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Collitz, Hermann

 

Geb. 4.2.1855 in Bleckede (nahe Lüneburg), gest. 13.5.1935 in Balti­more.

Nach dem Abitur 1875 in Lü­neburg Studium der klassi­schen und germani­schen Phi­lologie sowie der verglei­chenden Sprachwissen­schaft (bei Fick, Bezzenber­ger u.a.) in Göttingen (nur von einem Semester in Berlin unterbrochen). 1879 Promo­tion in Göttin­gen mit einer vergleichenden indo­germanistischen Untersu­chung zum Altira­nischen. Schon vor der Dis­sertation Mitarbeit in Berlin an der Herausgabe der griechischen Dialektin­schriften (mit F. Bechtel, A. Bezzen­berger, F. Blaß, A. Fick u.a.), von ihm bis auf die Hefte 3/4 des 4. Bandes redigiert.[1] Seit 1883 hatte er eine Vertre­tung der Bibliothekars­stelle von K. Ver­ner in Halle; dort auch 1885 Habi­litation mit einer vergleichenden Untersu­chung zur Nomi­nalflexion im Alt­griechischen und im Sanskrit.1886 folgte er einem Ruf nach Bryn Mawr für eine Pro­fessur für Deutsch (zunächst »Associate«, seit 1887 regulär),[2] von wo er 1907 auf einen Lehrstuhl für Germa­nische Philo­logie an die Johns Hop­kins Universität wech­selte; dort wurde er 1927 emeri­tiert.

C. war zunächst vergleichender indoeuropäischer Sprachwissen­schaftler, der schon mit seiner Disser­tation einen wichtigen Bei­trag zur stren­gen »lautgesetzlichen« Re­konstruktion der diszi­plinären Grundlagen in der Nach-Schlei­cherschen-Periode geleistet hatte.[3] Er publi­zierte au­ßer zum Indo-Ira­nischen, Griechischen und Germanischen auch zum La­teinischen, Slawi­schen und Keltischen. Im Sinne der auf­kommenden Mundartforschung bemühte er sich, die (alt-)griechischen Dialekte von den textlichen Be­funden her zu be­schreiben, statt mit ethnischen For­mationen (»Stämmen«) und ihren stereotypen Charakte­risierungen zu operieren. Trotz Avancen von Sievers u.a. stand er der junggrammatischen Pro­grammatik ab­lehnend gegenüber – was er bes. in seinen Rezensio­nen und Nebenbemerkungen über das seiner Meinung nach die methodi­schen Grund­lagen auflö­sende Analo­gieprinzip (und den die Fachgren­zen auf­lösenden Psycho­logismus) aus­drückte; seine philologisch-po­sitivistische Arbeits­haltung stand dem ent­gegen (bes. in den editori­schen Arbei­ten zum Griechischen deut­lich). Die Kontroverse mit der Leip­ziger Gruppe spitzte sich schließlich zu einer publi­zistischen Fehde zu, bei der C. seine »Urheberrechte« für junggrammatisch verein­nahmte »Entdeckungen« einforderte. Nicht ohne Grund in­sistierte er darauf, über der junggram­matischen Program­matik nicht zu übersehen, daß diese zumeist in der Sache schon gesehene Zu­sammenhänge reformu­liert;[4] er erwies sich aber, jenseits aller Fragen persönlicher Eitel­keit, als Positivist, der nur einen sehr bedingten Zugang zu theoretischen Frage­stellungen hatte – was seine Beiträge etwa zur Heraus­bildung der indo-iranischen Palatale (so schon in der Dis­sertation), der Nasalis sonans u. dgl. nicht schmä­lert.[5]

Eine besondere Vorliebe hatte er für das heimat­liche Nieder­deutsche: Er war aktiv im Verein für Niederdeut­sche Sprachfor­schung und gab neben mehre­ren Artikeln zum Alt- und Neuniederdeut­schen insbes. das Waldeckische Dialektwörter­buch auf der Grundlage des nachge­lassenen Manuskripts von K. Bauer im Autrag des Vereins heraus.[6] Übungen zum Nieder­deutschen gehörten auch in den USA zu seinem festen Lehrpro­gramm, was er u.a. mit der kontrastiv-ver­gleichend größeren Nähe zum Englischen für US-amerikani­sche Deutschstudenten begrün­dete. Seine intime (auch ins Personalge­schichtliche reichende) Kenntnis dieses Feldes zeigt sich u.a. in der detail­lierten (sehr positi­ven!) Be­sprechung von F. Brauns Arbeiten.[7]

Seine Schwerpunktverlagerung zur germanischen Sprachwis­senschaft, die er in der Lehre wie in sei­nen Publikatio­nen in ihrer ganzen Breite von Hoch- und Niederdeut­schem, Nie­derländischem, Gotischem, Englischem und den skandinavischen Sprachen vertrat, war erst eine Folge seiner anders ge­schnittenen Ar­beitsaufgaben in den USA. Sein Arbeitsfeld lag hier bei (historischer) Phonologie und Morphologie sowie etymologischen Studien; bis heute wichtig ist ins­bes. seine Un­tersuchung »Das schwache Präter­itum und seine Vorge­schichte«,[8] in der er die Herausbildung dieser germani­schen Neuerung sy­stematisch in Hin­blick auf ihre etymologi­sche Grundlage im indo-eu­ropäischen Horizont unter­sucht.

Aber er war keineswegs ausschließlich Sprach­wissenschaftler im en­gen Sinne: Sowohl in sei­nen Lehr­veranstaltungen wie in gelegent­lichen Aufsätzen behan­delte er auch literaturwissenschaft­liche Themen (insbes. Goe­thes »Faust«).[9] Und auch auf seinem spe­zielleren Ar­beitsgebiet zeigte er sich als Philologe, so wenn er ge­gen dialek­tologische Argumente von Wrede u.a. zur He­liandfrage literaturge­schichtliche Überlegun­gen ins Feld führte, Frie­sismen im Altsächsi­schen als Gattungscharakte­ristika der Epik be­trachtete und so nach dem Mo­dell der altgriechi­schen Literaturdialekte die Heimat­frage für ge­genstandslos erklärte.[10] In den späte­ren Jah­ren (1924-1930) ver­öffentlichte er darüber hinaus eine Reihe von Stu­dien zur verglei­chenden indoeuropäi­schen Mythologie.

In den USA war C. eine der sprachwissen­schaftlichen Schlüs­selfiguren, der dort auch zum ersten Präsiden­ten der neu ge­gründeten Lin­guistic Society gewählt wurde (1925 gleichzei­tig mit seiner Präsidentschaft in der Mo­dern Language Asso­ciation [MLA]). Für sein umfassendes Engage­ment in Sachen Sprach­wissenschaft zeugte auch seine Aktivität in einem US-amerikanischen Komitee (eingesetzt von der MLA) zu den »Hilfssprachen« (Esperanto u.a.), die damals eine be­trächtliche fachwissenschaft­liche Aufmerksamkeit auf sich zogen. In seiner gemeinsamen »Presidential Adress« für die MLA und die LSA (»World Languages«)[11] gab er einen hi­storischen Überblick über internationale Verkehrssprachen und Schriftsysteme. Die Selbstverständlichkeit, mit der er beide Gegen­standsbereiche verknüpfte, zeigt seine philologische Herkunft (der Horizont seiner Beispiele ist umfassend indoeuropäisch und semi­tisch).[12] Sehr syste­matisch diffe­renzierte er zwischen funktionalen Gesichtspunk­ten der Konventiona­lisierung bei Kommunikationssystemen, ih­rer Fundierung (Motiviertheit) in der Spontansprache ihrer Benutzer und zugleich den damit eröffneten Zugängen zu einer kulturellen Überlieferungs­tradition (bei ihm: explizit die jeweilige Literatur). In Hinblick auf das letztere, aber auch (durchaus aktuell!), um einer Haltung, die kein Inter­esse an sprachlicher Verschiedenheit mehr hat (in dem für ihn aber die Grundmotivation für das sprachwissenschaftli­che Studium liegt), keinen Vorschub zu leisten, war er gegen die Einführung des Unterrichts in einer der artifiziellen Hilfssprachen in den öf­fentlichen Schulen.[13] Für die Strukturerfordernisse solcher Hilfssprachen (deutlich bei O. Jespersens Revi­sion des Esperanto im Ido) hatte er dagegen sehr wohl ein Interesse.

C. blieb immer »Europäer«: er veröffent­lichte (außer auf Englisch) weiterhin auf Deutsch, und die von ihm her­ausgegebene und bewußt gegen die dominanten deutschen philologi­schen Reihen ge­stellte Pu­blikationsreihe Hespe­ria der Johns Hop­kins Univer­sität erschien in Göttingen bei sei­nem »Hausverlag« Vandenhoeck und Ru­precht. Sein Rang als Sprachwis­senschaftler in den USA wird durch die Beiträge in seiner Festschrift 1930 doku­mentiert: Von Bloomfield über Ed­gerton bis Sturtevant sind die großen Namen der vergl. Sprachwis­senschaft (neben den Germani­sten auch Literatur­wissenschaftler) versammelt – von den deutschen Kollegen ist nur E. Sievers dabei!

Q: Kürsch­ner 1931; Stammerjohann (1996) (D. Gambarara); IGL (Th. P. Thornton); FS »Studies in Honor of Hermann Collitz«, Balti­more: Johns Hopkins Press 1930 (dort S. 1-6 seine Vita, verfaßt von seiner Frau, S. 7-15 Bibliographie). Nachrufe: von E. H. Sehrt in: Mod. Lg. N. 51/1936: 69-80 (mit Bibliographie); K. Malone in: Amer. J. of Ph. 56/1935: 289-290; E. Prokosch in: J. of Engl. and Germ. Ph. 35/1936: 454-457; Bron­stein u.a. 1977; Homepage des Johanneum Lüneburg (http://www.johanneum-lueneburg.de/homepage/chronik/collitz/collitz.htm, Aug. 2012).



[1] In 4 Bänden 1883-1915 in Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.

[2] Bis 1904 behielt er formal seine Stelle in Halle bei und war von dort beurlaubt.

[3] So schon in der Dissertation zu den indo-iranischen Palatalisierungen.

[4] Auch in späteren Arbeiten spiegelt sich diese Position in fachgeschichtlichen Abrissen, etwa »A century of Grimm’s Law«, in: Lg. 2/1926: 174-183.

[5] S. Theo Vennemann/Terence A. Wilbur (Hgg.), »Schuchardt, the neogrammarians, and the transformational theory of phonological change«, Frankfurt/ M.: Athenäum 1972, mit der Reproduktion zweier Artikel von 1886-1887 aus dieser Kontro­verse.

[6] Norden: Soltau 1902. Die Arbeit daran war nicht zuletzt in Hinblick auf das an C. dafür gezahlte Honorar konfliktbeladen. Hinweise dazu verdanke ich F. Gutendorf, der sie in seiner Darstellung der Geschichte des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung (in Vorbereitung) dokumentieren wird.

[7] In: Lg. 5/1929: 195-201.

[8] = He­speria 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1912.

[9] Er war auch Mitglied der Goethe-Gesellschaft in Weimar.

[10] »The Home of the Heliand«, in: Publ. Mod. Lang. Ass. Ame­rica 16/1901: 123-140.

[11] In: Lg. 2/1926: 1-13.

[12] Er war auch Mitglied in der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.

[13] Diese Position vertrat er in einem Komitee der MLA, das die Einführung einer Kunstsprache in den Schulunterricht der USA prüfen sollte.