Bornemann, Ern(e)st Julius Wilhelm
Geb. am 12.4.1915 in Berlin, gest. 4.6.1995 (Freitod) in Scharten/Oberösterr.
B. selbst war konfessionslos, aber seine Mutter war Jüdin. Studium der Volkskunde; aktiv in sozialistischen (sozialdemokratischen) Studentenorganisationen. Juli 1933 Emigration nach England (unter dem Eindruck der Sozialistenverfolgung, die ihn als aktiven Funktionär der sozialistischen Jugendorganisation bedrohte; aber der Entschluß, aus Deutschland auszuwandern, war nach eigenen Angaben unabhängig davon da). Studium der Anthropologie und Vorgeschichte in London und Edinburgh. Nachdem er dem deutschen Einberufungsbescheid zum Wehrdienst nicht nachgekommen war, wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft 1935 aberkannt. Tätig im Medienbereich (Film, Fernsehen); unterstützt von Emigrantenhilfsorganisationen (u.a. von jüdischen). Daneben studierte er Anthropologie, Geschichte und Psychologie in London.
1940 wurde er interniert und in ein kanadisches Lager gebracht. Nach der Freilassung in Kanada arbeitet er im Medienbereich (bei der Herstellung anthropologischer Filme u.dgl.). 1942-1945 Studium der Psychoanalyse in New York. Weiter Tätigkeit im Medienbereich, u.a. 1947-1949 bei der UNESCO in Paris, seit 1950 wieder vorwiegend in England (seit 1945 als kanadischer Staatsbürger). 1960-1961 war er bei den Vorbereitungen zum zweiten deutschen Fernsehprogramm engagiert. 1970 wanderte er nach Österreich aus (1976 dort Staatsbürger). 1976 Promotion in Bremen (im sozialwissenschaftlichen Fachbereich).[1] Seit 1975 lehrte er (mit Lehrauftrag oder auch – so in Marburg – als Gastprofessor) an verschiedenen Universitäten im Bereich der Psychologie (Psychoanalyse) und Pädagogik: 1975-1982 in Salzburg; 1979-1980 in Klagenfurt und in Bremen; 1980-1981 in Marburg; 1984-1985 in Innsbruck.
B. hat in seiner Exilzeit (und auch noch danach) vor allem literarisch und als Filmemacher gearbeitet.[2] Hier wird er wegen seiner umfassenden lexikographischen Sammlungen mit dem Schwerpunkt beim sexuellen Wortschatz berücksichtigt: Sie stehen als Materialsammlungen einzigartig dar, die auch seiner dokumentarischen Praxis in seinen literarischen Arbeiten entsprechen. Außer der Auswertung anderer Sammlungen beruhen sie auf eigenen Aufzeichnungen, die methodisch der traditionellen Volkskunde verpflichtet sind, so vor allem die Sammlung von Kinderliedern und Sprüchen, die zwar auch die musikalisch-rhythmische Seite berücksichtigen, aber das gesammelte Material »thesaurieren«, ohne ethnographisch den kulturellen Zusammenhang zu explorieren, in dem sie produziert wurden; zu seiner Methode s. die Selbstdarstellung im ersten Band seiner »Studien zur Befreiung des Kindes: Unsere Kinder im Spiegel ihrer Lieder, Reime, Verse und Rätsel«.[3]
B.s interpretatorische Folie ist eine recht orthodoxe psychoanalytische Sicht des Entwicklungsprozesses – eine theoretische oder methodologische Auseinandersetzung mit neueren ethnographischen oder auch sprachwissenschaftlichen (insbes. semantisch-lexikologischen) Arbeiten findet man in seinen Arbeiten nicht. Allerdings fehlt ein professionelles Gegenstück zu seinen Sammlungen: hier bleibt ein ganzer Bereich der Sprachforschung nicht-zünftigen Außenseitern wie B. überlassen (der in einer Tradition mit Avé-Lallemand u.a. steht);[4] s. dazu B.s Bemerkungen zur Anlage seines onomasiologischen Thesaurus »Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes«,[5] wo man eine ausgesprochene Aversion gegen die akademische Beschäftigung mit Sprache findet; s. auch seine bemerkenswerte Selbstdarstellung von der Kontinuität seiner adoleszenten Sprachkrise zu seiner Beschäftigung mit zeitgenössischen Sprachfragen – und dem schon früh in der Pubertät empfundenen Bedürfnis, aus Deutschland auszuwandern, ebd. S. 21f., ausführlich auch in dem Kapitel 8 seines Buches »Die Urszene«.[6] Dadurch daß B. die kreativen Prozesse in einem lexikalischen Sonderbereich exploriert, lassen sich seine Bemühungen einer kulturanalytischen Sprachwissenschaft zurechnen, die die Sprachpraxis nicht auf Regelsysteme abbildet (auch wenn B.s Prämissen hinsichtlich der Rekonstruktion von Teilnehmerperspektive und symbolischen Ausgrenzungsmechanismen auf der einen Seite und normativer traditioneller Lexikographie auf der anderen Seite argumentativ oft unklar bleiben). Außer den genannten Titeln s. noch die beiden weiteren Bände seiner »Studien zur Befreiung des Kindes: Die Umwelt des Kindes im Spiegel seiner ›verbotenen‹ Lieder, Reime, Verse und Rätsel«[7] und »Die Welt der Erwachsenen in den ›verbotenen‹ Reimen deutschsprachiger Stadtkinder«.[8]
Zu seinen (umstrittenen) Aktivitäten in der österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung und auch als »Ratgeber« in Massenmedien, s. den Nachruf von Aigner (Q).
Q: BHE; DBE 2005; autobiographisches Interview mit B. als Einleitung zu dem ihm als »Festschrift« gewidmeten Heft III/1 der Zeitschrift Maledicta (1979); Auskünfte von E. B.; Nachruf von J. C. Aigner, in: Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse 33 (2) 1994: 6-13.
[1] Als Dissertation fungierte sein bereits 1975 publiziertes Buch »Das Patriarchat«.
[2] Teilbibliographie der literarischen Werke bei Sternfeld/Tiedemann ²1970: 67; s. dazu J. M. Ritchie, »E. B. and the Face of the Cutting Room Floor«, in: J. Kohnen u.a. (Hgg.), »Brückenschlagen. FS F. Hoffmann«, Frankfurt/M. usw.: Lang 1994: 213-230.
[3] Olten: Walter 1973: 27ff., s.u.
[4] Die innersprachwissenschaftlichen Ansätze zu einer Analyse dieses Bereiches sind ohne Fortsetzung geblieben (s. vor allem bei Sperber und Spitzer – dort ja auch schon in expliziter Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse).
[5] Zuerst 1971 – (unpaginierte) Neuauflage Herrsching: Pawlak 1984, Vorrede zum Teil II.
[6] Frankfurt: Fischer 1977: 311-338.
[7] Otten: Walter 1974.
[8] Otten: Walter 1976 – alle drei Bände 1980 wieder neu als Taschenbücher aufgelegt (Frankfurt: Ullstein).