Wilhelm, Friedrich
Geb. 22.2.1882 in Jena, gest. 30.5.1939 in München.
Nach dem Abitur 1900 in Jena Studium mit Schwerpunkt der Germanistik zunächst dort, dann in München, wo er bei Hermann Paul 1903 promovierte. Die Dissertation (»Die Geschichte der handschriftlichen Überlieferung von Strickers Karl dem Großen«)[1] bringt aufgrund einer wohl weitgehend vollständigen Kollationierung von zwei Handschriftengruppen eines mittelhochdt. epischen Werkes eine detaillierte Rekonstruktion der Abhängigkeitsverhältnisse dieser Überlieferung, die möglichst alle formalen Bereiche der sprachlichen Variation erfaßt. 1905 Habilitation, wohl ebenfalls bei Hermann Paul in München, für den er 1906 auch die Festschrift mitherausgab. In der Habilitationsschrift »Die mittelhochdeutschen Thomas-Apostellegenden. Ein Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen deutschen Legendare« [2] analysierte er die untersuchten Passionale in Hinblick auf die lateinische Vorlage (die Legenda Aurea) und zeigt die Bearbeitung als Ausdruck genuinen »deutschen Denkens« (hier im Umfeld des Deutschordens).
Im gleichen Feld lag seine große Edition der oberdeutschen Servatius-Legende vom Ende des 12. Jahrhunderts: [3] »Sanct Servatius oder wie das erste Reis in deutscher Zunge geimpft wurde: ein Beitrag zur Kenntnis des religiösen und literarischen Lebens in Deutschland im 11. und 12. Jahrhundert«[4] – der Untertitel nimmt eine Formulierung von Gottfried von Straßburg auf. Die Ausgabe dokumentiert die vielfältige Überlieferung (auch die lateinische Überlieferung) und zeigt in der Edition, daß diese sich einer strikten dialektalen Identifizierung entzieht – mit drastischen polemischen Angriffen auf die zeitgenössischen Großgermanisten, vor allem auf Carl von Kraus. Statt wie bei diesem mit rein formalen Analysen wie in Reimgrammatiken u.dgl. zu operieren, die für ihn ein »geistloses« Handwerkeln an der kulturellen Überlieferung darstellen, beschränkt er sich darauf nachzuweisen, daß eine Herkunft der ältesten Handschriften aus dem bayerischen Raum nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Identifizierung der Herkunft aber über andere Kriterien laufen muß: hier die Identifizierung des Textes als einer politischen Inszenierung des Königtums, bei W. mit einem emphatischen Bekenntnis zu der Wittelsbacher Dynastie. Eine nicht geistlose Germanistik kann für ihn nur in einer engen Verbindung mit der Geschichtswissenschaft praktiziert werden. [5]
1911 wurde er zum a.o. Professor ernannt. Im Ersten Weltkrieg diente er als Freiwilliger bei einer Sanitätseinheit. 1920 wurde er zum o. Prof. nach Freiburg berufen. Nachdem er von Studierenden politisch denunziert wurde, beantragte er 1936 die vorzeitige Entlassung.[6] Daraufhin führten ihn 1937 die Londoner Listen der »Notgemeinschaft« auf (weshalb er hier aufgenommen ist). W. vertrat die ältere deutsche Philologie in ihrem Kernbereich: mhdt. Dichtung, angefangen bei dem Nibelungenlied, und gab 1930 auch mit R. Newald ein »Althochdeutsches Lesebuch« heraus. Sein wissenschaftliches Profil aber entwickelte er gerade durch die Abkehr von der hilfswissenschaftlichen Fixierung der Sprachwissenschaft auf den literarischen Kanon der großen Dichtung. Dazu paßt, daß er auf seiner Freiburger Professur daneben auch die dort angesiedelten regionalen Aufgaben übernahm, wie insbes. die Mitherausgabe des »Badischen Wörterbuchs«.[7]
1912 begann er mit der großen Ausgabe der »Älteren Urkunden in deutscher Sprache« begonnen, in einer umfassenden Neubearbeitung seit 1929 als »Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300«,[8] die bis heute die Grundlage für die Erschließung der mittelalterlichen sprachlichen Verhältnisse in ihrer regionalen Differenzierung sind, vor deren Hintergrund überhaupt erst eine Beurteilung der literarischen Kunstsprache möglich ist. Eine erste Auswertung des Befundes der regionalen Schreibsprachen hat er selbst gegeben und damit das heute produktive Feld von historisch-sprachsoziologischen Forschungen eröffnet. Das ausführliche Vorwort Bd. 1 stellt das nationale Anliegen des Unternehmens heraus (»Quelle zum Leben unseres Volkes«, 81*), v.a. aber die Schwierigkeiten von dessen Realisierung seit seinen Vorarbeiten seit 1907 – mit Polemiken gegen die etablierte germanistische Großforschung, wo er eine germanistische Gerontokratie, die seinem Unternehmen die Förderung durch die DFG verweigert habe, angreift – als Vertreter der Jungen, die »im Feld« waren (so durchgängig, 6*, 75*-77*), aber auch gegen einzelne, jüngere Fachvertreter, wie vor allem den von Kraus-Schüler Schirokauer[9] (S. 58*-59*, s. dazu bei diesem).
Die ausführliche Einleitung (83 großformatige Seiten) charakterisiert recht prägnant die neue nach-junggrammatische Forschungssituation in der Germanistik, für die nicht nur ein normatives Gegenstandsverständnis in der Art des idealisierten Mittelhochdeutsch in der Tradition Lachmannscher Texteditionen entwertet war (er spricht von einem »Esperantomittelhochdeutsch«), sondern auch die junggrammatische Position, die als Fortschreibung dieser Idealisierung erscheint, wenn sie eine organische Sprachentwicklung hin zu den Dialekten postuliert, für die die vorfindliche Überlieferung gewissermaßen zu röntgen ist. Dem stellte er die Aufgabe gegenüber, die Überlieferung aufzubereiten, mit allen Inhomogenitäten, die sie aufweist, wo insbes. bei den Urkunden die Vorlage und die Reinschrift eine verschiedene Sprachpraxis spiegeln können. Von daher fordert er eine strikte Treue gegenüber den Quellen bis hin zu den graphischen Besonderheiten, der Interpunktion nicht anders als der Markierung der Wortgrenzen. Da er allerdings bei seinen Quellen sehr selektiv war, und insbes. das interne Schrifttum der Kanzleien nicht berücksichtigt hat, ergeben sich bei seinen Extrapolationen Verzerrungen, die die spätere Forschung durch die Analyse der jeweiligen lokalen Schreibertraditionen aufgewiesen hat.
Entsprechend sind seine Arbeiten zu literarischen Texten auf die Handschriftenüberlieferung in ihrer positiven sprachlichen Form ausgerichtet (s.o. zur Servatius-Ausgabe). Die Tatsache, daß poetische Texte von formalen Vorgaben der Gattung (Reime, formelhafte Sprachen) abhängig sind, brachte ihn folgerichtig dazu, sich auch im literarischen Bereich systematisch der Prosa zuzuwenden, und da insbes. auch der Fachprosa (»artes-Literatur«). Hier hat er mit seinen sprachgeschichtlich ausführlich kommentierten beiden Bänden der »Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts«[10] Pionierarbeit geleistet, an die die heutige Sprachgeschichtsforschung anschließt. Von Anfang an war er bemüht, über die Quellendokumentation hinaus die Konsequenzen im Zusammenhang darzustellen, so schon in seiner »Zur Geschichte des Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang des 13. Jhdts.«.[11] Explizit führt er hier die Entwicklung der »schriftsprachlichen Verhältnisse« im Mittelalter vor, im Gegensatz zu den heterogenen (auch nicht-deutschen) sprechsprachlichen Verhältnissen, die erst in der Auseinandersetzung und der Aneignung der Schriftsprache national werden. Gegen romantisierende Volksmythologien, wie sie damals gerade auch in der Sprachgeschichte in Mode waren, ist für ihn die Nationalsprache letztlich ebenso wie die Nation eine politische Leistung der Herrschaftsschichten (des Königtums, s. II: 143), emphatisch so schon in seiner Einleitung zur Servatius-Ausgabe (1910).
Q: V; DBE; IGL (C. Bubenik); Nachruf von R. Newald in: Forschungen u. Fortschritte Jg. 15 (Nr. 19)/1939: 256.
[1] Amberg: Böes 1904. Identisch mit zwei Kapiteln des später unter gleichem Titel vollständig veröffentlichten Werkes.
[2] München: Wild 1905.
[3] Als Bischof von Tongeren (bei Maastricht) aus dem 4. Jahrhundert eine legendäre Gestalt, die vor allem in den Kämpfen mit den Hunnen zu einer politischen Figur geworden war. Neben der lateinischen Überlieferung hatte diese Legende schon bei Heinrich von Veldecke am Ende des 12. Jahrhunderts eine literarische Form gefunden (nur fragmentarisch überliefert).
[4] München: Beck 1910.
[5] Im Vorwort stilisiert er sich selbst als jemand, der schon mit 12 Jahren begonnen hatte, sich »mit Germanistik zu beschäftigen« und schon Textausgaben unternahm, »bevor (er) die Universität bezog« (S. 9*). Ausdrücklich bescheinigt er sich den Mut zu seinem Unternehmen angesichts des germanistischen mainstreams.
[6] Siehe Bubenik (Q). Politisch gehörte er zu national-konservativen und monarchistischen Kreisen s. ebd.
[7] Lahr: Schauenburg 1925 ff.
[8] Der von ihm bearbeitete 1. Band erschien vollständig Lahr: Schauenburg 1932; postum erschienen die Folgebände 2/1943 (R. Newald, Hg.), 3/1957, 4/1963, 5/1963 (alle H. de Boor/ D. Hacke, Hgg.). Laut Vorwort Bd. 1 hatte er mit den Arbeiten an der Edition 1907 begonnen.
[9] Teile dieser Einleitung muß er schon vor 1920 redigiert haben, da er sich hier noch als Privatdozent bezeichnet (8*).
[10] München: Callwey 1914.
[11] Bd. 1. München: Callwey 1920, Bd. II 1921.