Birnbaum, Henrik
Geb. 13.12.1925 in Breslau, gest. 30.4.2002 in Los Angeles.
B. ging 1933 mit dem Vater Immanuel B., der als Publizist im Umfeld der Sozialdemokratie tätig war, nach Polen (der Vater und Geschwister hatten Verbindung zu polnischen und deutschen Widerstandsgruppen bzw. waren dort aktiv); 1939 Flucht über Lettland und Finnland nach Schweden (1940). In Stockholm (mit schwed. Stipendium) Studium der slawischen Philologie. 1952 Magister, 1954 Staatsexamen; danach wohl zunächst im Schuldienst in Schweden. In dieser Zeit Forschungsreisen in die Sowjetunion und nach Jugoslawien; 1958 Promotion, danach Dozent f. Slavistik an der Univ. Stockholm. 1961 in die USA: zunächst als Gastdozent in Harvard, dann an der UCLA in Los Angeles, 1962-1966 Professur f. Slavistik an der Univ. München,[1] danach wieder UCLA, zeitweise in Verbindung mit Forschungstätigkeit bei der RAND Corp. 1972-1973 war er in der schwedischen Armee.
B. war einer der zentralen US-amerikanischen Slavisten (auch auf der Organisationsebene), wie insbes. seine Herausgebertätigkeit von zahlreichen slavistischen Kongreßakten dokumentiert. Sein Forschungsgebiet umfaßt die alte philologische Einheit des Faches (entsprechend dem Profil des »kleinen Faches« auch unter den Bedingungen der US-Universitäten), hatte aber deutlich einen sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt. Die Dissertation (»Untersuchungen zu den Zukunftsumschreibungen mit dem Infinitiv im Altkirchenslawischen«)[2] zeigt den gründlichen Philologen, der ein umfangreiches Corpus (nicht nur Altkirchenslavisch, zur Kontrolle auch Altrussisch, s. dazu bes. S. 58) auswertet, das er zuvor auch in stilistischer Hinsicht detailliert analysiert hat. Die Entwicklung der komplexen Verbalstrukturen beschreibt er formal und analysiert sie sowohl im Horizont der Dynamik der indoeuropäischen Sprachen wie i. S. einer »Kontaktlinguistik« (mit Bezug auf U. Weinreich, S. 14, Anm. 282) im Feld der Balkansprachen. Dabei trennt er die Dynamik dieser Sprachbundentwicklung von den direkten Einflüssen des Griechischen bei den frühen Übersetzungsdenkmälern. In diesem Sinne hatte er schon in einer frühen Studie die Parallelen im Germanischen und Slawischen verfolgt.[3]
In den folgenden Jahren bearbeitete er das gesamte Feld der Slavistik. Die historisch orientierten sprachwissenschaftlichen Forschungen betrieb er in zunehmend weiterem Horizont der vergleichenden indoeuropäischen Sprachwissenschaft auf allen Beschreibungsebenen von der Phonologie bis zur Syntax, bemüht einerseits um eine philologische Kontrolle der Quellen (mit der Klärung des problematischen Status des Altkirchenslawischen für die Rekonstruktion), unter Einbeziehung der jüngeren Methodendiskussion, etwa der Laryngaltheorie. Dabei bettet er die deskriptiven Befunde in einen kulturgeschichtlichen Rahmen ein und kann so die inkongruenten Dynamiken der Ausgliederung des Slavischen aufzeigen (»spontane« Dynamik der Sprachentwicklung vom Indo-Europäischen her, mit eingeschriebener typologischer Reorganisation vs. kulturelle Reartikulation etwa durch die konfessionelle Polarisierung: katholisch im Westen [Polen, Tschechen, Slowenen, Kroaten] vs. orthodox im Osten [Russen, Bulgaren, Serben]). R. Jakobson hat eine Auswahl der einschlägigen Arbeiten als »Meilenstein« in der Entwicklung der Slavistik betitelt.[4]
Die Balkanslavinen bildeten weiterhin einen Schwerpunkt seiner Forschungen, auch als Folie für die gegenwärtigen politischen Polarisierungen, etwa Kroatisch vs. Serbisch oder Mazedonisch vs. Bulgarisch: »The linguistic type of Old Church Slavonic viewed in the perspective of time and space«.[5] Hier hat er auch kultur- bzw. literaturgeschichtliche Überblicke vorgelegt, so etwa in seinem eigenen Beitrag »Byzantine Tradition Transformed: The Old Serbian Vita«, zu dem von ihm selbst mitherausgegeben Kongreß-Band »Aspects of the Balkans. Continuity and Change«,[6] wo er anhand der altserbischen biographischen Literatur die Verquickung von byzantinischer und altkirchenslavischer Traditionen mit der oralen Literatur der Serben zeigt, die zu einer zum mitteleuropäischen »Hochmittelalter« um 2 bis 3 Jahrhunderte »versetzten« Blütezeit im 13.-15. Jhd. geführt hat. In den letzten Jahren unternahm er auch historische Studien zu diesem Raum, insbesondere zu Dubrovnik und parallel auch zu Nowgorod als einem anderen frühmodernen urbanen Zentrum in der slavischen Welt.[7] Beide Stadtrepubliken (Nowgorod im Mittelalter, 1100-1478; Dubrovnik, 1030-1808, mit der Blütezeit der Renaissance und im Barock) charakterisierte er in kulturhistorischen Abrissen als spezifische Formen der Kulturentwicklung der slavischen Völker.[8]
Die umfassende Durchdringung seines Forschungsgebietes dokumentiert sich auch in B.s Handbuch »Common Slavic. Progress and Problems in its Reconstruction«,[9] das sich auf eine fast 100 Seiten starke Bibliographie stützt. Speziellere Einzeluntersuchungen behandeln zunehmend südslawische Probleme im Horizont der Balkansprachen (insbes. des Slowenischen). Zusammen mit Jos Schaecken publizierte er die ersten beiden Bände eines umfassenden Handbuchs des Altkirchenslawischen: »Die altkirchenslavische Schriftkultur. Geschichte – Laute und Schriftzeichen – Sprachdenkmäler«[10] (als Bd. II ausgewiesen) sowie »Das altkirchenslavische Wort. Bildung – Bedeutung – Herleitung«.[11] Dort findet sich eine systematische Rezension der Quellen, eine Diskussion der Probleme der Schrift und eine Darstellung des historischen/kulturellen Hintergrunds; ausführlich diskutiert wird die phonologische Analyse, passim in Auseinandersetzung mit Trubetzkoy. Ein weiterer Band zur Flexion wird dort angekündigt.
Seine literarisch orientierten Arbeiten erlauben ihm gelegentlich eine mehr oder weniger direkte Bearbeitung seiner eigenen Exilanten-Biographie: So z.B. in seinem Interpretationsversuch »Doktor Faustus und Doktor Schiwago. Versuch über zwei Zeitromane aus Exilsicht«[12] - nicht nur in dem Bemühen, die Exilproblematik zu klären, hier im Gegensatz von US-Exil bei Th. Mann und »innerem Exil« bei B. Pasternak,[13] sondern auch der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in beider frühem Werk. Seine breite fachliche Ausrichtung, die noch den Zuschnitt des philologischen Faches zeigt, spiegelt sich auch in den Beiträgen zu seiner Festschrift 1985: Von den 35 dort versammelten Arbeiten der internationalen slawistischen Prominenz sind immerhin 7 literaturwissenschaftlich-kulturgeschichtlich ausgerichtet. Schließlich hat er auch semiotisch umfassend angelegte Beiträge vorgelegt, die auch literaturtheoretische Ansätze reflektieren, so etwa »Überlegungen zur Sprach- und Wortkunstforschung jenseits des Strukturalismus«.[14]
Die Erweiterung des historisch-vergleichenden Horizonts über die Slawinen hinaus machte aus B. einen der wichtigsten Indogermanisten der USA, der vor allem auch mit der Organisation von Konferenzen und der Publikation von Sammelbänden zu deren Aufschwung dort maßgeblich beitrug, s. etwa von ihm gemeinsam mit J. Puhvel hg. »Ancient Indo-European Dialects«.[15] Im Horizont der in jüngster Zeit wieder aktuellen Versuche, zu »Prärekonstruktion« vertrat er »nostratische« Positionen, die das Indo-Europäische in einen Zusammenhang mit dem Uralischen, Altaischen, Kartvelischen und auch den afro-asiatischen Sprachen stellen. Ausgehend von den Problemen der »Balkanphilologie« bearbeitete er zunehmend typologische Fragen und bemühte sich, die europäische Fachtradition (bes. Hjelmslev, aber z.B. auch die Prager Arbeiten zur funktionalen Satzperspektive) mit neueren sprachwissenschaftlichen Entwicklungen, insbes. der Generativen Grammatik, zu vermitteln, so seine etwas aufgesetzt wirkende Argumentation mit den in den Beschreibungen zu explizierenden »Tiefenstrukturen« in seinen »Problems of Typological and Genetic Linguistics. Viewed in a Generative Framework«[16] - immerhin figuriert dieser Versuch als Referenz in neueren typologischen Arbeiten.[17]
B. war ein ungemein produktiver Forscher, der neben eigenen Forschungen vor allem auch eine umfassende Referatetätigkeit entfaltete: Sein Schriftenverzeichnis in der Festschrift 1985 umfaßte bereits 263 Titel (die Nachrufe sprechen von über 400 Titeln). Sein quasi institutioneller Rang im Fach zeigt sich nicht nur in seinen erwähnten organisatorischen Aktivitäten, sondern auch in seiner vielfältigen Herausgeberschaft, wie etwa der mit großer deutscher (deutschsprachiger) und schwedischer Beteiligung von ihm mitbetreuten Festschrift für V.A. Issatschenko.[18] Für die neuere typologische Diskussion wichtig sind auch seine syntaktischen Studien, so wenn er in »Odmah - a shifter of Serbo-Croatian in intralingual and contrastive perspective«[19] ausgehend von Jakobsons Shifter-Kategorie den Ausbau des Systems temporaler Markierungen, hier einer Partikel zur Artikulation der unmittelbaren Zukunft, innerhalb der Slawinen im Vergleich mit den westeuropäischen Sprachen analysiert.
Q: BHE; Am. Who's Who 1982/83; Bibliographie in der von M. S. Flier/D. S. Worth hgg. FS: »Slavic Linguistics, Poetics, Cultural History«.[20] Nachrufe: H. Andersen. in: Scando-Slavica Tomus 48/2002: 147-148; V. Ivanov, in: www.universityofcalifornia.edu/senate/inmemoriam/HenrikBirnbaum.htm (Jan. 2009); sowie in der Gedenkschrift, M. S. Flier u.a. (Hgg.), »H. B. in Memoriam«, Bloomington/Ind.: Slavica 2006 die Vorbemerkung der Herausgeber, S. vii-viii.
[1] Wo der Vater zu dieser Zeit Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung war, nebenberuflich Dozent f. Journalistik an der Universität.
[2] Stockholm: Almquist & Wiksell 1958.
[3] »Zum periphrastischen Futurum im Gotischen und Altkirchenslavischen«, in: Byzantinoslavika 17/1957: 77-81.
[4] S. sein Vorwort zu B.s »On Medieval and Renaissance Slavic Writing. Selected Essays«, Den Haag: Mouton 1974.
[5] In: Scando-Slavica 36/1990: 115-130.
[6] (= Intern. Balkan Conf., UCLA 1969), Den-Haag: Mouton 1972.
[7] Sein persönliches Engagement drückte sich auch darin aus, daß er das interuniversitäre Studienzentrum in Dubrovnik mitorganisierte (1974-1978, dann wieder ab 1995).
[8] Z.B. »Novgorod and Dubrovnik«, Zagreb: Jugoslavenskoj Akademiji 1989.
[9] Cambridge/Mass.: Slavica 1975.
[10] München: Sagner 1999.
[11] München: Sagner 1997.
[12] Lisse: P. de Ridder 1976.
[13] Mit dem er 1959 dazu ein Interview geführt hat, das wohl über den väterlichen Konnex in der Süddeutschen Zeitung erschien, s. dazu auch den Nachruf von Ivanov (Q).
[14] J. Albrecht (Hg.), »Energeia u. Ergon« (Festschrift E. Coseriu), Tübingen: Narr 1988: 259-266 - mit kritischen Seitenhieben gegen den dort gefeierten Coseriu. Zu seinen Beiträgen zur Semiotik, z.B. gemeinsam mit V. Ivanov, s. dessen Nachruf (Q).
[15] Berkeley: Univ. California Press 1966.
[16] Den Haag: Mouton 1970.
[17] Etwa den von P. Ramat 1976 hg. Band »La tipologia Linguistica. Saggi di H. Birnbaum et alii«, Bologna: Il Mulino 1976.
[18] »Slavica. Studia Linguistica Alexandro Vasilii Filio Issatschenko a Collegis Amisque oblata«, Lisse: de Ridder 1978. B.s eigener Beitrag dort zeigt seine Selbsteinschätzung schon im Titel »To Be or Not To Have: Some Notes on Russian Surface Data and their typological and universal implications«, (S. 27-34).
[19] In: V. Ivir/D. Kalogjera (Hgg.), »Languages in Contact and Contrast«, Berlin: Mouton 1991: 61-68.
[20] Columbus/Ohio: Slavica 1985.