Brauner-Plazikowsky, Hermine
(später auch: Herma Plazikowsky-Brauner)[1]
Geb. 15.9.1888 Brünn, gest. 1.12.1965 (an den Folgen eines Verkehrsunfalls in Frankfurt).
Nach dem Schulbesuch in Ungarn und in Prag Studium der Orientalistik an der deutschen Universität in Prag und in Berlin, abgeschlossen 1913 mit der Promotion am Seminar für orientalische Sprachen (bei Sachau, Mittwoch und Delitzsch). Die Dissertation »Ein äthiopisch-amharisches Glossar (Sawasew)«,[2] bringt eine Edition auf der Grundlage einer Berliner Handschrift, bei der sie die Bearbeitungsschichten analysiert: Das glossierte Altäthiopische im Rückgang auf die hebräische Vorlage, das (vom Glossator z.T. nur noch unzureichend verstandene) Altäthiopische in Bezug auf das Neuäthiopische (die amharischen Formen des mutmaßlichen Schreibers), und schließlich die mutmaßlichen Fehler des nachlässigen (?) Kopisten der Handschrift. Die philologische Kommentierung setzt umfassende sprachwissenschaftliche Kenntnisse voraus, die aber in der Darstellung kein Eigengewicht haben.
Vor der Promotion lernte B.-P. in Berlin ihren späteren Mann, der seit 1907 in Äthiopien („Abessinien“) lebte und dort in der Provinz Arussi (Arsi, südlich von Adis-Abeba) eine Farm hatte, aber regelmäßig nach Deutschland fuhr. Sie heiraten und fuhren nach B.-P.s Promotion nach Äthiopien, wo B.P. von ihrer Farm aus ihre Forschungen auf empirisch-ethnographischer Grundlage betrieb. Sie erstellte grundlegende Beschreibungen (grammatische Abrisse, Glossare) zu verschiedenen bis dahin noch weitgehend unerschlossenen kuschitischen Sprachen,[3] neben Textsammlungen aus eigenen Aufzeichnungen. In zusammenfassenden Arbeiten rekonstruierte sie auch die Verwandtschaftsverhältnisse, die einerseits aufgrund der relativ großen lautlichen Variation (oft einradikalige Wurzeln mit kontextbedingter variabler Lautentwicklung), andererseits wegen eines Sprachbundes recht undurchsichtig sind, bei dem vor allem die von ihr untersuchten kleineren Sprachen von überregionalen Sprachen im Kontakt (bes. mit semitischen Sprachen) beeinflußt sind. Am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen hatte MITTWOCH für sie eine Lektorenstelle vorgesehen,[4] aber sie blieb in Äthiopien.
Nach 1931 wurden die Lebensverhältnisse kompliziert. 1931 wurde ihnen nach einem Konflikt mit der deutschen konsularischen Vertretung in Adis Abeba die Staatsangehörigkeit aberkannt und das Ehepaar erhielt die äthiopische Staaatsbürgerschaft, aus der nach der Besetzung und Annektion durch Italien 1935-36 eine italienische Staatsbürgerschaft wurde. Als nach der Befreiung von der italienischen Kolonialherrschaft 1941 das Land unter eine britische Verwaltung gestellt wurde, wurden sie zunächst wieder äthiopische Staaatsbürger. Da Äthiopien dadurch aber auch Deutschland den Krieg erklärte, wurde von ihnen eine Loyalitätserklärung verlangt, die sie verweigerten. Daraufhin wurde ihnen die Staatsangehörigkeit aberkannt; sie wurden enteignet, zunächst auch interniert und dann des Landes verwiesen. Sie kehrten 1942 staatenlos nach Deutschland zurück, wo sie zum Arbeitsdienst verpflichtet wurden und mit einem prekären Status das Kriegsende erlebten. Diese Sitaution als Flüchtlinge blieb zunächst auch nach 1945 weiter bestehen, wo die Famlie im ländlichen Niedersachsen lebte. Schließlich wurden sie wieder eingebürgert und B.-P. konnte Anfang der 1950er Jahre einen wissenschaftlichen Kontakt zum Orient-Institut der Universität Frankfurt herstellen, wo sie 1954 einen Lehrauftrag für äthiopische (»abessinische«) Sprachen erhielt und seitdem als Dozentin vorwiegend Amharisch und Gecez lehrte.
Zwar war bei dem erzwungenen Wegzug aus Äthiopien ein großer Teil ihrer Manuskripte und Unterlagen verloren gegangen (in späteren Aufsätzen verweist sie wiederholt auf »im Krieg« verlorene Manuskripte), aber seit ihrer Rückkehr- nach Deutschland- versuchte sie, diese zu rekonstruieren und ihre Forschungen weiterzuführen, wobei sie die Zusammenarbeit mit italienischen Fachkollegen aus der „italienischen Zeit“ in Äthiopien fortsetzte, in deren orientalistischen Zeitschriften sie vorwiegend auch veröffentlichte. Ein Schwerpunkt waren ihre Arbeiten zum statt Šinaša (heute meist Boro, eine omotische Sprache), das in einer im Westen Äthiopiens (nahe der Grenze zum Sudan) gesprochen wird und bis dahin nicht beschrieben worden war, so z.B. dem Abriß einer Grammatik in »Schizzo morfologico dello Scinascia«,[5] (nach eigenen Angaben die Kurzfassung einer umfassenden Darstellung) mit Phonologie, Morphophonologie (komplex beim Verb, S. 72f.), Morphologie (unter Klärung der pragmatischen Funktion der Formen) und Texte; eine historisch-ethnographische Studie zu diesem Volk (mit sprachlichen Anmerkungen, z.B. zu einer Geheimsprache, S. 34) wurde erst postum veröffentlicht: »Die Schinascha in West-Äthiopien«;[6] s. auch (mit E. Wagner) »Studien zur Sprache der Irob«,[7] eine von B.-P. aufgezeichnete Sammlung von Sprichwörtern u.dgl. mit einem sprachlichen (auch etymologisch-vergleichenden) sowie volkskundlichen Kommentar.
Daneben verfaßte sie eine Reihe von Überblicksdarstellungen zu den sprachlichen und ethnischen Verhältnissen in Äthiopien sowie zur Religionsgeschichte (vor allem in Hinblick auf den Gegensatz von Christentum und Islam). Nach Äthiopien kehrten sie und ihr Ehemann (der 1960 gestorben ist) nach dem Krieg nicht mehr zurück, weil ihnen dort die geforderte Wiedergutmachung verweigert wurde. Statt dessen setzte B.-P. ihre Forschungen im westlich anschließenden Sudan fort, zu dort gesprochenen kuschitischen Varietäten, vor allem dem Beja (Bedawi). Noch 1964– 65 unternahm sie zwei Feldforschungsexpeditionen zu den Hadab, zu deren Sprache sie eine monographische Darstellung vorbereitete, über die sie auch schon einen (wegen ihres Todes ausgefallenen) Vortrag auf dem Deutschen Orientalistentag 1965 angekündigt hatte. Als 77jährige beschrieb sie diese Forschungstätigkeit in ihren Briefen an die Kinder noch als Abenteuer. Neben der deskriptiven Arbeit und der Sammlung von Texten unternahm sie eine vergleichende Rekonstruktion der kuschitischen Sprachverhältnisse s. etwa »Die Hilfselemente der Konjugation in den kuschitischen Sprachen«,[8] wo sie die Rekonstruktion des Verbalsystems aus periphrastischen Konstruktionen nachzeichnet (aus Verbalperiphrasen und noch »rudimentärer« aus nominalen Formen mit affigierten Possessivpronomen) und dabei insbes. die Genese temporaler Bestimmungen analysiert.
Diese Studie hat sie später auch ergänzt in »Die verbalen Bildungen in den sog. kuschitischen Sprachen«,[9] wo sie bemerkenswerterweise direkt an die ältere deutsche typologische Argumentationsweise anschließt (s. hier bei Lewy), die grammatisierte Strukturen auf Denkformen abbildet, hier den von ihr als ursprünglich nominal bestimmten Sprachbau der kuschitischen Sprachen mit einem »stationären Denken« korreliert, im Gegensatz zum »tätigen Denken«, das an einen verbalen Sprachbau gebunden ist und das sich in den (denominal herausgebildeten) verbalen Bildungen dann sekundär eine Form schuf (über infinitivische bzw. gerundiale Paraphrasen mit einer etymologisch als SAGEN bestimmten Verbform). Zu diesen vergleichend-rekonstruierenden Arbeiten gehört u.a. auch ihre Untersuchung »Der Kausativ der sog. kuschitischen Sprachen«,[10] die sie mit ausführlichen Bemerkungen zu den Ausgliederungsproblemen der makro-kuschitischen Sprachen einleitete, die von Sprachkontakteinflüssen überlagert werden. Ihre Arbeit an einer vergleichenden Grammatik der kuschitischen Sprachen wurde durch ihren Unfall abgebrochen – sie konnte sie ebensowenig abschließen wie einen von ihre geplanten Fotoband, vor allem auch zu den Spuren der griechischen Kultur in diesem Raum.
Q: Vita im Univ. Arch. Frankfurt/M.; Hinweise und (Teil-)Bibliographie bei HAMMERSCHMIDT 1968: 60-61; briefliche Hinweise und eine Sammlung von Briefen von Wolfgang Plazikowsky (dem Sohn); Nachruf (mit Bibliographie) von E. Haberland, in: Z. f. Ethnologie 95/1970: 40-41; ein L. R. gezeichneter Nachruf in den Rassegna di Studi Etiopici 28/1966: 109-110.
[1] Es findet sich auch die Schreibweise Plazikowski. Die Variation geht auf unterschiedliche Formen der Eindeutschung des ursprünglich ukrainischen Familiennamens zurück, bei dem der Wortausgang <-ij> teils als <-y>, teils als <-i> adaptiert wurde (Mitteilung von H.P, s. bei Q).
[2] Berlin 1913, gedruckt in: Mitt. d. Orient. Sem. Berlin, R. II: Westasiat. Studien, Jg. 1914: 1-96.
[3] Vor allem des sog. »omotischen« Zweiges, der heute allerdings oft als eine eigenen Sprachfamilie bezeichnet wird.
[4] S. bei diesem zu seinem Briefwechsel mit dem Ministerium (hg. von Ullendorff, 2000).
[5] In: Rassegna di Studi Etiopici 9/1950: 65-83.
[6] In: Z. f. Ethnologie 95/1970: 29-39.
[7] In: Z. dt. Morgenländ. Ges. 103, NF 28/1953: 378-392.
[8] In: Z. dt. Morgenländ. Ges. 107/1957: 7-30.
[9] In: Rassegna di Studi Etiopici 21/1966: 94-110, postum erschienen.
[10] In: Anthropos 54/1959: 129-140.