Fraenkel, Ernst Eduard Samuel
Nach dem Abitur 1899 Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft und der klassischen Philologie in Berlin und Bonn. Als Lehrer wurde für ihn W. Schulze bestimmend, bei dem er 1905 promovierte. Die Dissertation (»Griechische Denominativa in ihrer geschichtlichen Entwicklung und Verbreitung«)[1] zeigt die für Schulze charakteristische Verbindung von philologisch-akribischer Materialaufbereitung auch entlegener Quellen und vergleichender Rekonstruktion, die gegen junggrammatische Schematisierungen vor allem die Inhomogenität der Überlieferung in Rechnung stellt. Nach dem Militärdienst setzte F. sein Studium zunächst in Leipzig fort (der Vater, Professor der Medizin, machte wohl die Existenz eines Privatgelehrten möglich), wo er sich vor allem bei Leskien in den Bereich des Balto-Slawischen einarbeitete.
1909 habilitierte er in Kiel mit einer Arbeit, die an die Dissertation anschließt: »Geschichte der griechischen Nomina agenti auf -ter,-tor, -tes (-t-)«;[2] die Habilitationsschrift, publiziert als erster Band (1910), bietet wiederum eine umfassende Materialerfassung, sowohl der literarischen wie der inschriftlichen Überlieferung; hinzu kam ein zweiter Band (1912) mit einer Theorie der Wortbildung, die er später in einer Reihe von Aufsätzen weiterführte. Auch sonst blieb das Griechische weiterhin eines seiner Hauptarbeitsgebiete: in seiner Lehre[3] behandelte er es wohl kontinuierlich (neben anderen Gebieten der Indogermanistik, u.a. dem Altitalischen, Altindischen...); außer weiteren Aufsätzen dazu arbeitete er auch an der Herausgabe der griechischen (Dialekt-)Inschriften mit. Der Einfluß W. Schulzes ist auch bei anderen Arbeitsgegenständen deutlich: er behandelte kulturgeschichtlich das »Namenwesen« im Griechischen und Lateinischen und in seinen späteren Jahren das Tocharische (s.u.).
Nach dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg trat F. 1918 eine a.o. Professur an der Universität Kiel an, der 1920 die Ernennung zum o. Professor für vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft folgte. Seitdem wurde das Baltische immer mehr zu seinem Hauptarbeitsgebiet, vor allem auch auf der Grundlage von regelmäßigen Forschungsreisen, die er sowohl zu Dialektstudien wie zu philologischer Arbeit in den dortigen Archiven und Bibliotheken nutzte (wo er in den Landessprachen auch Vorträge hielt und publizierte). Diese Schwerpunktsetzung wurde auch bei seiner ausgedehnten Rezensionstätigkeit deutlich, wo er auch allgemein ausgerichtete Werke in der Hauptsache in Hinblick auf Balto-Slawisches besprach (z.B. seine Rezension von J. Lohmann, Genus und Sexus, 1932).[4] Allerdings sind ihm umgekehrt auch Beiträge zu baltisch-slawischen Einzelerscheinungen Anlaß für weitausgreifende sprachvergleichende Betrachtungen, s. etwa »Zur Distanzmetathese besonders im Litauischen«,[5] wo er Parallelen vom Althochdeutschen bis zum Hethitischen anführt.
In »Der prädikative Instrumental im Slawischen und Baltischen und seine syntaktischen Grundlagen«[6] analysiert er eine auffällige balto-slawische Besonderheit: die Markierung prädikativer Funktionen mit einem Instrumentalsuffix.[7] Mit einer umfangreichen Belegsammlung sowohl der ältesten Überlieferung wie aus heutigen Dialekten macht er hier den strukturalen Umbau im Sinne dessen, was Sapir drift nannte, plausibel – insofern auch parallele Entwicklungen, die die Annahme von Kontakteinflüssen (Deutsch, auch Finnisch...) nur bei abweichenden Strukturen nötig machen. Noch deutlicher ist diese Herangehensweise bei seiner noch breiter angelegten Analyse der Herausbildung der Muster komplexer Satzbildung, bei der er systematisch Strukturen der gesprochenen Sprache (bei ihm »Volkssprache«) denen der (normierten) geschriebenen Sprache (bei ihm »Bildungssprache«) gegenüberstellt: »Zur Parataxe und Hypotaxe im Griechischen, Balto-slawischen und Albanischen«.[8] Er diskutiert die grammatikalisierten Muster: die Reanalyse adverbialer Adjunkte als Subjunktoren, Formen der Ellipse und Haplologie als Ausgang für asyndetische Subordination, die Umnutzung von koordinierenden Partikeln zur Subjunktoren,[9] außer den im Titel genannten Sprachen mit Parallelen aus dem Romanischen (mit Verweis auf Spitzer, S. 297), germanischen Sprachen (Dänisch, Friesisch) usw.
Ein Schwerpunkt war für ihn die Herausbildung der litauischen Schriftsprache (vergleichbar bei E. Hermann), was ihn dazu brachte, systematisch auch syntaktische Fragen zu bearbeiten, denen er z.B. in Untersuchungen zu Übersetzungen nachging, s. etwa »Sprachliche, besonders syntaktische Untersuchungen des kalvinistischen litauischen Katechismus des Malcher Pietkiewicz von 1598«[10] (hier insbesondere in Hinblick auf Interferenzen aus der polnischen Vorlage). Im argumentativen Rahmen ist er um einen Abgleich mit allgemeinen theoretischen Konzepten bemüht, s. seine von ihm selbst als semasiologisch deklarierte Studie »Konkurrenz von Präpositionen und Bedeutungserweiterung der Einen auf Kosten der Anderen in den indogermanischen Sprachen«.[11]
Obwohl er im Horizont der junggrammatischen historisch-vergleichenden Grammatik arbeitete, war F. ein strikter Deskriptivist, wie auch bei seiner Besprechung des Handbuchs zum Tocharischen von Sieg/Siegling (1931)[12] deutlich wird, bei dem er Fragen der historischen Rekonstruktion (Etymologie) der Rekonstruktion der synchronen Verhältnisse unterordnet (s. explizit S. 2). Mit Parallelen aus jüngeren i.e. Sprachentwicklungen (z.B. Rumänisch, hier mit Verweis auf Tiktin, S. 3, vor allem aber aus dem Balto-Slawischen) zeigt er das Tocharische als eine fortgeschrittene Form des Umbaus in dieser Sprachfamilie, die die ansonsten gerne angeführten Substrat- bzw. Kontakteinflüsse weitgehend überflüssig macht (mit Parallelen auch bei auf den ersten Blick relativ »exotischen« Bildungen wie z.B. bei den Imperativen, S. 224-225).
1936 wurde er aus rassistischen Gründen entlassen – relativ geschützt einerseits durch seinen »Frontkämpfer«-Status, andererseits durch seine »arische« Ehefrau. Das Ehepaar zog nach Hamburg, und viel spricht dafür, daß er die Jahre der Repression reichlich weltfremd für eine ungestörte Arbeitsklausur genutzt hat,[13] bei der er es auch schaffte, an entlegener Stelle im Ausland (Finnland, Litauen...) weiterhin zu publizieren (in Deutschland hatte er seit 1938 Publikationsverbot) – mit einem verblüffenden Überblick über die internationalen Neuerscheinungen, so etwa in seinem Literaturüberblick »Die baltische Sprachwissenschaft in den Jahren 1938-1940«.[14]
Eher zufällig (s. Nachruf von Scholz [Q], S. 563) entging er zuletzt noch dem Abtransport ins Konzentrationslager. 1945 wurde er gleich nach Kriegsende in Kiel mit der Leitung des Seminars für Vergleichende Sprachwissenschaft beauftragt – bis zu seiner Emeritierung 1954. Er publizierte weiter umfassend in der vergleichenden indoeuropäischen Sprachwissenschaft – vor allem aber zum Balto-Slawischen: 1950 erschien ein Studienbuch »Die baltischen Sprachen. Ihre Beziehung zueinander und zu den indogermanischen Schwesteridiomen als Einführung in die baltische Sprachwissenschaft«,[15] das die Ausgliederungsprobleme auf allen sprachlichen Ebenen, von der Lautlehre bis zu Syntax und dem Lexikon behandelt. Ein großer Teil seines Œuvres ist etymologischen Problemen gewidmet; seinen Abschluß fand das in dem von 1955-1962 erschienenen »Litauischen Etymologischen Wörterbuch«.[16]
Q: V; Stammerjohann (B. Schlerath); DBE 2005; Nachruf von F. Scholz, in: Orbis 5/1965: 561-569 (mit Teilbibliographie); mündliche Hinweise von M. Mayrhofer und W. Winter.
[1] Teildruck = »Buch I«, Göttingen: Huth 1905.
[2] 2 Bde., Straßburg: Trübner 1910-1912.
[3] Überprüft von mir für die spätere Hamburger Zeit.
[4]In: Idg. F. 53/1935: 49-54.
[5] In: »FS Vasmer« (hgg. von M. Woltner/H. Bräuer), Wiesbaden: Harrassowitz 1956: 151-158.
[6] In: Arch. f. Slav. Ph. 40/1926: 77-117.
[7] Gegen die Ø-Markierung (oder adverbialen Markierung) in den westeuropäischen Sprachen: vgl. russ. on vypil čai xolodnym (xolodn-ym »kalt-INSTRUMENTAL«) mit dt. er trank (den) Tee kalt.
[8] In: Idg. F. 43/1926: 290-315.
[9] Beispiel: dän. glem ikke og gå..., »vergiß nicht zu gehen...« (og »und«).
[10] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1947.
[11] In: FS J. Schrijnen 1929: 356-363.
[12] In. Idg. F. 50/1932: 1-20, 97-108, 220-231.
[13] So die Einschätzung von W. Winter (pers. Mitteilung).
[14] In: Ann. Acad. Scient. Fenn. B, 51: 1, Helsinki: Akademie 1941.
[15] Heidelberg: Winter.
[16] Heidelberg: Winter.