Tiktin, Hariton (Heyman)
Geb. 9.8.1850 in Breslau, gest. 13.3.1936 in Berlin.
T. war der Sohn eines aus Polen stammenden Rabbiners in Breslau.[1] Nach dem Abitur in Breslau ging er 1869 nach Iaşi (Rumänien), wo er eine Ausbildung zum Lehrer für Deutsch und Latein absolvierte und an Gymnasien unterrichtete; dabei begann er, systematisch Rumänisch zu lernen. Nach der Heirat mit einer Rumänin nahm er die rumänische Staatsbürgerschaft an. Er arbeitete sich in die Sprachwissenschaft des Rumänischen ein, wozu er seit 1879 dort auch publizierte, und zwar parallel sprachwissenschaftlich-philologisch und sprachdidaktisch. Dazu gehörten v.a. Arbeiten zur rumänischen Orthographie, bzw. ihrer Reform, zu der er 1889-1890 ein Handbuch vorlegte, das bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehrere Neuauflagen erlebte: »Manual de Ortografia Romînă«,[2] mit einem systematischen phonetischen und grammatischen Abriß als Folie für eine »rationale« Orthographie (S. 17-68); bei der Systematik orthographischer Notationen verweist er auch auf Sondergraphien in anderen Schriftsprachen (z.B. auf Schärfungsgraphien im Deutschen, S. 23). Für den Unterricht an Gymnasien publizierte er 1891 eine rumänische Grammatik in zwei Bänden (»Grammatica Romînă: pentru învăţămîntul secundar«).[3] Im ersten Band wieder mit einer ausführlichen Lautlehre (»Fonologiá«) mit Einschluß der Prosodie, der Formenlehre (ausführlich auch die Wortbildung, S. 231-245), in Band II eine Syntax, systematisch im Aufbau von einfachen zu komplexen Sätzen, orientiert an der deutschen Grammatik von Heyse mit Abhängigkeitsstrukturen, die er im Ausgang vom »nackten Satz« über die verschiedenen Formen der »Bekleidung« entwickelt. Zu den speziellen systematischen Teilen gibt er jeweils ausführliche Übungen im Anschluß an Lesestücke.
Er hatte enge Verbindungen zu den Romanisten in Deutschland, v.a. wohl zu Morf in Berlin, für die er sich rasch als Gewährsmann für Fragen des Rumänischen etablierte, das aufgrund seiner peripheren Besonderheiten innerhalb der Romania in der zeitgenössischen Diskussion eine Schlüsselstellung einnahm. Eine zusammenfassende Darstellung des damaligen Forschungsstandes i. S. der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft gibt sein Beitrag »Studien zur rumänischen Philologie«,[4] mit dem er 1884 in Leipzig promoviert wurde (ohne dort im engeren Sinne studiert zu haben). Es handelt sich um eine historische Lautlehre, die er später zu einer umfassenden Gesamtdarstellung (mit Einschluß der Syntax und einer Skizze der Wortschatzstrukturen) ausbaute: »Die rumänische Sprache«.[5] Seit seiner Dissertation publizierte er regelmäßig, insbesondere in der Zeitschrift für romanische Philologie über Einzelfragen, zunächst der Phonetik und der Grammatik, später zum Wortschatz.
1905 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er seitdem als Lektor für Rumänisch in Berlin am Seminar für Orientalische Sprachen tätig war und bis 1924 (also noch als 74-Jähriger) unterrichtete. Er war aktiv im Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverband, und wurde in diesem Rahmen 1930 zu seinem 80. Geburtstag mit einer Feier in der Herrigschen Gesellschaft geehrt.[6] 1933 traf ihn die rassistische Verfolgung: er wurde aus dem Neuphilologenverband ausgeschlossen und auch seine Pensionsbezüge wurden einbehalten.[7] Er wurde Opfer nationalsozialistischer persönlicher Angriffe, gegen die er einen gewissen Schutz durch die rumänische Botschaft erhielt, wie ihn auch die rumänische Akademie in Hinblick auf die von ihm damals unternommene Neubearbeitung seines Wörterbuchs finanziell unterstützte.
In seinen Arbeiten verbindet er die sprachpflegerische/normative Zielsetzung, zur Etablierung einer modernen rumänischen Schriftsprache beizutragen, mit einem ausgesprochen deskriptiven Zugang zum Gegenstand. Das prägt auch seine Darstellung im »Grundriß« (1888), mit einer relativ detaillierten Betrachtung der dialektalen Verhältnisse, wobei er syntaktischen Fragen großen Raum einräumt, etwa zur Problematik der Bestimmtheitsmarkierung (der in der Romania auffälligen Suffigierung), der relativen Stellungsfreiheit der syntaktischen Konstituenten, der prosodisch gesteuerten Formenvariation der Personalpronomina u. dgl. Deutlicher ist das noch in seinem Lehrbuch »Rumänisches Elementarbuch«,[8] das zwar auch im Sinne der damaligen Romanistik sprachhistorisch angelegt ist, mit ausführlichen historischen Kommentierungen und auch Etymologien in dem Wörterverzeichnis, der strukturellen Parallelisierung von rumänischen und lateinischen Paradigmen in der Grammatik u. dgl., das seinen Ausgangspunkt aber strikt bei der modernen Sprache mit ihrer Variation nimmt.[9]
Auch hier nimmt die Orthographie wieder einen relativ großen Platz ein, wo er gegen die damals dominierende (auch noch von der Akademie vertretene) etymologische Orthographie Stellung bezieht und eine gemäßigt reformierte phonologische Reform (mit grammatischen Strukturmomenten) praktiziert, die er auch vorher schon in seinem orthographischen Handbuch entwickelt hatte (auf dieser Linie wurde die rumänische Orthographie dann 1904 auch reformiert). Dazu hatte er systematisch literarische Quellen (aller Stilgattungen) exzerpiert, aber auch mündliche Belege gesammelt, die die Variation im Rumänischen spiegelten.[10] Sein Hauptwerk ist das »Rumänisch-deutsche Wörterbuch«, zu dem er Vorarbeiten schon seit 1895 publiziert hatte, das von 1903-1925 in Bukarest erschien.[11] Dieses Werk hatte in Rumänien eine Pionierfunktion, da das parallele große Akademiewörterbuch erst 1913 mit dem Erscheinen begann (immer noch nicht abgeschlossen). Daher erfuhr er bei diesem Unternehmen auch die Unterstützung der rumänischen Fachkollegen, aber auch von der rumänischen Akademie selbst.
Q: Christmann/Hausmann; Stammerjohann (S. Stati); I. Rizescu, »H. T. – Omul şi opera«, Bukarest: Editura Ştiinţifica 1971 (Bibliographie dort S. 177-185). Nachruf von I. Siadbei, in: Romania 62/1936: 279; I. Iordan in: Z. rom. Ph. 57/1937: 127-128. Für seine heutige Würdigung in Rumänien, v.a. im Kontext der jüdischen Gemeinschaft dort s. auch B. Mehr, »Un mare filolog român – H. T.«, in: Realitatea Evreiaskă 247 (1047) Febr.-März 2006: 12.
[1] Der Familienname leitet sich von dem Herkunftsort der Familie Tykocin bei Bialystock her.
[2] Iaşi: Cuppermann 1889.
[3] I/1891, II/1893, Iaşi: Editura Librăriei Scoalelor Fratiî Saraga.
[4] (Mit dem Vermerk »Erster Teil«), Leipzig: Breitkopf Härtel 1884.
[5] In: G. Gröber (Hg.), »Grundriss der romanischen Philologie«, Bd. 1, Straßburg: Trübner 1888: 438-460.
[6] Mit Reden von E. Gamillscheg u.a., siehe Rizescu (Q): 26.
[7] So Rizescu (Q): 27.
[8] Heidelberg: Winter 1905.
[9] Zu diesen Aspekten in seinem Werk s. E. Coseriu, »Un précurseur méconnu de la syntaxe structurale: H. T.«, in: FS M. Leroy, Brüssel 1980: 48-62.
[10] Im engeren Sinne fehlt bei ihm aber eine dialektologische Zielsetzung, wie auch die Etymologie hier nur eine marginale Rolle spielt. Entsprechend wird er auch von S. Pop in seinem Überblick über die rumänische Forschung nicht erwähnt (»La dialectologie«, Band I: 666-733).
[11] Eine Neubearbeitung, von P. Miron/E. Lüder betreut, ist in Wiesbaden, Harrassowitz 2001-2005 erschienen, die allerdings den Aspekt eines historischen Großwörterbuchs gegenüber T.s Unternehmen herausstellt.