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Gomperz, Heinrich

geb. 18.1.1873 Wien – gest. 27.12.1942 Los Angeles

 

G. stammte aus einer jüdischen Familie, die er in seiner Autobiographie (s. Q) als sehr weitgehend „assimiliert“ (und antizionistisch) beschreibt, mit einer ausgesprochen großdeutschen Orientierung. Er studierte seit 1891 zunächst Jura in Wien, dann Kirchengeschichte in Berlin, und schließlich Philosophie wieder in Wien, wo er 1892 bei E. Mach mit einer Dissertation zur „Psychologie der logischen Grundtatsachen“ promoviert wurde. Nachdem in Wien sein Habilitationsantrag in der Philosophie abgelehnt worden war, habilitierte er 1896 in Bern, wo er danach auch als Privatdozent lehrte, seit 1905 aber wieder in Wien. Dort war er aktiv am Rand des sich formierenden „Wiener Kreises“, zu dem er nicht gehörte, dessen Aktivisten (außer Schlick!) aber Teilnehmer in seinem regelmäßigen privaten Diskussionskreis waren wie vor allem Carnap; dazu gehörten aber auch Popper, Bühler u.a. [1 ]

1920 wurde G. zum a.pl. Prof. ernannt, 1924 zum o. Prof. 1934 wurde er entlassen, als er sich weigerte, der „Vaterländischen Front“ beizutreten; [2] er behielt nur eine (eingeschränkte) Lehrbefugnis. Daraufhin emigrierte er 1935 in die USA, wo er bis zum Ende seiner universitären Aktivitäten eine Gastprofessur an der U South California innehatte und an verschiedenen Universitäten lehrte. Hier im Exil wurden seine Kontakte zu den früheren Wiener Kollegen vertieft, bes. wohl zu Carnap. Dabei bewahrte er seine deutschnationale Grundeinstellung , die ihn daran hinderte, bei den politischen österreichischen Exilgruppen mitzuwirken.

G.s umfassend angelegtes philosophisches Werk, mit einem Schwerpunkt bei der antiken Philosophie, ist hier nicht Gegenstand (damit führte G. nicht zuletzt die Arbeiten seines Vaters Theodor G., 1832 - 1912, weiter).[3]

In diesem Betrag geht es um die sprachanalytischen Seiten in G.s Werk. In Fortführung seiner Dissertation und einerseits im Kielwasser der positivistisch orientierten Suche nach einer psychischen Fundierung kognitiver Leistungen, andererseits aber im Feld der damaligen Suche nach einem ganzheitlichen (auch lebensreformerisch orientierten) Neuansatz der wissenschaftstheoretischen Reflexion entwickelte G. ein ambitioniertes philosophisches System in seiner „Weltanschauungslehre“, die er auf 4 Bände geplant hatte, von denen aber nur der erste Band und vom zweiten die erste Hälfte erschienen sind. [4] Im ersten Band entwickelte G. die Grundbegriffe seines an Mach angelegten "pathempirischen" Projektes, das sich gegen eine "metaphysische" Verselbständigung der Ideen richtete, zugleich aber auch gegen eine psychologistische Reduktion des Kognitiven: dessen Strukturen sind die von Gedanken - zu unterscheiden von prozessualem Denken, in dem sie allerdings in die Welt kommen. Insofern versuchte er eine Verankerung des Kognitiven in der Bestimmung von dessen kategorialen Strukturen, die er als die fundierenden Gefühle bezeichnet (daher seine Rede von "Pathempirie", zu a.griech. patheema "Gefühl, Empfindung"). Von diesem Unternehmen ist hier der zweite Band „Noologie“ (mit dem Untertitel „Semasiologie“) einschlägig. Dort entwickelte er als „Semasiologie“ Grundstrukturen der Sprachanalyse als Formen der Bearbeitung der fundierenden Gefühle; er sprach von noetischen Strukturen (z.B. S. 100 oder 234). Das war durchaus parallel zu dem Unternehmen von Husserl, auf den, vor allem auf dessen „Logische Untersuchungen“, G. auch durchgehend verweist und der ihm das brieflich auch bestätigte:[5] Aber anders als dieser suchte er eine psychische Fundierung der noetischen Strukturen in Erlebnismomenten kognitiver Akte, der er im generischen Sinne als "Gefühle" bezeichnete - als kategoriale Struktur, die kognitive Akte ermöglicht, die von den wahrnehmbaren Empfindungen dabei als deren Epiphänomene zu unterscheiden sind. Dabei stellte er (wie auch Husserl) heraus, daß noetische Strukturen das Resultat einer aktiven Bearbeitung des immer nur passiven Gefühls sind (SS. 249, 269, 282 u.ö.), wobei ihm aber letztlich der Verweis auf ein „Gefühl der noetischen Stellungnahme“ (S. 257) als analytischer Ausweis genügte (er benutzte dafür auch den Terminus der "Totalimpression").

Als Besonderheit von Sprache stellte er die Repräsentation von Sachverhalten heraus, die zwar an die materiale Artikulation (bei ihm die „Aussageform“) gebunden ist, dieser gegenüber aber selbständig ist (er fundierte sie in einem „Gefühl der Repräsentation“). Definierend für die Sprache als Repräsentation ist, daß sie ihre Identität gegenüber den kognitiven Akten bewahrt, in denen sie realisiert ist: sie ist erinnerbar in anderen Konstellationen und übersetzbar in andere Sprachen u.dgl. In dieser Hinsicht waren seine Überlegungen für die damaligen Diskussionen durchaus klärend, und sie wurden so auch aufgenommen (z.B. von Bühler). Das gilt vor allem auch für seine schematische Darstellung der nötigen Differenzierungen der (sprachlichen) Formanalyse gegenüber der Interpretation der Formen, so mit seinem doppelten Dreieck der "semasiologischen" Grundstrukturen mit der Unterscheidung von Bedeutung gegenüber Bezeichnung: auf der unmittelbaren Ebene des Umgans mit sprchlichen Ausdrücken (er spricht generalisierend von "Aussagen") mit den drei Polen: der wahrnehmbaren Form ("Aussagelaute"), der damit bezeichneten "Aussagegrundlage" und schließlich des damit ausgedrückten "Aussageinhalts", mit dem immer eine bestimmte "Auffassung" von diesem verbunden ist. In einer spezifischen sprachlichen Form wird dieses Verhältnis durch noetische Strukturen vermittelt, bei denen dem materialen Ausdruck eine spezifische Form (die "Aussage") gegenübersteht und der Aussagegrundlage ihre formale Fassung in einem (noetisch "typisierten") "Sachverhalt" (s. das Schema mit einem doppelten Dreieck für dieses Verhältnis, S. 77). Auch wenn er bei seinen konkreteren Ausführung weitgehen im Rahmen des damals Üblichen verblieb (etwa bei lexikalischen Wortfeldern, S. 229 ff.), führte er seine Überlegungen doch bis zu Formen einer komplexen (ausgebauten) Sprachpraxis fort, etwa den Umgang mit Impliziertem in Äußerungen (z.B. S. 132-134).

In der Analyse ging er zwar bis zu den formalen grammatischen Strukturen (Formen des Satzbaus, auch der Verknüpfung von Propositionen, grammatischen Kategorien wie Diathese u.dgl.), begnügte sich aber letztlich damit, diese in entsprechenden „Formgefühlen“ zu verankern, ohne bis zu einer ausgearbeiteten Grammatiktheorie zu gehen. Da er hervorhob, daß die spezifischen grammatischen Formen immer in einem besonderen sozialen Verband gelernt werden, wobei allein in dessen Partizipation die Sicherheit in ihrer Nutzung erworben wird (das entsprechende „Sprachgefühl“, S. 226), sind diese auch immer idiomatisch (z.B. S. 59 – 60 zur „Idiomatisierung“). Daher sind für ihn Bemühungen um eine allgemeine Grammatik letztlich auch gegenstandslos, wie er gegen entsprechende zeitgenössische Bemühungen einwendete.[6] Insofern findet sich bei ihm keine ausgearbeitete Grammatiktheorie, wie sie Husserl anging, obwohl er in der Analyse der kognitiven Strukturen, der Identifizierung und Typisierung ihrer Formen als noetische Grundlage der sprachlichen Formen bemerkenswert weit ging; darauf ging auch seine programmatische Etikettierung seines Unternehmens als „Semasiologie“ zurück. In diesem Sinne nahm auch Bühler auf ihn Bezug.

Ohne den umfassenden Anspruch dieses Frühwerks, dafür aber mit einer expliziten Orientierung auf die Analyse alltagsprachlicher Reflexionsformen hat er sein Unternehmen weitergeführt in „Über Sinn und Sinngebilde. Verstehen und Erklären“.[7] Grundkategorie der in Handlungsabläufe eingebundenen Sprachpraxis ist der Sinn der Äußerungen, der insofern aber auch inkongruent zu einer formalen, theoretisch explizierten Analyse ist. Diese operiert in ihren Erklärungen der Beobachtungen mit theoretischen Konstrukten, die von deren Verstehen zu unterscheiden ist, über das vermittelt die soziale Interaktion möglich wird. Damit grenzte er sich von den zeitgenössisch modischen „lebensphilosophisch“ ausgerichteten Ansätzen ab, deren holistische Begrifflichkeit (darunter der grassierende Struktur-Begriff, S. iv) für ihn analytisches Herangehen verhindert. Dagegen setzt er die formale Analyse in der von ihm auch grammatisch explizierten Struktur von Äußerungen: bei deren „synkategorematischen“ Elementen, die (komplexere) Äußerungen mit der Satzform möglich machen. Auch wenn er das hier nicht sonderlich systematisch entwickelte (immerhin ist aber Bühler hier sein meist angeführter Autor), bewegte er sich damit auf den eingefahrenen Schienen der damals von Marty, Husserl u.a. entfalteten Grammatiktheorie, indem er die sprachliche (grammatische) Form als ungesättigten Ausdruck explizierte: zu verstehen als implizite Aufforderung, ihn mit semantisch vollen („kategorematischen“) Elementen zu sättigen. Aufgabe der wissenschaftlichen Sprachanalyse ist es für ihn, diese Strukturen handlungsentlastet gegenüber der Alltagspraxis zu explizieren: in der Semantik, die an der Form der Äußerungen ansetzt – nicht bei ihrem Sinn.

Neben seinen philosophischen Hauptinteressen hat er diese Linie auch im US-Exil noch weiterverfolgt, so in „The meanings of meaning“ (1941).[8] Dort entwickelt er recht systematisch die mehrebige Struktur der Sprachanalyse, wieder explizit ansetzend bei den alltagspraktischen Strukturen (explizit verweist er für diese Herangehensweise auf Wittgenstein, S. 273). Dabei argumentiert er hier mit den damals US-amerikanisch üblich gewordenen semiotischen Prämissen, explizit mit dem Verweis auf Morris (S. 260) – vermutlich über Carnap vermittelt: die Grundfigur der Analyse ist die kommunikative Interaktion von Sprecher und Hörer (mit dem reflexiven Grenzfall, daß der Sprecher als eigener Hörer fungiert). So entwickelte er die Sprachanalyse auf verschiedenen Ebenen, angefangen bei der formalen der lautlichen und morphologischen Analyse, bei der sich die Frage der vom Sprecher damit intendierten Bedeutung nicht stellt. Für diese gibt es eine formale Ebene: die der Semantik, einschließlich der von Sprechakttypen, und dann die Ebene der praktizierten Sprechhandlungen, der Pragmatik. Diese erfordert es, über die Analyse isolierter Äußerungen (Sätze) hinauszugehen zu der implikationell vermittelten Struktur komplexer Äußerungen, die in der Kohärenz der sprachlichen Interaktion greifbar wird (S. 273).

G.s Arbeiten haben in der Sprachwissenschaft kaum Berücksichtigung gefunden (eine Ausnahme sind die Arbeiten von C. Knobloch). Anders als z.B. die von Husserl liefern sie auch keine direkten Ansatzpunkte für das konkrete analytische Geschäft – aber als reflektierter sprachtheoretisch orientierter Kommentar gehören sie zweifellos zur Sprachforschung im weiteren Sinne.

Q: H.G., Autobiographical remarks (1943), in: D.S. Robinson (Hg.), Philosophical studies by H.G., Boston: Christopher 1953: 15 – 28; dort ein Schriftenverzeichnis S. 280 - 283. NDB (J. von Kempski); Hinweise von C. Knobloch, auf die auch die Aufnahme dieses Beitrags zu G. zurückgeht.

 

[1] S. dazu M. Seiler / F. Stadler (Hgg.), H.G., Karl Popper und die österreichische Philosophie. Amsterdam: Rodopi 1994. Zu G.s "Samstagskreis" s. dort S. 6.

[2] In seiner Autobiographie (Q) betont er: „as the only non-Nazi-Professor I refused to join“.

[3] Die Auseinandersetzung mit den Vorgaben seiner Eltern war in vieler Hinsicht für G. wichtig. Der Vater Theodor G. hatte neben seinen gräzistischen Arbeiten auch eine dt. Gesamtausgabe der Werke von J. S. Mill (1806-1873) bewerkstelligt, die von 1869 - 1870 erschien (Leipzig: Reisland), in der er selbst in Bd. 1 Mills Arbeit über "Freiheit" übersetzte; die Mutter Elise G. (geb. Sychrovsky, 1848-1929), die selbst frauenrechtlich engagiert war und sich schon von daher mit Mill beschäftigt hatte, hatte in Bd. 9 (1874) Mills Studie zu Comte und dem Positivismus übersetzt. Dieser Band spielte eine wichtige Rolle in den Diskussionen des Wiener Kreises. Der letzte Band 12, in dem Mills Arbeiten zur Frauenemanzipation enthalten sind, wurde im übrigen von S. Freud übersetzt.

[4] Jena: Diederichs 1905 und 1908. Wohl über Max Scheler war er in Verbindung zum Diederichs-Verlag gekommen, der damals eine Schlüsselrolle in der Reformbewegung hatte. Bereits 1904 hatte er dort ein Buch publiziert. Zu diesem Feld s. jetzt M.G. Werner, Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena, Göttingen: Wallstein 2003 (dort passim auch Hinweise zu G.).

[5] S. die Briefpassage, zitiert bei Seiler / Stadler (Fn.1), S. 60. Später qualifizierte er ihn im Vergleich zu Brentano aber als sekundären Epigonen ab (so in der Autobiographie: 17, Q).

[6] Gegen Husserls „Logische Untersuchungen“, die er ansonsten extensiv heranzieht, vor allem aber gegen die Vorschläge zu einer „algebraischen Grammatik“, die damals in Wien Adolph Stöhr (1855 – 1921) vorgelegt hatte.

[7] Tübingen: Mohr 1929.

[8] Nachgedruckt in seinen „Philos. Studies“ (s. Q): 251 – 274.