Neumann, Hans
Geb. 10.4.1903 in Bielefeld, gest. 9.2.1990 in Göttingen.
Nach dem Abitur 1923 in Bielefeld Studium der Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Theologie in Tübingen, Berlin und Münster. 1931 promovierte er in Berlin bei Hübner, bei dem er zunächst als Privatassistent tätig war; später war er regulär am Germanischen Seminar in Berlin angestellt. Als Hübners Assistent arbeitete er auch am Deutschen Wörterbuch der Akademie der Wissenschaften in Berlin, wo er nach und nach eine Schlüsselrolle bekam: Hübner schreibt dazu im Vorwort zum letzten Teilband des 1935 abgeschlossenen Bandes IV: »Innerhalb der Arbeitsstelle hat die nach Umfang und Gewicht weitaus bedeutsamste Arbeit H. N. geleistet, einer meiner besten und mir am nächsten verbundenen Schüler«.[1] Für seine breiten sprachwissenschaftlichen Interessen spricht, daß Hübner ihn als Studenten (im Vorwort: cand. phil.) beauftragte, die verschiedenen Lautschriftsysteme zusammenzustellen, die in der deutschen Dialektologie genutzt wurden.[2]
Da N. seinen Arier-Nachweis nicht vollständig erbringen konnte (unklar blieb die Abstammung einer Großmutter), konnte er seine akademische Laufbahn nicht fortsetzen. Seit 1931 unterrichtete er schon mit einem Lehrauftrag am Germanischen Seminar in Berlin, aber die für 1934 geplante Habilitation kam nicht zustande,[3] und auch eine reguläre Einstellung bei der Akademie war ausgeschlossen, wo er nur noch als freier Mitarbeiter auf Honorarbasis am Wörterbuch weiter beschäftigt wurde (was in den späteren Jahren zu Konflikten führte, die im Archiv der Akademie belegt sind). Immerhin publizierte die Akademie 1935 noch die Dissertation (s.u.). In den folgenden Jahren lebte N. zeitweise in Rumänien, wo seine damalige rumänische Frau als Lehrerin tätig war. In dieser Zeit bemühte er sich auf verschiedenen Kanälen um eine Emigrationsmöglichkeit (u.a. nach Brasilien und in die Schweiz), und auch das Londoner Hilfskomitee suchte für ihn nach einer Emigrationsmöglichkeit (s. die LdS). Während eines Aufenthaltes in Deutschland 1941 wurde er aber als »wehrpflichtiger Mischling« eingezogen und geriet bei Kriegsende in US-amerikanische Gefangenschaft.
Nach der Entlassung ging er nach Göttingen, wo er seit 1946 als »Hilfsassistent« beschäftigt war und 1947 mit einer (ungedruckten) Arbeit über Mechthild von Magdeburg habilitierte. 1948 erhielt er dort eine germanistische Professur, nachdem die Göttinger Wunschkandidaten unter den germanistischen Großkopfeten abgelehnt hatten (s. dazu Hunger 1987). In Göttingen betrieb er den Aufbau einer eigenen Arbeitsstelle des deutschen Wörterbuches, das parallel zu der Berliner Arbeitsstelle arbeitete. Zuletzt war er auch Vorsitzender der gemeinsamen Kommission dieses Unternehmens, das 1960 zunächst abgeschlossen wurde und dann mit der Neubearbeitung der ersten Bände begann.[4]
Persönlich betroffen reagierte er auf Kritiken dieses Unternehmens, besonders dann, wenn sie dieses in einen politisch reaktionären Kontext stellten, wie es W. Boehlich in einer Kritik tat, s. (gemeinsam mit Th. Kochs) »Religion-ja, Manöver-nicht«,[5] wo er aber durchaus Probleme mit dem im 19. Jahrhundert festgelegten Editionsplan einräumt, insbesondere in Hinblick auf die Aufnahme von »Fremdwörtern«. In ähnlicher Weise wie beim Wörterbuch hatte er eine maßgebliche Rolle bei dem großen Verfasserlexikon »Die deutsche Literatur im Mittelalter«.[6]
Sein wissenschaftliches Profil ist schon bei der Dissertation deutlich, der philologischen Untersuchung eines Lehrgedichts vom Ende des 14.Jhdts. (Verfasser: Johannes Rothe): »Das Lob der Keuschheit. Sprachgeschichtliche Untersuchungen«.[7] Diese Arbeit (wie auch die parallele Edition) erweist ihn als Philologen mit traditioneller methodischer Weite: die literarischen Untersuchungen (Argumentationsform, Topoi u. dgl. des Lehrgedichts im Vergleich mit der spätmittelalterlichen moralischen Literatur) nehmen den größten Umfang der Arbeit ein (S. 19-158 von den insgesamt 246 S.). Abgesehen davon, daß N. auch hier eine sorgfältig an der sprachlichen Form kontrollierte Stilanalyse betreibt, präsentierte er sie auch in seiner Selbstanzeige in der Germ.-rom.-Ms.[8] als sprachwissenschaftlichen Beitrag zur »Geschichte der mitteldeutschen Schriftsprache«. Als solche repräsentiert sie ein methodisch-theoretisch fortgeschrittenes Problembewußtsein, vor allem durch die sorgfältige Reflexion von »normativ« bestimmter Schreibpraxis, die einem direkten Rückschluß auf die gesprochene Sprache und damit einer unmittelbar dialektologischen Interpretation des graphischen Befunds im Wege steht.
Aktualität hat die Arbeit auch durch ihre Berücksichtigung der »Textsortenspezifik« der graphischen Form: der Vergleich der literarischen Texte (bes. ihrer »Reimgrammatik«) mit autographen Urkunden des auch als Kanzleischreiber tätigen Rothe weist die unterschiedliche Art editorisch-normativer Kontrolle der Schreibungen in den verschiedenen Texten nach (in der Kanzleisprache ist Rothe gegenüber »Regionalismen« viel zensierter als bei seinen literarischen Produkten). Das ist sowohl gegenüber der naiven Idealisierung eines Sprechers/Schreibers wie gegenüber einer unmittelbaren Reduktion von Geschriebenem auf Gesprochenes ein avanzierter Standpunkt. Den sprachwissenschaftlichen Rang dieser Arbeit unterstreicht auch die Tatsache, daß Wolfgang Fleischer sie noch 1970 als methodisch vorbildlich in der Erforschung der schriftsprachlichen Verhältnisse herausstellte.[9] Im Vorwort zu dieser Arbeit (datiert »Neujahr 1934«) findet sich der Hinweis auf seine problematisch werdenden Lebens- und Arbeitsumstände, indem er für die Druckverzögerung seit der Fertigstellung im Jahre 1931 »äußere und innere Gründe« anführt (S. VII).
Die wissenschaftliche Ausrichtung der Dissertation bestimmte auch seine späteren Arbeiten in einer ganzen Reihe von philologischen Einzelstudien zu spätmittelalterlichen Texten, insbesondere im Bereich der moralischen bzw. Lehrdichtung, in dem auch sein Hauptarbeitsgebiet Mechthild von Magdeburg angesiedelt ist. Sein dieser gewidmetes Magnum Opus ist 1990-1993 postum erschienen: »Mechthild von Magdeburg ›Das fließende Licht der Gottheit‹«.[10] Krankheitsbedingt hat er selbst die Arbeit der Fertigstellung der Edition in den letzten Jahren an eine Mitarbeiterin delegieren müssen (G. Vollmann-Profe). Die Ausgabe verfährt strikt positivistisch: sie reproduziert den wichtigsten Textzeugen, eine spätere Handschrift aus Einsiedeln (in einer Baseler Schreibsprache), kollationiert alle Varianten der vielfältigen, aber nur oberdeutschen Überlieferung, und bietet die Anhaltspunkte für die Rekonstruktion des mutmaßlichen mittelniederdeutschen Originals nur im Kommentarband.
Dabei macht N. die Schwierigkeiten einer solchen Rekonstruktion deutlich: Mechthild schrieb im elbostfälischen Sprachraum, der ohnehin eine sprachliche Übergangszone bildete, die offen für hochdeutsche Einflüsse war, und stand zudem unter dem kulturellen Einfluß des rheinischen Raumes mit niederländischen Einflüssen, die für die devotio moderna charakteristisch sind. So lassen sich auch aus den Reimformen und anderen Parallelismen keineswegs direkt mittelniederdeutsche Vorlagen rekonstruieren. In Band II (S. XI-XV) wird der Schlußabschnitt aus N.s Habilitationsschrift abgedruckt: »Sprachgestalt und Stilformen in Mechthilds ›Fließendes Licht der Gottheit‹«, der die Grundlinie für diese Aufbereitung skizziert.
In diesen Kontext gehören auch andere kleinere Schriften von N., von denen in Hinblick auf seine Biographie besonders bemerkenswert ist: »Sprache und Reim in den judendeutschen Gedichten des Cambridger Codex T.-S. 10. K 22«,[11] wo er gegen eine Beanspruchung dieser Texte aus einem judendeutschen Milieu (also in hebräischer Schrift überliefert) für das Jiddische argumentiert, in expliziter Kritik u.a. an Max Weinreich (S. 164). Wie auch bei seinen anderen Arbeiten, angefangen bei der Dissertation, stützt er sich hier auf eine genaue Reimanalyse, mit der er zeigt, daß diese Handschriften keinerlei Besonderheiten gegenüber sonstigen zeitgenössischen mitteldeutschen Texten haben (u.a. zieht er seine Analyse in der Dissertation zu Rothe heran), daß allenfalls Probleme durch die Pleneschreibung im Vokalismus auftreten können. Mehrfach betont er, daß die jüdischen Schreiber und ihre Rezipienten schlicht und einfach an der deutschen Kultur teilhatten.
Zwar stand er mit seinen Arbeiten ausdrücklich in der älteren germanistischen Tradition, die sich um die Rekonstruktion des Urtextes (der Version des Verfassers) bemühte, im Vordergrund stand bei ihm aber die akribische Analyse der Überlieferung der Textzeugen bis hin (und hier besonders detailliert) zu den orthographischen Erscheinungen. So war auch seine 1984 erschienene Festschrift orthographiegeschichtlichen Fragen gewidmet.
Q: LdS: unplaced; NDB (K. Stackmann); Kürschner 1983; IGL (J. Gottschalk/J. Wesche); DBE 2005; FS: Garbe, B. (Hg.), »Texte zur Interpunktion und ihrer Reform 1462-1983 (H. N. zum 80. Geburtstag)«, Hildesheim: Olms 1984; Archiv AdW Berlin; schriftliche Auskünfte von H. N.
[1] Vorwort zu Band 9 der Zählung der Veröffentlichungen, Nachdruck München: dtv 1984.
[2] S. das Kapitel »Deutsche Mundarten« in M. Heepe (Hg.), »Lautzeichen und ihre Anwendung in verschiedenen Sprachgebieten«, Berlin: Reichsdruckerei 1928: 31-49 (Nachdruck hg. von E. Ternes, Hamburg: Buske 1983). N. unterscheidet bei seiner Zusammenstellung systematisch phonetisch orientierte Systeme von eher pragmatisch gebastelten.
[3] Als Habilitationsschrift hatte er eine wortgeschichtliche Untersuchung über dt. gut (Adj.) ausgearbeitet, die er dann als Grundlage für den entsprechenden Artikel im Deutschen Wörterbuch nahm (dort Bd. 4/I/6: Sp. 1225-1369; in der Neuausgabe, München: dtv, in Bd. 9).
[4] Seine Mitarbeit an dem Wörterbuch ist in den folgenden Bänden in der Zählung der Publikationen ausdrücklich vermerkt: Bd. 7 (1938-1948), 8 (1950), 9 (1931-1934), 18 (1935-1941), 20 (1936-1942), 29 (1960), 30 (1936-1937), 32 (1954).
[5] In: Der Monat 14 (Heft 158)/1961: 54-61.
[7] Leipzig: Mayer & Müller 1934 (= Palestra 191).
[8] 23/1935: 74-75.
[9] »Untersuchungen zur Geschäftssprache des 16. Jhdts. in Dresden«, Berlin (DDR): Akademie 1970: 9.
[10] München/Zürich: Artemis, 2 Bde. 1990-1993.
[11] In: »Indogermanica. FS W. Krause«, Heidelberg: Winter 1960: 145-165.
Zuletzt aktualisiert am Montag, 17. Juni 2013 um 11:49 Uhr