Havers, Wilhelm Maria Hubert
Nach dem Abitur 1899 in Aachen studierte H. in Tübingen, München und Münster klass. Philologie, Germanistik und vergl. Sprachwissenschaft. 1903 machte er in Münster das Staatsexamen; danach setzte er in Leipzig (bei Brugmann) das Studium fort und promovierte 1905. Die Dissertation »Das Pronomen der Jener-Deixis im Griechischen«[1] verfolgt eine Brugmannsche Idee an ausführlich exzerpiertem griechischen Belegmaterial: die Ausweitung des syntaktischen Gebrauchs und in Verbindung damit der semantischen Struktur des jener-Demonstrativs hekeinos im Griechischen, von raum-zeitlicher Deixis zur Markierung der Gesprächssituation, zu anaphorischen Funktionen im Text bis hin zur kontrastiven Gliederung der Textstruktur. Methodisch kontrolliert er seine Analyse durch die der Konkurrenzformen (houtos, hode, autos u.a.), durch die Verknüpfung mit weiteren Markierungen (wie men-de u. dgl.) und analysiert für die etymologische Rekonstruktion auch die dialektalen Formen. Brugmann hatte die Arbeit auch betreut.
Nach der Promotion schloß er noch seine Lehrerausbildung (von 1905-1908) ab: mit der Ausbildung am Seminar in Koblenz, verbunden mit Unterrichtsstellen in Andernach und Jülich 1906, unterbrochen vom Militärdienst als »Einjähriger«. Im Anschluß daran ging er 1908 nach Berlin, um als beurlaubter Lehrer sein Studium fortzusetzen, insbesondere bei W. Schulze.[2] 1909 habilitierte er in vergleichender Sprachwissenschaft in Straßburg, 1913 wurde er nach Leipzig (auf Einladung von Brugmann) umhabilitiert. Die Habilitationsschrift »Untersuchungen zur Kasussyntax der indogermanischen Sprachen«[3] bemüht sich um ein erklärendes Begriffsraster für den Vergleich der syntaktischen Entwicklungen in den ie. Sprachen, das die relative Äquivalenz morphologischer und anderer syntaktischer Ausdrucksmittel (präpositionale Fügungen) zu fassen erlaubt (bes. für den Dativ untersucht). Er stellt ein umfangreiches Bezugssystem vor (getrennt für die untersuchten Hauptsprachen Sanskrit, Griechisch, Latein, Germanisch), das allerdings zumeist sekundären Quellen (vor allem Großwörterbüchern) entnommen ist; besonders berücksichtigt er dabei die Spiegelung der Entwicklungsdynamik am jeweiligen Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache, z.B. bei der Entwicklung vom Latein zu den Romanischen Sprachen und dem Verhältnis von Cicero zu Plautus, vgl. bes. S. 232-237. In systematischer Hinsicht zeigt er, daß der Umbau sprachlicher Systeme nicht auf interne Faktoren, neben den »Lautgesetzen« Restrukturierungen im Sinne der »Analogie«, reduzierbar ist, sondern nur im Zusammenspiel mit externen Faktoren der Sprachpraxis (insbesondere kulturellen Determinanten) erklärbar wird.
Im Ersten Weltkrieg war er zum Kriegsdienst an der Front (er wurde verwundet). 1915 erhielt er einen Ruf nach Bern als o. Professor für »Klassische Philologie und indogermanische Sprachwissenschaft«, weshalb er beim Militär entlassen wurde und die Stelle 1917 antreten konnte. 1920 wechselte er nach Würzburg, 1929 nach Breslau, 1937 nach Wien, wo er 1953 emeritiert wurde. Die Fragestellung seiner Habilitationsschrift verfolgte er systematisch weiter, wobei er psychologische Erklärungen für die gesprochene Sprache sprachhistorisch verwendete, so etwa zur fehlenden Rektionsintegration bei Extrapositionen: »Der sog. ›Nominativus pendens‹«.[4] Systematisch bemühte er sich darum, die psychologische Forschungsdiskussion aufzunehmen, so z.B. die damals modische Diskussion um sprachliche Fehlleistungen, s. »Sprachwissenschaft und Fehlerforschung«[5] (insbes. im Rückgriff auf die Arbeiten von Bühler).
Für die Diskussionen zum Sprachwandel kann seine Grundargumentation immer noch leitend sein, obwohl sie in den jüngeren Arbeiten weitgehend ignoriert wird: für ihn führt die Habitualisierung sprachlicher Muster dazu, daß diese opak werden, was wiederum ihre Reanalyse im Horizont neuer Formen der Sprachpraxis ermöglicht – also eine Argumentation, wie sie sich derzeit im Umfeld von Grammatikalisierungsforschung, pragmatisch orientierter Forschung (»usage based«), Konstruktionsgrammatik u. dgl. findet. Sein Buch von 1931 liefert mit dem umfangreichen bibliographischen Anhang (S. 209-270) einen instruktiven Forschungsbericht zur Tradition dieser Fragen. Für H. lag unter diesen Prämissen der Anschluß an die Neuerer im Umfeld von Wörter und Sachen nahe, und so bemühte er sich bes. um die Verbindung zur Volkskunde – unter expliziter Berufung auf seinen Lehrer W. Schulze, s. »Sprachwissenschaft und Volkskunde«,[8] wo er bes. den Konjunktivgebrauch (speziell Konj. Prät.) zur Distanzierung im Umfeld von »volkstümlichen« Taburitualen mit Parallelen aus den klassischen Sprachen betrachtete.
Ohnehin war das Feld religiöser Sprache, von Formen der Volksfrömmigkeit (oder Aberglauben) bis zu formalen Problemen im Missale Romanum, sein bevorzugtes Arbeitsgebiet, das ihn in Wien auch in Zusammenarbeit mit A. Pfalz brachte (der einen entsprechenden Lehrauftrag in der Germanistik hatte). »Sprache und Religion« ist auch der thematische Schwerpunkt der ersten FS, die er 1949 bekam (Die Sprache 1/1949), die seine internationale Wertschätzung gerade zu diesem frühen Nachkriegszeitpunkt zeigt (Beiträge u.a. von Benveniste und Whatmough). Dieses Arbeitsinteresse war wohl in seiner katholischen Religiosität begründet, die ihn zu einer Anlaufstelle für Studierende machte, die nach 1938 in Wien in religiöser Opposition zum Regime standen: bei ihm promovierten auch in dieser Zeit noch Ordensschwestern – (wobei der engagierte Nationalsozialist Pfalz weiterer Hauptgutachter war!). Solta berichtet von der großen persönlichen Fürsorge für die Studierenden, die im Hause H.s versorgt wurden. Als Institutsleiter hielt H. auch den persönlichen Kontakt zu dem verfolgten Jokl aufrecht (s. die Briefe in dessen Nachlaß). H. war so in der Position der »inneren Emigration«, die wohl auch erklärt, daß er 1937 in den Londoner Listen der Notgemeinschaft auftauchte (also vor seinem Antritt der Wiener Professur!), obwohl er zumindest institutionell in Wien anscheinend keine Schwierigkeiten hatte (so sein damaliger Assistent Solta): er war in die Geschäftsführung der Fakultät, u.a. bei Berufungsverfahren, regelmäßig einbezogen,[9] und auch der politisch gesäuberte »Kürschner« verzeichnet ihn 1941; s. auch die entsprechenden Bemerkungen von Kronasser im Vorwort des H. als FS gewidmeten Bandes Die Sprache 5/1959.[10] Vielleicht gab ihm seine Religiosität auch die Möglichkeit, die Verhältnisse distanziert zu betrachten – jedenfalls registrierten seine Veranstaltungsankündigungen keinerlei politische Veränderung: für das SS 1945 hatte er neben »Lateinische Etymologien« »Religion und Wortforschung« angekündigt, im WS 1945/1946 kündigte er die »Fortsetzung der Übungen über ›Religion und Wortforschung‹« an (s. Vorlesungsverz. der Univ. Wien).[11]
1950 wurde er in den Ruhestand versetzt, lehrte aber als Honorarprofessor noch bis zur Emeritierung 1953 weiter.
Q: V; LdS (Suppl. 1937): unplaced; Solta, in: NDB; DBE 2005; Hinweise von Solta; Nachruf v. H. Kronasser, in: Almanach der Osterreichischen AdW 111/1961: 364-368.
[2] Solta (pers. Mitteilung) vermutet, daß das Familienvermögen ihm eine solche relative Freiheit erlaubte. Der Vater war allerdings nur Lehrer.
[3] Straßburg: Trübner 1911.
[4] In: Idg. F. 43/1926: 207-257.
[5] In: FS J. Schrijnen 1929: 27-33.
[6] Heidelberg: Winter 1931.
[7] In: Lg. 10/1934: 32-39. Er rechnet H.s Unternehmen dort zu den vorwissenschaftlichen Beschäftigungen mit Sprache, geprägt von »fantastic psychology« und »superstitions«.
[8] In: Bl. z. bayer. Volkskunde 10/1925: 5-21.
[9] S. die entsprechenden Hinweise in dem Band von Ash u.a. (2010).
[10] »In schweren Jahren der Bedrohung geistiger Freiheit und in materieller Not haben Sie dem Namen eines Professors immer Ehre gemacht. Sie machten nie aus Ihrer wissenschaftlichen und weltanschaulichen Einstellung ein Hehl. So waren Sie unzähligen Studenten ein geistiger Führer und ein gütiger Vater«.
[11] Zum Inhalt dieser Veranstaltung s. z.B. seine wortgeschichtliche Studie »Lateinisch bonus ›gut‹«, in: Krahe, Hans (Hg.), »Corolla Linguistica. Festschrift für Ferdinand Sommer«, Göttingen: Hubert 1955: 69-72, wieder mit weitausgreifenden kulturvergleichenden Anknüpfungen zur grundlegenden religiösen Schicht im Wortschatz.