Scheftelowitz, Isidor
Geb. 1.5.1875 in Sandersleben/Anhalt, gest. 17.12.1934 in Oxford.
Nach Abschluß des Gymnasiums in Königsberg war S. zunächst kaufmännisch tätig (»mercaturae operam dedi« schreibt er in der Vita). 1897 begann er ein Studium der Orientalistik und der vergleichenden Sprachwissenschaft in Königsberg, das er zeitweise in Berlin fortsetzte. 1901 promovierte er in Königsberg mit der Dissertation »Arisches im Alten Testament«[1], in der er die in den historischen Büchern Esther, Esra und Nehemia, die sich auf die Zeit der persischen Herrschaft beziehen, vorkommenden offensichtlich iranischen Wortformen (vor allem Namen) etymologisch bestimmte (insgesamt 110 Wortformen, die er in lexikalischer Anordnung abhandelte). Zwar analysierte er auch die formalen Probleme ihrer Wiedergabe im hebräischen Text (und auch im griechischen der Septuaginta), vor allem aber mit ausführlichen kulturgeschichtlichen Annotationen, die mit seinen späteren volkskundlichen Interessen korrespondieren. In Berlin absolvierte er gleichzeitig mit dem Studium eine Rabbinerausbildung (1903 mit der Rabbinatsprüfung abgeschlossen).
Nachdem er bereits extensiv in der vergleichen Sprachwissenschaft publiziert hatte (s.u.), beantragte er 1907 in Königsberg mit Unterstützung seines Doktorvaters Bezzenberger die Habilitation, zog den Antrag dann aber zurück. In seiner eigenen Wahrnehmung war der Grund, daß ihm »von Seiten der preußischen Regierung um meines Glaubens willen Schwierigkeiten gemacht worden waren«.[2] Er erhielt aber 1907 ein Reisestipendium für indische und iranische Handschriftenstudien am British Museum in London und an der Universitätsbibliothek in Oxford.
Seit seiner Rabbinatsprüfung war er als Rabbiner in jüdischen Gemeinden tätig, von 1908 bis 1926 in der Kölner jüdischen Gemeinde, wo er seit 1914 insbesondere auch die dortige jüdische Bibliothek betreute. Daneben setzte er in Köln seine wissenschaftliche Arbeit fort. 1919 habilitierte er an der dort neugegründeten Universität mit zwei indologischen Schriften.[3] Von 1919 bis 1933 lehrte er dort als Privatdozent, seit 1923 auch als Honorarprofessor seine Fächer. 1933 erhielt er aus rassistischen Gründen ein Lehrverbot und emigrierte mit Unterstützung der Rockefeller Stiftung und der Londoner Hilfsorganisation für vertriebene Wissenschaftler nach Oxford, wo er am Balliol College bis zu seinem Tod 1934 unterrichtete.[4]
Seine frühen Arbeiten galten der Indologie in der ganzen Breite des philologischen Arbeitsfeldes, gestützt vor allem auf seine Manuskriptstudien in London und in Oxford. Das gilt insbesondere für »Die Apokryphen des Ṛgveda«,[5] wo er vedische Hymnen aus einem kaschmirischen Manuskript ediert, das eine Reihe von originären Textvarianten aufweist und auch durch die systematisch durchgeführte prosodische Auszeichnung (Akzente) bemerkenswert ist. Daran schließen eine Reihe weiterführender Detailstudien an wie in den für seine Habilitation vorgelegten Schriften (s. Anm. 3), in denen er textphilologisch eventuellen späteren Zusätzen zum Rigveda-Corpus nachgeht. In diesem Sinne auch schon früher »Zur Textkritik und Lautlehre des Rigveda«.[6] Die Analyse der sprachlichen Form gehörte dazu, steht aber nicht im Vordergrund. Dazu hat er auch spezifischere Einzelstudien vorgelegt wie z.B. »Das sp-Suffix im Altindischen und in den verwandten Sprachen«[7] – mit wenig überzeugenden Analysen (allerdings wurden die grundlegenden Arbeiten zu Wurzel- und Morphemstruktur auch erst in den 30er Jahren verfaßt).[8] Eine systematischere Bedeutung erhielt dagegen eine frühe vergleichende Studie, die breit in der historisch ausgerichteten Lexikologie rezipiert wurde: »Die begriffe für ›schädel‹ im Indogermanischen«.[9] In gewisser Weise als Vorläufer aktueller Arbeiten zu »semantischen Karten« extrapoliert er dort aus einer umfangreichen Sammlung von etymologisch rekonstruierten Wörtern in ie. und (trotz des Titels!) auch semitischen Sprachen ein dynamisches semasiologisches Feld, in dem das Bezeichnungsspektrum der Wörter für KOPF endemisch expandiert, so daß sich als etymologische Fortsetzungen Bezeichnungen für »Trinkgefäße, Hügel, Haare, Berge«, aber auch Abstrakta wie »Wichtiges« u. dgl. finden, die isoliert genommen nur disparat sind. Im Rückgriff auf kulturgeschichtliche Beobachtungen (rituelle Trinksitten u.ä.) skizziert er eine implikationelle Skala der Bedeutungsentwicklung, die es erlaubt, ggf. nicht belegte »Zwischenglieder« zu interpolieren, die die Etymologie bzw. Wortgeschichte transparent machen. Im Kontext einer später modisch werdenden psychoanalytisch inspirierten Beschäftigung mit der historischen Semantik (s. etwa bei Hans Sperber) wurde dieser Aufsatz zu einem Standardhinweis.[10]
Die späteren Arbeiten von S. hatten eine eindeutig religionswissenschaftliche Ausrichtung, mit denen er an seine rabbinische Praxis anschloß. Dabei suchte er die Besonderheit und Eigenständigkeit des Judentums gerade auch in Hinblick auf die konzeptuellen, kultischen, mythologischen Parallelen in anderen Religionen zu erweisen, die für ihn unabhängige Entwicklungen zeigen, nicht aber Beeinflussungen (insbesondere keine Einflüsse auf das Judentum), so etwa »Die altpersische Religion und das Judentum«,[11] hier u.a. auch für die Begrifflichkeit, die Entwicklung von Wortfeldern durch metaphorische Weiterungen u. dgl. (S. 147-152). Dieser Frage ist er vor allem auch in der Spannung von Volksfrömmigkeit und Theologie nachgegangen: die Besonderheit des Judentums ist für ihn der mosaische religiöse Kanon, während die jüdische Volksfrömmigkeit (in ihren kultischen Praktiken, konzeptuellen Ausgestaltungen u. dgl.) wieder Parallelen überall in der Welt hat (aufgezeigt im Germanischen nicht anders als in Fernost, z.B. im Koreanischen): »Alt-Palästinensischer Bauernglaube«.[12] Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist unterschwellig immer Thema in diesen Arbeiten, so z.B. wenn er in einer ausgesprochen ausgreifenden vergleichenden Studie »Das stellvertretende Huhnopfer. Mit besonderer Berücksichtigung des jüdischen Volksglaubens«[13] den Topos des vorgeblichen jüdischen Ritualmords mit Blutritualen in anderen, insbesondere christlichen Religionen und dem Bluttabu in der jüdischen Religion kontrastiert (S. 57-62). Sprachliche Fragen sind in diesen Arbeiten nur indirekt präsent.
Seine explizit jüdische Selbstdarstellung war für ihn aber eine Ausdrucksform des Deutschen, das er für sich reklamiert, so z.B. im Vorwort des Buches 1920, in dem er von sich selbst als Mitglied des »deutschen Gelehrtenstand(es)« spricht, der mit seiner wissenschaftlichen Arbeit den »Ruhm des deutschen Namens« in der Welt begründen hilft.
Q: V in der Dissertation und in der Habilitationsakte; Habilitationsakte im Universitätsarchiv Köln[14], BHE; Golczewski; Archiv der Rockefeller Stiftung; Walk 1988; Stache-Rosen: 182; Hanisch 2001: 91; E/J 2006.
[1] Königsberg: Hartung o. J. Er widmet die Dissertation A. Bezzenberger (1851-1922), der seit 1879 die Königsberger Professur der vergleichenden Sprachwissenschaft innehatte, mit einem Schwerpunkt beim Indo-Arischen.
[2] So in seinem Habilitationsantrag in Köln vom 7.7.1919. Diese Aussage führte zu einer Rückfrage der Universität Köln in Königsberg, die dort von dem damals als Rektor fungierenden Bezzenberger beantwortet wurde, der als Grund ein Strafverfahren des Vaters (!) von S. angab und die von S. in Spiel gebrachten antisemitischen Hinderungsgründe ausschloß.
[3] »Die Stellung der Suparṇa- und Vālakhilya-Hymnen im Ṛgveda«, in: Zt. d. Dt. Morgenländischen Ges. 74/1920: 192-203, und »Die sieben Purorucas«, ebd. S. 204-207.
[4] Sein Sohn, der Archäologe Brian Shefton (1919-2012), sah in den schwierigen Lebensverhältnissen der Familie in diesen Jahren den Grund für den frühen Tod von S., die Würdigung von Vater und Sohn in der Kölner Universitätszeitung 1/2010: 10). NB: Shefton hatte seinen Familiennamen in der Zeit seines Kriegsdienstes (1940-1945) geändert.
[5] Breslau: Marcus 1906.
[6] In: Wiener Z. Kunde des Morgenlandes 21/1907: 85-142.
[7] In: W. Kirfel (Hg.), »Beiträge zur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Indiens« (= FS Hermann Jacobi), Köln: Klopp 1926: 27-31.
[8] In den beigebrachten Fällen ist die Segmentierung etwa lat. vesper »Abend« nicht *ve-sp-er wie bei ihm, sondern *ve(s)-p-er.
[9] In: Beitr. z. Kunde d. indogerm. Sprachen 28/1904: 143-158.
[10] Vor allem in der Romanistik, wo der fast durchgängige Ersatz des alten lat. CAPUT (vgl. frz. chef) durch Fortsetzer von Formen wie TESTA, zunächst »Tonscherbe« (vgl. frz. tête), zum Topos wurde, mit »erklärenden« Deutungen wie KOPF ist das, was man einschlägt (> in Scherben schlägt) u. dgl.
[11] Gießen: Töpelmann 1920.