Norden, Eduard
Geb. 21.9.1868 in Emden, gest. 13.7.1941 in Zürich.
Studium der klassischen Philologie in Berlin und Bonn, wo N. 1891 mit einer Dissertation über Varros Saturas Menippeas promovierte.[1] Von dort ging er nach Straßburg, wo er 1892 habilitierte. 1893 a.o. Professor für Klassische Philologie in Greifswald, 1895 o. Professor, 1898 Breslau, 1908 Berlin. 1935 wurde er aus rassistischen Gründen zwangsemeritiert. 1938 mußte er auch aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften austreten und erhielt Hausverbot für alle wissenschaftlichen Einrichtungen. Nach den Novemberpogromen emigrierte er 1939 in die Schweiz.
Bei seinem Werk stehen literatur- und auch religionsgeschichtlichen Themen im Vordergrund, die er durch eine Untersuchung ihrer sprachlichen Form bearbeitete, wobei er literarische wie nicht-literarische Quellen im weitesten Sinne analysierte. Sein Hauptwerk in diesem Sinne ist »Die antike Kunstprosa vom 6. Jhd. bis in die Zeit der Renaissance«.[2] Seine Zielsetzung ist ausdrücklich theoretisch ambitioniert: ausgehend von einer rhetorischen Stilanalyse geht er Parallelen im prosaischen Stil zu den Formen metrisch gebundener Sprache nach und bildet diese systematisch (wenn auch in der Durchführung recht kursorisch) auf Parallelen aus anderen kulturellen Überlieferungen ab: der hebräischen, der finno-ugrischen, der chinesischen u. dgl., um auf diese Weise zu universalen Stilgesetzen zu kommen (besonders Bd. II: 813ff.); in der gleichen Weise untersuchte er Formen der oralen Literatur: »kleine Formen« wie Zaubersprüche u. dgl., z.B. auch in der Überlieferung des deutschen Mittelalters (II: 823). Grundlage ist für ihn immer die sprachliche Form. Dazu stimmt, daß er in der Preußischen Akademie für den Thesaurus Linguae Latinae verantwortlich war.
Die »exakte Grammatik«[3] stand auch im Zentrum seiner Lehrveranstaltungen: sie war für ihn die Ausgangsposition seiner ausführlichen »Strukturanalyse« (sic), die die gesicherten Formen der satzinternen Syntax auf die Muster der Textproduktion hin erweitert – wodurch sich sein Arbeitsprogramm in das Feld einer umfassenden Stilanalyse einfügt, wie sie damals viele der hier behandelten Neuerer umtrieb. Literaturwissenschaft betrieb er insofern als Analyse der geformten Sprache: Literaturgeschichte war für ihn Formgeschichte. Dieser Gesichtspunkt hat bei ihm durchaus praktische Konsequenzen, indem er sich auch mit Übersetzungen von antiken Werken hervortat, s. »P. Vergilius Maro Aeneis Buch VI«.[4] Dieser Vergil-Kommentar wird von »strenger« ausgerichteten Fachvertretern auch als sein Hauptwerk angesehen. Dort verbindet er einen umfangreichen Sachkommentar (zur Quellenfrage, zu literaturgeschichtlichen Parallelen zu den Topoi u. dgl.) mit ausführlichen sprachlich-grammatischen Erläuterungen. Für die extensive Analyse von spezifischen Kollokationen wertet er die verfügbaren Materialien des Thesaurus aus (mit Dank an Eduard Fraenkel, der damals dort arbeitete). Im Anhang finden sich systematische Auswertungen, z.B. zur Metrik und anderen formal-poetischen Strukturen, aber auch ein Kapitel zur Wortstellung.
Mit der Stilanalyse suchte er kulturelle Konstanten zu fassen, die einer biologischen Verankerung von Sprachstrukturen entgegenstehen, wie sie (nicht nur) damals gerne mit Substratargumenten ins Feld geführt wurde, so schon in seiner frühen Schrift »De Minucii Felicis aetate et genere dicendi«[5] der Nachweis von den relativ frei zirkulierenden stilistischen Mitteln im Gegensatz zu einer spezifischen »nordafrikanischen« Latinität bei Autoren wie Minucius, Tertullian u.a. Dieser stellt er die verfügbaren »rhetorischen« Formen entgegen: aus der griechischen Tradition (mit belegten Vorbildern) und eben auch im »klassischen« Latein (vor allem bei Cicero).
N. war Klassischer Philologe im umfassenden Sinne, der in Breslau neben dem Latinisten Franz Skutsch sogar vorwiegend das Griechische vertrat. In der Forschung wie auch in der Lehre spannten seine Gegenstände im weiten Feld von den Anfängen der Überlieferung bis zur europäischen Renaissance, wobei er die Kontakteinflüsse bzw. die Auseinandersetzung mit der Formentwicklung der klassischen Sprachen bei den modernen europäischen Sprachen mit in den Blick nahm. Seine »Kunstprosa« machte ihn zu einer der Autoritäten der klassischen Philologie, der in Berlin neben Wilamowitz-Moellendorff »herrschte« (s. Lenz, Q, zu seinem Stil als Hochschullehrer). Von dieser Position aus bestimmte er die Handbuchdarstellungen der klassischen Philologie mit, z.B. in der von ihm gemeinsam mit dem (zwischenzeitlich verstorbenen) A. Gercke herausgegebenen »Einleitung in die Altertumswissenschaft«, zu der er u.a. eine zusammenfassende Darstellung der römischen Literatur beisteuerte.[6] Diese Arbeiten enthalten auch ausführliche sprachgeschichtliche Ausführungen, insbesondere zur Metrik.
Zu seinen gräzistischen Arbeiten gehört vor allem der »Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede«.[7] Gegenstand ist eine für die Interpretation kritische Passage der Apostelgeschichte (der »einem unbekannten Gott« gewidmete Altar in der Paulusrede vor dem Athener Aeropag, Apostelgeschichte 17, 23). Vor dem Hintergrund seiner Biographie ist der argumentative Tenor des Buches nicht unironisch: er weist nach, daß die spezifisch christliche Überlieferung nicht ohne Berücksichtigung »orientalischer« Traditionen zu verstehen ist, hier explizit »semitischer« Traditionen, also des Judentums. Neben umfangreichen literarischen Parallelen im zeitgenössischen Horizont (aus dem Griechischen und Lateinischen) zeigt er vor allem mit formalen Kriterien (z.B. zu definit markierten Partizipien als Attributen, S. 202-203), daß die Argumentation jüdische Vorlagen haben muß. Auch andere von ihm hier explorierte formale Bereiche haben Entsprechungen in seiner »Kunstprosa«, etwa seine Auswertung des Satzparallelismus in hellenischen und semitischen Quellen (Anhang V, S. 355ff.).
Neben Arbeiten zur klassischen Philologie im engeren Sinne beschäftigte er sich auch mit dem germanischen Altertum, so in seinem als abschließend intendierten »Alt-Germanien. Völker- und Namengeschichtliche Untersuchungen«,[8] das in seiner Argumentation bestens in den damaligen politischen Kontext paßte, wenn er »Nordisches« aus der dürftigen Überlieferung zum Germanischen extrapolierte (und z.B. auch den Namen Germanisch als einen germanischen Völkernamen verstand). Entsprechend wurde er mit diesem Buch auch in der nordischen Bewegung rezipiert.[9] Andererseits analysierte er aber die im völkischen Kontext gerne angeführten Passagen aus Tacitus Germania als literarische Topoi der Antike und insofern nicht aussagekräftig.
Politisch war er national konservativ ausgerichtet mit deutlich monarchistischen Vorlieben. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch seine Wahl zum Rektor der Berliner Universität 1930 zu sehen. In diesem Sinne begrüßte er 1933 sogar in seinen Vorlesungen Hitlers Regierungsantritt und leistete wohl auch ohne Probleme 1934 den erforderten Diensteid auf Hitler ab. Er stammte aus einer jüdischen Familie, die wohl schon im 19. Jhd. Anpassungsleistungen erbrachte.[10] Noch als Gymnasiast ließ N. sich vor dem Abitur protestantisch taufen und fühlte sich seitdem wohl ausschließlich als preußischer Deutscher. Diese Spannung bestimmte auch sein persönliches Verhalten und, wenn man Kritikern wie Otto Skutsch folgt, auch seinen wissenschaftlichen Stil.[11] Nach der Emeritierung von Wilamowitz& geriet N. am Seminar in ein spannungsgeladenes Verhältnis zu dessen Nachfolger Jaeger, der dort zunehmend eine Star-Rolle einnahm, vor allem auch durch die politisch kongruente Inszenierung seines wissenschaftlichen Programms. Dadurch bildete N. jetzt den formal strengen Gegenpol – gewissermaßen mit einem Rollenwechsel gegenüber der vorausgegangenen Konstellation.[12]
Unter dem Druck der Repression schickte N. nach 1934 schließlich seinen Sohn ins Ausland, glaubte sich aber selbst offensichtlich nicht betroffen, obwohl er die Konsequenzen durchaus in seinem persönlichen Umfeld zu spüren bekam. Das betraf z.B. seine Stiftung: 1928 hatte er mit seiner Familie und unterstützt von Freunden zu seinem 60. Geburtstag die »Eduard-Norden-Stiftung« für Studierende der Klassischen Philologie gegründet. 1933 wurde verfügt, daß diese Stiftung keine Stipendien mehr an jüdische Studierende vergeben durfte, 1940 wurde sie vollständig arisiert.[13] Immerhin konnte N. 1936 noch in die USA reisen, um dort eine Ehrenpromotion in Harvard entgegenzunehmen. Erst unter dem Eindruck der Novemberpogrome stellte er 1938 einen Ausreiseantrag und emigrierte 1939 in die Schweiz. Dort veröffentlichte er noch im gleichen Jahr eine letzte größere Arbeit zur altlateinischen Literatur, die in Lund (Schweden) erschien. Zu den größten Demütigungen gehörte es für ihn vermutlich, daß er nicht nur aus den wissenschaftlichen Vereinigungen in Deutschland austreten mußte, sondern daß er im schriftlichen Verkehr mit den Dienststellen im Reich (um seine Bezüge zu sichern) jetzt auch den Vornamen Israel benutzen mußte.[14]
Im Reich selbst war er nach seiner Auswanderung eine persona non grata, wo 1943 auch alle öffentlichen Erinnerungen an ihn aus Anlaß seines 75. Geburtstages untersagt wurden.[15]Q: BHE; Walk 1988; NDB; Losemann 1977; DBE 2005; F. W. Lenz, »Erinnerungen an E. N.«, in: Antike und Abendland 7/1958: 159-171; B. Kytzler u.a. (Hgg.), »E. N. (1868-1941)«, Stuttgart: Steiner 1994; W. A. Schröder, »Der Altertumswissenschaftler E. N. (1868-1941)«, Hildesheim: Olms 1999 – mit ausführlicher Bibliographie auch der Sekundärliteratur; ebenso in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. 18/2001: Sp. 1080-1092 (K.-G. Wessling); Archiv der Humboldt-Universität.
[1] Gedruckt Leipzig 1891 (lateinisch).
[2] Zuerst 1898, 2. Aufl. 1909, 3. Aufl. mit Ergänzungen 1918, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974.
[3] S. dazu B. Kytzler (Q), Nordens Vorlesung »Geschichte der klassischen Philologie«, in: Kytzler u.a. (Hg.), »E. N.«: 17-24.
[4] 1903 (21916 und 31926), Auflagen z.T. erheblich umgearbeitet, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981.
[5] Greifswald: Kunike 1897 (= Beilage zum Vorlesungsverzeichnis der Universität. Ostern 1897).
[6] Bd. I, 4, Leipzig: Teubner 1912 und zahlreiche Neuauflagen.
[7] Leipzig: Teubner 1913, 21920.
[8] Leipzig 1934, Reproduktion Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962.
[9] So führt ihn R. Fick »Einiges über menschliche Rassenfragen« (1935) als einen Beleg für die Berücksichtigung von Rassegesichtspunkten in der Philologie an. Er selbst sah diese Arbeiten vermutlich tatsächlich naiv als »Zeugnis eines Menschen friesischer Abstammung für seine Heimat«, so Lenz (Q), S. 169. S. dagegen die vernichtende methodische Kritik an diesem Buch durch den Namenkundler Joseph Schnetz in der Z. f. Ortsnamenf. 11/1935, bes. S. 55 bis 61. Eine Bibliographie der darin anschließenden Diskussion bei Schröder 1999: 193-194.
[10] Der Familienname Norden wurde nach dem Wohnsitz der Familie anstelle des früheren Namens Calmer angenommen, s. dazu Schröder (Q), S. 9.
[11] S. dessen auch im persönlichen Bereich sehr harsche Bemerkungen in seinen Erinnerungen, in: Harvard Studies in class. Phil. 94/1992: 394-396.
[12] Diese Konstellation spiegelt sich in den Berichten der damals dort Studierenden, aufschlußreich gerade auch bei solchen mit einem jüdischen Hintergrund; s. dazu A. I. Baumgarten, »Eduard Norden and his Students: A Contribution to a Portrait, Based on Three Archival Finds«, in: Scripta Classica Israelica 25/2006: 121-139.
[13] S. dazu I. G., »Eduard Norden – Ein Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität«, in: Humboldt [Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin] 2/1997-1998: 11.
[14] Schröder, (Q), S. 52.
[15] Losemann 1977, Anm. 129.
Zuletzt aktualisiert am Freitag, 19. Juli 2013 um 09:13 Uhr