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Kahle, Paul

Geb. 21.1.1875 in Olsztynek/Polen (Hohenstein/Ostpreußen), gest. 24.9.1964 in Bonn.

 

In Nachrufen wird K. als der »Doyen« der neue­ren europäischen Orientalistik angesprochen (s. auch die zahlrei­chen Ehrungen, aufgeführt bei Spiess, Q: 359 und bei Wenig 1968), der für deren neue Epoche steht, die die rein philologische Haltung der Generation eines Nöldeke ablöste, die am Schreibtisch arbeitete, ohne die modernen Sprachen sprechen zu können. K. ver­band eine ungemein umfangreiche, philologisch-editorische Arbeit mit der Feldforschung in der ganzen Breite orientalistisch-islamkund­licher Sprachen und Kulturen (nicht nur semitischer Sprachen, son­dern auch des Türkischen); er lieferte sprachwissenschaftliche Beiträge genauso wie ethnologische und kulturgeschichtliche. Der Zugang zur Orientalistik war für ihn (nach dem Vorbild seines Va­ters, eines protestantischen Schulrates) das Theologiestudium, in dem er die Grundlagen für seine lebenslange Beschäftigung mit der älte­sten Überlieferung des Alten Testamentes fand. Anders als die bis dahin von der Judaistik bestimmte Sichtweise auf die hebräische Überlieferung, die von der späten Masorah,[1] der Etablierung des Tex­tes im Mittelalter, ausging, als der Text nur noch in einer toten Sprache genutzt wurde (in der sog. tiberischen Punktie­rung für die Aussprache, die im 8. Jhd. fixiert wurde), bemühte er sich um die Rekonstruktion der Überlieferung in der Zeit, als das biblische Aramäisch noch gesprochen wurde, als der Text also von der gesprochenen Umgangssprache aus noch er­reichbar war, und setzte das in der Aufbereitung von Überlieferungssträngen vor der späten Kanonisierung des Bibeltextes (im 10./11. Jhd.) fort. Diese Fragen beschäftigten ihn schon in seinem theo­logischen und orientalistischen Studium 1894-1898 in Marburg, Halle und Berlin. Das philologische Studium schloß er 1898 in Halle ab.

Seine Dissertation 1898 galt der aramäischen Übersetzungen des Pentateuch in Palästina (»Textkritische und lexikalische Bemerkungen zum samaritanischen Pentateuchtargum«)[2] – eine relativ kursorisch vorgehende philologische Arbeit (58 S.). Für den theologischen Abschluß hatte er bereits 1898 in Danzig das erste Lizenziats-Examen abgelegt, 1902 dann das zweite in Halle. Dafür legte er die Untersuchung einer vortiberisch vokalisierten Handschrift vor, die die Richtung seiner späteren großen Untersuchungen zur frühen Masorah zeigt: »Der masoretische Text des Alten Testamentes« (Leipzig 1902 – Betreuer der Arbeit war der Hebraist Kautzsch).[3] In Verbindung mit der Edition (S. 89-108) dieser in Berlin bewahrten ursprünglich jemenitischen Handschrift rekonstruiert er die unterschiedlichen Bearbeitungskampagnen mit verschiedenen Punktierungssystemen.[4] Eine erste Gesamtdarstellung auf der Basis der bis dahin zugänglichen Handschriften gab er in »Masoreten des Ostens. Die ältesten punktierten Handschriften des Alten Testaments und der Targume«,[5] die die verschiedenen Punktierungssysteme systematisch darstellt und sich mit ihrer Hilfe um eine Rekonstruktion der hebräischen Vorlage bemüht.

Nach dem theologischen Examen ging er zunächst in die praktische Seelsorge ins Ausland: 1902 nach Brăila/Ost-Rumänien, dann 1903-1908 als Geistlicher und Schulleiter der deutschen protestantischen Gemeinde von Kairo. Diesen Aufenthalt nutzte er, um intensiv Arabisch zu lernen und ethnographisch-volkskundliche Studien zu treiben (auch in Palästina). Einen Schwerpunkt bildete dabei das von ihm für die wissen­schaftliche Orientalistik geradezu erschlossene Schattentheater, von dem er auch später noch zahlreiche Texte veröffentlichte (s.u.). Es bildete auch die Grundlage für seine orientalistische Habilitation in Halle 1909 – die Antrittsvorlesung galt der Entstehung des Korans. In Halle vertrat er seitdem die Orientalistik als Privatdozent und betreute zugleich die Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG).

1914 wurde er bei einem Forschungsaufenthalt in Kairo vom Kriegsausbruch überrascht, mußte ausreisen und geriet vorübergehend in französische Kriegsgefangenschaft.[6] Im gleichen Jahr wurde er o. Professor der Orientali­stik der Univ. Gießen, 1923 an der Univ. Bonn. Er insistierte auf der Einheit der Orientalistik, mit der Einbeziehung Ostasiens, die er auch als Leiter der Institute in Gießen und Bonn betrieb. In dieser Hinsicht hatte er offensichtlich die Unterstützung des Preußischen Kultusministeriums (s. den Nachruf Fück, Q), in Abstimmung mit dem er schon 1921 die Leitung der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft übernahm und deren Zeitschrift er seit 1933 herausgab.

Auf seinen Kairo-Aufenthalt ging sein zweiter großer Arbeitsschwerpunkt zurück, die Arabistik. Als »Seiteneinsteiger« begann er mit Arbeiten zum heute gesprochenen Arabischen. Seine 1909 publizierte Habilitationsschrift »Zur Geschichte des arabischen Schattentheaters in Egypten«[7] enthält die Edition einer von ihm in Kairo von einer Schattenspielerfamilie erstandenen handschriftlichen Textsammlung. Die Texte edierte er in arabischer Umschrift und versah sie mit sprachlichen und textkritischen Anmerkungen, außerdem gab er eine Übersetzung mit kulturkundlichen Kommentaren bei. Der umfangreiche Einleitungsteil zeigt außer einer umfassenden kulturgeschichtlichen Einordnung des Schattentheaters seine Freude an ethnographischer Forschung, mit einer Rekonstruktion der Familien- und Zunftverhältnisse der von ihm persönlich kontaktierten Schattenspieler. Daß diese aus Algerien zugewandert waren, war für K. Anlaß zu Ausführungen über das Verhältnis von Ägyptisch und Maghrebinisch.

Ähnlich angelegt war seine zweite Arbeit »Die Aulâd-cAli-Beduinen der libyschen Wüste«,[8] in der K. zwei in der Arabistik bereits tradierte beduinische Liedertexte neu bearbeitete, indem er sie mit einem Sprecher aus Libyen kritisch durchging, der als Schausteller in einem Hamburger Zoo arbeitete. Die Edition dieser Texte nahm er aufgrund des Diktats dieses Sprechers in einer phonetischen Umschrift vor, die es ihm dann auch ermöglichte, sie ausführlich sprachgeographisch zu analysieren, als Dokumente der Übergangszone von Maghreb-Maschriq.

Ebenfalls noch vor dem Ersten Weltkrieg begann er die sprachliche Bearbeitung einer Sammlung von bäuerlichen Erzählungen aus Palästina, die sein Freund und Mit-Theologe Hans Schmidt aufgenommen hatte: »Volkserzählungen aus Palästina, gesammelt bei Bauern von Bir-Zet und in Verbindung mit Dschirius Jusif herausgegeben«.[9] Die Texte edierte er in phonetischer Transkription und extrapolierte aus ihnen eine umfangreiche Dialektgrammatik (Bd. 1: 45*-93*); Bd. 2 liefert ein nach Wurzeln geordnetes Lexikon der Textbelege (dort S. 204-245). Eine systematische Fortsetzung fand diese Unternehmung später durch J. Blau, der K. auch für seine Unterstützung dankte (s. bei diesem).

Im Kernbereich der philologisch ausgerichteten Arabistik stehen seine späteren Arbeiten zum Qur'an (Koran), auch hier wieder auf die mündliche Praxis der Qur'anrezitation ausgerichtet. Ebenso kann er sich wieder auf die relativ alten Handschriften seiner Kairoer Genizah-Funde stützen (s.u.) und damit die Handbuchdarstellungen der Arabistik zur Sprache des Koran relativieren, die in der Regel auf die normierteren jüngeren Handschriften gestützt sind, s. sein »The Qur’an and the cArabīya«.[10]

Sein Hauptarbeitsgebiet blieb die Beschäftigung mit der Überlieferung des Alten Testamentes. Hier wandte er sich gegen die »kritische« Philologie des 19. Jahrhunderts, die auch für die Bibel einen Urtext rekonstruieren wollte, dessen Konzept für ihn ein Anachronismus ist, da eine solche Vorstellung erst das Produkt der späteren philologischen Bearbeitung ist. Demgegenüber insistierte er auf der genauen Aufarbeitung der vielfältigen Überlieferungen mit ihren spezifischen Formaspekten. Dabei vertrat er die nicht nur von jüdischer Seite bestrittene These, daß die masoretischen Punktierungssysteme eine jüdische Replik auf das arabische System vokalischer Diakritika der islamischen Koran­philologie seien.

Zur unumstrittenen Autorität der Hebraistik wurde er mit seinen Untersuchungen und Editionen der vortiberischen Manuskripte, die sich am Ende des 19. Jhdts. in der Rumpelkammer (Ge­nizah) der Alten Synagoge in Kairo fanden:[11] in ihnen fand er die älteren Punktierungssysteme, s. z.B. »Masoreten des We­stens II. Das palästinensische Pentateuchtargum. Die palästinensi­sche Punktuation. Der Bibeltext von Ben Naftali«,[12] mit einer um­fangreichen Edition und kodikologischen Beschreibung der Fragmente (im Tafelteil abgebildet). Diese Arbeiten machten ihn zu einer Autorität in der Bibelphilologie, wie seine Mitherausgabe der Stuttgarter Bibel zeigt, die aufgrund seiner Vorarbeiten eine philologisch differenzierte Bearbeitung der Masorah (auf der Basis der älteren Rezension des Ben Ascher, s.u.) ermöglichte.[13] Die von ihm begründete Revision der biblischen Textgrundlage deutet sich in den einleitenden Bemerkungen in Bergsträssers Grammatik[14] schon an; sie ist durch seine Aufarbeitung der unterschiedlichen Schriftsysteme inzwischen grundlegend für neuere orthographietheoretisch ausgerichtete Arbeiten schlechthin geworden.[15]

Er hatte die in der Kairoer Genizah seit 1890 wieder zugänglich gewordenen Materialien schon bei den Quellenstudien für seine Dissertation in Leningrad genutzt und hatte dann mit ihnen in mehreren Englandaufenthalten systematisch gearbeitet: zuerst bei einem Aufenthalt in Oxford und Cambridge 1899, dann nach seinem Ägyptenaufenthalt 1911 und wieder nach dem Weltkrieg in mehreren Aufenthalten seit 1925. Dabei machte er den Unterschied deutlich zwischen der Orientierung an einem für die religiöse Praxis maßgeblichen Text (eben der der späteren Masorah, die nicht zuletzt auch für die moderne Aussprache des Hebräischen, vor allem bei den Aschkenazim, maßgeblich geworden ist) und einer wissenschaftlich-historischen Analyse der Genese eben dieser sprachlichen Form. Im Sinne einer sprachgeschichtlichen Rekonstruktion sind für ihn die frühen palästinensischen Manuskripte aus dem ersten und zweiten Jahrhundert autoritativ, aus einer Zeit, in der das Hebräische noch als gesprochene Sprache erreichbar war.

Eine Bestätigung für seine Analyse findet er in der systematischen Auswertung einer parallelen Überlieferung, vor allen Dingen auch in den volkssprachlichen Adaptierungen und Übersetzungen, sowohl der aramäischen Tradition (im religiös-konfessionellen Kontext, also der altsyrischen Überlieferung) wie auch der griechischen (insbesondere der in Ägypten entstandenen Septuaginta). Zur Erklärung der späteren Masorah (also der Kanonisierung des Textes durch die Ben Ascher-»Dynastie« im 8.-11. Jhd.) verweist er auf den Modellcharakter der gleichzeitigen Praxis der Qur'anphilologie. Diese etablierte gewissermaßen als Vorbild ein ideales sprachliches Modell, orientiert an dem beduinischen Arabischen der Halbinsel in der Auseinandersetzung mit dem Arabischen der schiitischen prophetischen Überlieferung (S. 78ff., zusammenfassend S. 108-111). Nicht ohne Stolz verweist er wiederholt im Buch auch auf die Anerkennung, die seine Revision der hebräischen Sprachgeschichtsschreibung inzwischen gefunden hat (z.B. durch seinen früheren Kritiker Bergsträsser, S. 64).

Analytische Folie für seine Aufbereitung der verschiedenen Überlieferungsschichten ist seine auf die Kairoer Genizah-Funde gestützte Annahme einer in der Frühzeit des Christentums noch von der jüdischen ungetrennten Schicht von »Vulgärtexten«, die griechisch verfaßt waren, die später im Judentum (nicht aber im Christentum) durch die hebräisch orientierte neue Textbearbeitung der Masoreten verdrängt wurde, s. »Der gegenwärtige Stand der Forschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften«.[16] Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten revidierte er auch die Auffassungen zur Überlieferung der Septuaginta, die in der Tradition von Lagarde im großen Göttinger Septuaginta-Projekt bis dahin auf eine postulierte hebräische Vorlage zurückgeführt worden war. Seine aus diesen Befunden rekonstruierte Überlieferung des hebräisch-aramäi­schen Textes ist später durch die am Roten Meer (Qumran) gefun­denen Schriftrollen glänzend bestätigt worden, wie er selbst in Aufsätzen dazu ausgeführt hat. Auch die jüdische Bibelphilologie hat seine herausragende Rolle dabei gewürdigt, etwa von Goshen-Gotthenstein (s. dessen »Text and Language in Bible and Qumran«, 1960: X) und insbesondere den Artikel »Masorah« in der Encyclopedia Judaica.[17] Seine kritische Position zur Septuaginta bleibt dagegen bis heute umstritten.

Die Genizah-Funde boten ihm auch die Grundlage, sein Interesse an der gesprochenen (Volks-)Sprache in der historischen Rekonstruktion zu verfolgen, indem er die in der aramäischen Volkssprache fundierten aramäischen Targume (also Übersetzungen/Adaptierungen) entsprechend auswertete. Während die Tradition der »Schreibtischforscher« in der Theologie die grundsätzliche Differenz von gesprochener Umgangssprache und Schriftsprache in der Regel nicht berücksichtigte, extrapolierte er die für Palästina zur Zeit Jesu anzusetzende aramäische Umgangssprache und grenzte sie von der aus dem Persischen Reich überlieferten aramäischen Kanzleisprache ab (»Das zur Zeit Jesu in Palästina gesprochene Aramäisch«).[18] Die Fortführung seiner Arbeiten in diesem Feld konnte er erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufnehmen, als seine in Deutschland zurückgelassenen Quellen wieder für ihn zugänglich wurden.

Sein Forschungshorizont ging aber erheblich über diesen Gegenstandsbereich hinaus, den er von seiner theologisch-philologischen Ausbildung her mitgenommen hatte. Seit Mitte der 20er Jahre arbeitete er zur türkisch-osmanischen Kultur, vor allem durch die 1926 begonnene Edition eines türkischen Segelhandbuchs von 1521»Piri Re'îs Barḥrîje. Das türkische Segelhandbuch für das Mittelländische Meer vom Jahre 1521«.[19] Bd. 1 enthält die kritische Edition aufgrund der Kollationierung der erhaltenen fünf Handschriften, Bd. 2 die Übersetzung und Erläuterungen, die vom Sprachlichen über allgemein Historisch-Kulturelles bis zum Kartographischen der in den Handschriften überlieferten Karten gehen. Diese Arbeit bildete den Anfang einer ganzen Reihe von Studien zur frühen (nicht nur islamischen) Geographie, die sich in späteren Untersuchungen vor allem auch auf die Chinakenntnisse der Frühen Neuzeit erstrecken. Seine kulturkundlichen Arbeiten zu China, insbesondere in den türkischen Überlieferungen, sind in seinen »Opera Minora«[20] wieder abgedruckt, neben zahlreichen volkskundlichen und wissenschafts- bzw. technikgeschichtlichen Arbeiten (etwa zum Porzellan, zur Gesteinskunde, zur Historiographie u. dgl.), s. auch seine »Studien zur Geschichte und Kultur des nahen und fernen Ostens«.[21]

Er befaßte sich aber auch systema­tisch mit der neueren Sprachwissenschaft, vor allem in England, wo er Kontakte zu J. R. Firth und Phonetikern hatte (s.u. seine auto­biographische Schrift »Bonn University«, S. 20-21). Im Spektrum der Bei­träge in den unten genannten Festschriften spiegeln sich der Hori­zont seiner Forschungen und die beeindruckende Anzahl seiner pro­minenten Schüler, die er wie etwa den Hebraisten A. Sperber (zeit­weise sein Assistent in Bonn) vor allem auch in die ungemein breit gespannte editorische Arbeit einbezog. Auf der Basis dieses weiten Forschungsfeldes war er eine der großen Autoritäten der Orientalistik, wie sich z.B. auch darin zeigt, daß er 1938 (als offizieller Teilnehmer der deutschen Delegation) die Dankesrede im Namen der Teilnehmer beim 20. Internationalen Orientalistenkongreß in Brüssel hielt – auf Deutsch, mit deutlichen Untertönen, die die internationale Völkerverständigung anmahnen.[22]

In Bonn war K. nicht nur eine wissenschaftliche Autorität, indem er als Direktor das Orientalische Seminar systematisch ausbaute. Für das (protestantische) Preußische Kultusministerium war er of­fensichtlich der Vertrauensmann im katholischen rheinischen »Klün­gel«, der wegen seines Einflusses entsprechend viele Feinde (bzw. Neider) hatte. In der Orientalistik hatte er eine dominante Stellung, für die er seine Funktion in der DMG nutzte, die ihn zu einer Schlüsselfigur in der Wissenschaftspolitik (auch beim REM nach 1933) und vor allem auch der Forschungsförderung (bei der Notgemeinschaft) machte.[23] Aufgrund seiner national-konservativen Einstellung hatte K. zunächst auch keine Probleme mit dem Machtwechsel in der Politik: 1934 unterzeichete er ein „Bekenntnis der deutschen Wissenschaft zu Adolf Hitler als Staatsführer" (s. Ellinger 2006: 50). Als das REM 1935 nicht zuletzt unter politischen Aspekten eine Restrukturierung der philologischen Fächer im Sinne dessen anging, was in den USA »area studies« genannt wird, war K. für die Leitung eines geplanten Orient-Instituts in Berlin vorgesehen.[24]

Mit der Macht­übergabe an die Nazis hatte sich aber diese Konstellation geändert, weil die Fronten jetzt rassistisch artikuliert wurden.[25] Die Versetzung nach Berlin kam wegen politischer Widerstände aufgrund von K.s Beschäftigung jüdischer Mitarbeiter in Bonn nicht zustande. Politisch war K. extrem konservativ (s.o.), sodaß er 1945 für die Reedukation auch den Rückgriff auf die Burschenschaften und vor allem deren alte Herren empfahl (in Verbindung allerdings mit dem von ihm zugleich als vorbildlich empfundenen englischen Parlamentarismus). Für die Nazis und vor al­lem die von ihm mit sarkastischen Bemerkungen bedachten opportuni­stischen Parteigänger unter seinen akademischen Kollegen hatte er nichts übrig – aber aus seiner politischen Einstellung heraus hatte er wohl auch keine Probleme, die elitäre SS mit einem erheb­lichen Förderbeitrag zu unterstützen[26] – was ihm zunächst die Partei vom Hals hielt. Seine elitäre und anti-antisemitische Haltung war Parteifunk­tionären des NS-Dozenten- und des NS-Studentenbundes ein Dorn im Auge: er beschäftigte an seinem Institut auch weiterhin Juden als Mitarbeiter (J. Lewy, A. Sperber) und promovierte sie (z.B. L. Goldberg), wobei ihn seine Prominenz zunächst unangreifbar machte.

Das wurde mit einer offenen Kampagne gegen ihn und seine Familie anders, nachdem seine Frau und seine Söhne in der Nacht nach dem Novemberpogrom 1938 beobachtet worden waren, wie sie einer Jüdin in der Nachbarschaft beim Aufräumen des verwüsteten Geschäftes halfen. Eine öffentliche Kampagne wurde inszeniert (u.a. mit einem Artikel in der Parteizei­tung Westdeutscher Beobachter), seine Veranstaltungen wurden von den Studenten boykottiert. K. selbst bekam schließlich Hausverbot (Marie K. beschreibt drastisch und bitter das Verhalten der lang­jährigen z.T. freundschaftlich verbundenen Kollegen, die dem, ohne ein Wort zu sagen, zusahen). Das Reichserziehungsministerium in Berlin versuchte offensichtlich, K. abzuschirmen, indem es ihn für das WS 1938/1939 und SS 1939 beurlaubte, zugleich aber die Univ. Bonn anwies, K. bei seinen Forschungen nicht zu behindern.[27]

Die Familie hielt den wachsenden Druck von Gestapo­verhören und randalierenden SA- und Studentenhorden nicht aus (zeitweilig flüchtete die Familie in ein Kloster). K. hatte zunächst formal einen Antrag auf Entpflichtung beim Ministerium gestellt (s. Heiber 1991: 221). Als auch enge Verwandte die Beziehungen zur Familie abbrachen, gegen den Sohn ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde und weitere Repressionen drohten, verließ die Familie vor Abschluß des dienstrechtlichen Verfahrens Deutschland, indem sie eine Urlaubsreise in die Niederlande vortäuschte, um nach England zu emigrieren (Pässe und sogar De­visen konnten sie mit Unterstützung der Behörden beschaffen). Daraufhin wurde er wegen »disziplinwidrigem Verhalten« (ohne Fortzahlung von Bezügen) entlassen. 1941 wurde er offiziell ausgebürgert und ihm seine akademischen Titel aberkannt.

In England war die Familie weitgehend mittellos. K. hatte seine Bibliothek und Arbeitsmittel zurücklassen müssen. Zunächst hatten die Kahles auch mit Irritationen bei den Flüchtlingskomitees gegenüber Emigranten zu kämpfen, die keine Juden waren. Fachkollegen verschafften K. eine Ar­beitsmöglichkeit an der Universitätsbibliothek Oxford und dem British Museum bei der Katalogisierung orientalischer Handschrif­ten; u.a. bearbeitete er die Bibel-Handschriften (Papyri) des privaten Sammlers A. Chester Beatty. Dabei stand er in Verbindung mit anderen Emigranten wie z.B. Mittwoch, F. Rosenthal u.a.[28] Bei der Beschäftigung mit dem Aramäischen kooperierte er auch mit W. B. Henning. Anderen Emigranten gegenüber konnte er aber auch seine autoritative Stellung herauskehren, wie z.B. gegenüber G. Zuntz, der ebenfalls über Papyri aus der Beatty-Sammlung arbeitete.[29]

Seine Lehrtätigkeit hat er aber erst nach dem Krieg – nach seiner Emeritierung – 1947 wieder in zahlreichen Gastprofessuren aufnehmen können (Bonn, Halle, Münster, später dann auch in Lon­don).[30] 1963 kehrte K. endgültig in die BRD zurück, wo er 1964 von der Universität Bonn (so Bleck und Tersch, Q), wohl vor allem unter dem Druck der Öffentlichkeit, in der der »Fall Kahle« disku­tiert wurde, »rehabilitiert« wurde[31] – vorher hatte es dort in der Professorenschaft erhebliche Widerstände gegen die Wiederaufnahme eines Kollegen gegeben, der durch sein Buch (1945) als »Nestbeschmutzer« diskreditiert war. K. behielt denn auch seine im Krieg erworbene britische Staatsbürgerschaft und auch den Wohnsitz in England bei. Seine Haltung zu diesen Dingen charakterisiert die Schlußbemerkung im Vorwort seines Oxforder Genizah-Buches von 1947: »I dedicate this book to my wife. Her noble action resulted in our leaving our home country and losing everything we possessed. Her special intuition linked with energy enabled us to escape and to settle in this country«.

Q: NDB; BHE; Wenig 1968; O. Spieß, P. K., in: »Bonner Gelehrte 1970«: 350-353; H. S. Nyberg, P. K., in: M. Black/G. Fohrer (Hgg.), »In Memoriam P. K.«, Berlin: Töpelmann 1968: 1-2; Nachruf von Johann Fück in Z. dt. Morgenländ. Ges. 1966, H. 1: 1-7; W. Bleek, »P. K.«, in: Portal Rheinische Geschichte (http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/K/Seiten/PaulKahle.aspx abgerufen am 15. April 2013). Autobiographisches in »Bonn University« (1945), s. Anm. 25, Ms. der deutschen Übersetzung mit umfang­reichem Anmerkungsteil von W. Bleck/Th. Tersch, ca. 1966, im Archiv d. IfZ, München (Ms 227). Bibliographien in: W. Heffening/W. Kirfel (Hgg.), »Studien zur Geschichte u. Kultur des Nahen und Fernen Ostens« (FS zum 60. Geburtstag), Leiden: Brill 1935: 225-231; erweitert in den »Kleinen Schriften« (FS zum 80. Geburtstag): »P. K.: Opera minora«, Leiden: Brill 1956: xi-xviii; Marie Kahle, »Die Flucht der Familie Kahle aus dem Nazi-Deutschland«, dt. Übersetzung des engl. Ms. von 1945 (Ms. IfZ, München), inzwischen erschienen als: John H. Kahle (Hg.), Marie Kahle: »Was hätten Sie getan?: Die Flucht der Familie Kahle aus Deutschland«, Bonn: Bouvier 1998;[32] Hanisch 2001: 41; E/J 2006; Ellinger 2006; DBE 2005.



[1] Hebr. Masorah »Überlieferung, Tradition«, speziell auch für die Überlieferung des biblischen Textes. Zu unterscheiden von einem Targum, einer Übersetzung, wozu z.B. auch die griechische Version des A.T., die Septuaginta, gehört.

[2] Halle/S.: Drugulin 1898. Samaritanisch beeichnet eine späte Variante des Aramäischen, die in den Targumen genutzt wurde, seit das Hebräische nicht mehr gesprochen wurde (und die später in dieser Funktion ihrerseits von arabischen Übersetzungen abgelöst wurde).

 

[3] Nachgedruckt: Hildesheim: Olms 1966.

[4] Die unterschiedlichen Punktierungssysteme reagieren darauf, daß die hebräischen Handschriften traditionell die vokalischen Silbenkerne nicht notierten. Um in einer Zeit, in der das Hebräische nicht mehr gesprochen wurde, diese Handschriften lesbar zu machen, bildeten sich unterschiedliche »Vokalisierungssysteme« heraus, in der älteren Zeit schon durch die Umnutzung von Konsonantenzeichen, einerseits den »Halbkonsonanten«, die im Silbenendrand ohnehin vokalisch waren (jot, wau), sowie ungenutzten »verstummten« konsonantischen Zeichen (alif, he). In späterer Zeit entwickelten sich dann die Systeme von Hilfszeichen, die K. im engeren Sinne analysierte, in unterschiedlichen Traditionen entweder supralinear oder infralinear geschrieben. Seit dem 8. Jahrhundert wurden sie durch ein neues System (infralinear) ersetzt, das (nach seinem Ausgangsort Tiberias [Palästina] benannt) das für die spätere Bibelphilologie maßgebliche masoretische System wurde.

[5] Leipzig: Hinrich 1913.

[6] S. dazu seinen anekdotischen Bericht »Kriegserlebnisse in Ägypten und in französischer Gefangenschaft«, in: Palästinajahrbuch d. Dt. ev. Inst. f. Altertumswissen. d. hl. Landes 11/1915: 169-178, in dem er sich als patriotischer Deutscher zeigt, der auch die Kriegsbegeisterung seiner Landsleute teilt.

[7] Leipzig: Haupt 1909 – als Band 1 einer von ihm herausgegebenen Reihe »Neuarabische Volksdichtung aus Egypten«.

[8] In: Der Islam 4/1913: 355-386.

[9] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Bd. 1/1918, Bd. 2/1930.

[10] In: »Goldziher Memorial Volume«, Budapest 1948, Bd. 1: 163-182.

[11] Die Genizah ist eine Einrichtung jüdischer Synagogen, die auf die Scheu vor der Profanierung von Texten zurückgeht, in denen der Name Gottes vorkommt. Solche Texte werden rituell begraben. Bis dahin werden sie in der Genizah verwahrt – und oft vergessen, da die Genizah ein in der Regel unzugänglicher Raum ist.

[12] Stuttgart: Kohl­hammer 1930 (= Bd. 4 der von ihm hg. Texte und Untersuchungen zur masoretischen Grammatik des Hebräischen, in den von R. Kittel hg. Beitr. zur Wiss. vom Alten u. Neuen Testament).

[13] »Biblia Hebraica Stuttgartensia, quae antea cooperantibus A. Alt, O. Eißfeldt, P. Kahle editerat R. Kittel«, 1927ff., 4. Neubearbeitung Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1967; zu K.s Rolle bei diesem Unternehmen, s. z.B. Vorwort V. Auf K. geht es zurück, daß dieser Ausgabe die Leningrader Handschrift zugrundeliegt, während die Jerusalemer Bibel sich auf den Aleppo Codex stützt, s. bei Dotan und auch bei Ben-Hajjim.

[14] G. Bergsträsser, »Hebräische Grammatik. Teil I: Einleitung, Schrift- und Lautlehre«, Leipzig 1918 (Repr. Hildesheim: Olms 1985).

[15] Eine handbuchartige Darstellung der Forschungslage, in die er die Entwicklung seiner eigenen Arbeiten integriert, hat er gegeben in »The Cairo Geniza«, London: Cumberledge (British Academy) 1947.

[16] In: Theologische Literaturz., Jg. 1954, H. 2: Sp. 81-94; zu 1952 neu entdeckten Codices.

[17] Zu einer kritischen Einschätzung von K.s Rekonstruktion auf der Basis der Genizah-Funde, s. etwa J. Blau, »Grammar of Biblical Hebrew«, Wiesbaden: Harrassowitz 1976, bes. S. 143 mit Verweis auf Ben-Hajjim.

[18] In: Theologische Rundschau 17/1948: 201-216.

[19] 2 Bde., Berlin: de Gruyter 1926. Piri Re'is (ca. 1465-1554) war ein türkischer Admiral und Korsar, der u.a. Seekarten sammelte. Ktab-i bahriye (»Buch der Seeangelegenheiten«) ist sein Hauptwerk.

[20] Leiden: Brill 1956.

[21] Leiden: Brill 1935, zu seinem 60. Geburtstag hgg. von W. Heffening und W. Kirfel.

[22] S. die »Actes« des Kongresses, Löwen: Muséon 1940: 30-32.

[23] Vor allem Vertreter der kleinen Fächer ohne großen institutionellen Rückhalt wie z.B. die Sinologie fühlten sich davon bedroht, deutlich z.B. in der jetzt publizierten Korrespondenz von W. Fuchs, s. bei diesem.

[24] S. Hanisch 2001 (Q) und L. Hanisch 1995: 220 und FN 37 u. 38.

[25] Das Folgende stützt sich auf K.s autobiogra­phische Darstellung »Bonn University in Pre-Nazi and Nazi-Times (1923-1939). Experiences of a German Professor« (London: Selbstverlag 1945) – und die in der anekdotischen Detailliertheit und der Offenlegung persönlicher Verhaltensweisen sehr viel drastischere Darstellung seiner Frau Marie (Q).

[26] S.u. bei M. Kahle (Q): S. 78 Anm.

[27] Marie K. (Q): S. 78-79 Anm.

[28] Bei der Nutzung griechischer Quellen und Fragen der Antike arbeitete er mit P. Maas zusammen (s. das Vorwort des Genizah-Buches von 1947).

[29] S. »The Chester Beatty Manuscript of the Harkean Gospels«, in: »Miscellanea Giovanni Mercat«, Bd. VI, Vatikanstadt: Bibliotheca Apostolica Vaticana 1946: 208-233 (= Studi e Testi 126). Dort wirft er Zuntz vor, er sei unfähig, den syrischen Text zu verstehen, sodaß er »nonsense« fabriziere (232). S. dazu bei 01Zuntz.

[30] Er kam gleich 1948 zu einer Vortragsreise nach Deutschland (mit Gastvorträgen an den Universitäten Bonn, Halle, Marburg und Münster); der oben genannte Text (Theologische Rundschau 1948) entspricht seinem dabei gehaltenen Vortrag.

[31] S. den Bericht über einen entsprechenden »Festakt« im Dezember 1966 in Bonn in der Süddeutschen Zeitung v. 15.12.1966.

[32] Ergänzt um den Abdruck einer Reihe von Dokumenten und privaten Fotografien.