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Speier, Hans

Geb. 3.2.1905 in Berlin, gest. 17.2.1990 in Hartsdale (New York).

Seit 1923 studierte S. Soziologie und Politologie in Berlin; er promovierte 1929 in Heidelberg (»Die Geschichtsphilosophie Lassalles«).[1] Bis 1931 arbeitete er in Berlin in einem Verlag. In diesem Jahr habilitierte er in Politikwissenschaft an der Berliner Hochschule für Politik. Die Habilitationsschrift »Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus«, die er noch vor der Auswanderung für den Druck überarbeitete, konnte erst 1977 publiziert werden.[2] Diese Arbeit gilt heute noch als soziologischer Klassiker, der die Grundlagen der sozialen Schichtenanalyse (bei S. politischer: »Klassenanalyse«) entwickelt. Die Angestellten lassen sich einerseits als abhängige Schicht betrachten, was sie den Arbeitern gleichstellt (bei S. »Proletariat«), andererseits ist die Organisation ihrer Tätigkeit anders und sind ihre Verbände ständisch bestimmt (so vor allem in ihrer zentralen Organisation, dem Deutsch-nationalen Handlungsgehilfen-Verband, DHV). Das letztere ist der Schlüssel für die Analyse ihrer politischen Rolle bei der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Damit rekurriert S. auf Spezifika der deutschen Gesellschaft (mit der Militarisierung eben auch von Betriebsstrukturen), die eine Reduktion auf ökonomische Strukturen ausschließen. Sprachliche Analysen fehlen hier zwar, wohl aber findet sich der Rahmen, in dem auch die sprachliche Artikulation politischer Handlungsweisen analysiert werden muß.

S. lehrte als Privatdozent an der Berliner Hochschule für Politik bis zu deren Schließung 1933; bis September war er noch an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität tätig, daneben unterrichtete er in sozialdemokratischen Bildungseinrichtungen. 1933 war für ihn als Gegner des Nationalsozialismus keine akademische Beschäftigung mehr möglich und seine Frau verlor aus rassistischen Gründen ihre Arbeit. Daraufhin nahm er gemeinsam mit seinem Heidelberger Lehrer Lederer ein Angebot an, an der New Yorker New School for Social Research zu unterrichten, und emigrierte noch im Herbst 1933 in die USA.[3] An der New School hatte er von 1933 - 1948 eine Dozentur, unterbrochen von Gastprofessuren und von 1942 bis 1947 der Arbeit für den Geheimdienst der US-Regierung. Bis 1945 leitete er eine Abteilung zur Analyse der deutschen Rundfunkpropaganda (und zur Entwicklung einer Gegenpropaganda). Hier arbeitete er mit Kris zusammen, der ebenfalls seit 1940 an der New Yorker New School tätig war). Gemeinsam gaben sie 1944 einen Band mit Analysen der deutschen Rundfunkpropaganda heraus (s. bei Kris), die im weiteren Sinne als Sprachforschung zu qualifizieren sind.

1945 bis 1947 war er bei der alliierten Besatzungsbehörde in Deutschland tätig, wo er die Kontinuitäten der Haltungen der deutschen Bevölkerung analysierte (die er auf die schwer erträglichen materiellen Lebensbedingungen im ausgebombten Deutschland bezog), und der er die Hilflosigkeit der moralisch angelegten Reedukationsprogramme der Alliierten entgegenstellte.[4] Von 1948 bis 1969 war er in der politischen Forschungsabteilung der RAND Corporation, zeitweise in Verbindung mit der Universität Stanford, wo er die Konstellationen des Kalten Krieges analysierte. Von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1983 hatte er eine Professur in Amherst, Mass. Danach nahm er noch Gastprofessuren wahr, u.a. auch wieder an der New Yorker New School.

Gegenstand seiner Analysen sind die politischen Verhältnisse, die kommunikativ produziert und reproduziert werden. Theoretisch ging er von dem wissenssoziologischen Ansatz seines Heidelberger Doktorvaters Karl Mannheim aus mit dem Ziel, die kommunikativen Strukturen (und die kommunizierten Botschaften) auf die soziale Praxis der Akteure zu beziehen, deren soziale Position (letztlich ihre Klassenlage) perspektivisch in sie eingeschrieben ist. In seinen frühen Arbeiten vertrat der dabei einen marxistischen Ansatz, der sich gegen Mannheims abstrakte "Ideologie"-Konzeption richtete und eine explizit politische Analyse unternimmt, so z.B. mit einer Kritik an der Figur der "freischwebenden Intelligenz" bei Weber und Mannheim in "Soziologie oder Ideologie? Bemerkungen zur Soziologie der Intelligenz",[5] der sich in den materialen Grundlagen auf seine Habilitationsschrift (1931, s.o.) stützt. 

Damit wandte er sich gegen gängige oberflächliche Manipulationsanalysen nicht nur in der Reproduktion totalitärer Verhältnisse, sondern auch in den spiegelverkehrten Bemühungen um Reedukation. Sein Ziel ist es, die verdeckten Inhalte sichtbar zu machen, wobei, wie nicht nur an der Militärpropaganda deutlich, die Form und Inszenierung die Botschaft sein kann, die Informationen verdeckt. Bei seinen Analysen zu den nationalsozialistischen Verhältnissen rekurriert er auf die Alltagspraxen und verweist dabei öfters auch auf Klemperers »LTI«; ein weiterer Schwerpunkt sind für ihn die z.T. parallel analysierten Verhältnisse in der Sowjetunion.

Mit dieser analytischen Ausrichtung beteiligte er sich auch an US-internen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten. Dazu gehörte auch die Mitarbeit an einem umfassenden Grundlagenwerk zur politischen Kommunikation »Propaganda and communication in world history«,[6] das sich ausdrücklich auch als Antwort auf die intellektuelle Herausforderung durch den Faschismus (mit herausgestellten Parallelen im Stalinismus) versteht, und dazu eine umfassende historische Rekonstruktion bemüht, die analytische Konzepte möglich machen soll.

Vor der Folie eines Entwurfs einer Theorie der Massenkommunikation in Band 1 (S. 4-20) werden hier vor allem Fallstudien für unterschiedliche Ausprägungen staatlich verfaßter Gesellschaften und die Rolle politischer Kommunikationsformen in ihnen geliefert.[7] Dabei werden die verschiedenen Dimensionen der Analyse von Massenkommunikation isoliert, insbes. die Rolle eines national integrierten politischen Raums (mit dem Medium einer Nationalsprache), die technologischen Bedingungen, insbes. die Rolle der Schrift, die Massenalphabetisierung, die modernen Kommunikationstechniken u. dgl., schließlich politische Organisationsformen wie Zensur, Parteien u. dgl. S. selbst steuerte einen ambitionierten Aufsatz über indirekte Kommunikation bei, in dem er sich auch um eine formale Modellierung bemüht (»The communication of hidden meaning«),[8] einerseits mit einem ideengeschichtlichen Rückblick (angefangen beim vierfachen Sinn der Schriftauslegung in der christlichen Theologie bis zur modernen Psychoanalyse), andererseits mit einer Fülle von anekdotischen Beispielen aus der europäischen Literatur, um unterschiedliche Modellkonstellationen zu exemplifizieren. Gegenstand seiner Analysen waren insbesondere die Verhältnisse im Militär. Dazu beteiligte er sich an einem u.a. von Lazarsfeld geleiteten Forschungsprojekt zu den amerikanischen Soldaten, zu dem er eine Analyse beisteuerte, die den Einfluß der Position als Wehrpflichtiger gegenüber einem Berufssoldaten bei Meinungsäußerungen nachging.[9] Ein Querschnitt seiner entsprechenden Analysen findet sich in der Aufsatzsammlung »Social order and the risk of war«.[10]

Auch bei diesen späteren Analysen bleibt S. immer ein europäischer Intellektueller, der nicht nur immer wieder an Mannheims Ideologiekritik anschließt, sondern sich durchgängig auf die europäische Literatur seit dem Mittelalter bezieht, die er als Demonstration einer differenzierten Kommunikationsanalyse nutzt: im Vorführen von Mehrfachadressiertheit der Äußerungen, bei der Kommunikation indirekter Bedeutungen, nicht zuletzt auch mit der Dominanz konnotativer Strukturen gegenüber den offenen denotativen (wie in dem Aufsatz von 1977-1980). Im Gegensatz zu seinen durchgängigen literarischen Beispielen (und auch seinem Anknüpfen an literaturwissenschaftliche Analysen) finden sich bei ihm offensichtlich keine direkten Bezüge zur sprachwissenschaftlichen Forschung.

Q: DBE, BHE. H.S., Nicht die Auswanderung, sondern der Triumph Hitlers war die wichtige Erfahrung. Autobiographische Notizen eines Soziologen. in Exilforschung 6/ 1988: 152 - 173.

 


 

 

 



[1] Teildruck: Tübingen: Mohr 1929.

[2] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977.

[3] Emil Lederer (1882 - 1939) fungierte als erster Dekan der New School; mit ihm hatte S. auch in seiner Berliner Zeit weiter Verbindung gehalten. An der New School in New York baute er gemeinsam mit ihm den Stamm der Lehrenden aus Exilierten auf.

[4] Später veröffentlichte er seine Tagebücher und Briefe aus dieser Zeit, die ihn als einen scharfen Beobachter auch von alltäglichen Details zeigen: »From the Ashes of Disgrace«, Amherst: Univ. of Massachusetts Press 1981.

[5] In: Die Gesellschaft 7/ 1930: 357-372.

[6] H. D. Lasswell u.a. (Hgg.), 3 Bde., Honolulu: Hawaii UP 1979-1980.

[7] Zu den Mitarbeitern gehörte auch Oppenheim für die babylonische Zeit.

[8] In: Lasswell u.a. Bd. II, 1980, a.a.O.: 261-300; zuerst in: Social Research 44 (3)/1977: 471-501.

[9] »The Effect of military rank on various types of attitudes«, in: R. K. Merton/P. Lazarsfeld (Hgg.), »Studies in the Scope and Method of ›The American Soldier‹«, New York: Free Press 1950: 120-127; wieder nachgedruckt in P. Lazarsfeld/M. Rosenberg (Hgg.), »The Language of Social Research«, New York: Free Press 1955: 93ff.

[10] Cambridge: MIT Press 1952 (Repr. 1969).