurde von Helmuth Plessner hg., auf den sich S. ohnehin öfters berief und den er später auch als seinen Mentor bezeichnete.

[14] Entsprechend dem wortgeschichtlich transparenten Grundbegriff der Idee (vgl. gr. εἶδον „sehen“ [1.Sg. Aor.]).

[15] S. Fn. 8.

[16] Irritierend ist, daß z.B. auch Bühler sie seinerzeit in seiner „Sprachtheorie“ (1934) nicht aufgenommen hat.

[17] In dem Band „Weltfremdheit“ (s. Fn. 6), S. 137- 195.

[18] Vgl. bei ihm die "Verführung durch Sprache", weil die Fundierung der Bedeutung nicht transparent ist, s. Husserliana Bd. IV, dort als "Beilage III" (S. 365 – 386): 372.

[19] Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen. (Schaffhausen: Novalis 1990); dazu auch Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung. (Göttingen: Wallstein 1992).

[20] Veröffentlicht zuerst unter dem Titel „Philosophie – für wen? Über echte und unechte Esoterik“ in: Die Sammlung Heft 11 (November 1952):  475–489.

[21] Veröffentlicht als Heft der Göttinger Sudelblätter (Göttingen: Wallstein 1992).

[22] München: C. H. Beck 1979.

[23] Publiziert München: C. H. Beck 1992 (Neuauflage 2012).

[24] Zu vergleichen etwa mit dem parallelen Versuch von Werner Krauss, PLN. Die Passionen der halykonischen Seele, von ihm in der Zuchthaus-Haft geschrieben und 1946 zuerst veröffentlicht.

[25] „Die Halbfertigkeit das Menschen“, S. 334 – 339.