Fraenkel, Ernst Eduard Samuel 

Geb. 16.10.1881 in Berlin, gest. 2.10.1957 in Ham­burg.

 

Nach dem Abitur 1899 Studium der ver­gleichenden Sprach­wissenschaft und der klassi­schen Philologie in Berlin und Bonn. Als Lehrer wurde für ihn W. Schulze bestimmend, bei dem er 1905 promo­vierte. Die Disserta­tion (»Griechische Denomina­tiva in ihrer geschichtlichen Entwick­lung und Verbrei­tung«)[1] zeigt die für Schulze charakteristische Verbindung von philologisch-akribi­scher Materialauf­bereitung auch entlege­ner Quellen und vergleichender Rekonstruktion, die gegen junggrammati­sche Schemati­sierungen vor allem die Inho­mogenität der Überliefe­rung in Rechnung stellt. Nach dem Mi­litärdienst setzte F. sein Studium zunächst in Leipzig fort (der Va­ter, Professor der Medizin, machte wohl die Exi­stenz ei­nes Privatgelehrten möglich), wo er sich vor al­lem bei Les­kien in den Bereich des Balto-Slawi­schen einarbei­tete.

1909 habilitierte er in Kiel mit einer Ar­beit, die an die Disserta­tion anschließt: »Geschichte der grie­chischen Nomina agenti auf -ter,-tor, -tes (-t-)«;[2] die Habilitati­onsschrift, publiziert als erster Band (1910), bietet wiederum eine umfassende Materialerfas­sung, sowohl der literarischen wie der in­schriftlichen Überlieferung; hinzu kam ein zweiter Band (1912) mit einer Theorie der Wortbil­dung, die er später in einer Reihe von Aufsätzen weiter­führte. Auch sonst blieb das Griechische wei­terhin eines seiner Haupt­arbeitsgebiete: in seiner Lehre[3] behandelte er es wohl kontinu­ierlich (neben anderen Gebieten der Indogerma­nistik, u.a. dem Al­titalischen, Altindi­schen...); außer weiteren Aufsätzen dazu arbei­tete er auch an der Herausgabe der griechischen (Dialekt-)In­schriften mit. Der Einfluß W. Schulzes ist auch bei an­deren Arbeitsgegenstän­den deutlich: er behan­delte kultur­geschichtlich das »Namenwesen« im Grie­chischen und Lateini­schen und in seinen späte­ren Jahren das Tocha­rische (s.u.).

Nach dem Militärdienst im Ersten Welt­krieg trat F. 1918 eine a.o. Professur an der Universität Kiel an, der 1920 die Ernennung zum o. Professor für verglei­chende indogermanische Sprachwissen­schaft folgte. Seitdem wurde das Baltische immer mehr zu seinem Hauptarbeitsge­biet, vor allem auch auf der Grundlage von re­gelmäßigen Forschungsreisen, die er sowohl zu Dialektstudien wie zu philologischer Arbeit in den dortigen Archiven und Bi­bliotheken nutzte (wo er in den Lan­dessprachen auch Vor­träge hielt und publi­zierte). Diese Schwerpunktsetzung wurde auch bei sei­ner ausgedehnten Rezensionstätig­keit deutlich, wo er auch allgemein ausgerich­tete Werke in der Hauptsache in Hinblick auf Balto-Slawisches be­sprach (z.B. seine Rezen­sion von J. Lohmann, Genus und Sexus, 1932).[4] Allerdings sind ihm umgekehrt auch Bei­träge zu baltisch-slawischen Einzelerscheinungen An­laß für weitausgreifende sprachvergleichende Be­trachtungen, s. etwa »Zur Distanzmetathese be­sonders im Litau­ischen«,[5] wo er Parallelen vom Althoch­deutschen bis zum Hethiti­schen an­führt.

In »Der prädikative Instrumental im Slawischen und Baltischen und seine syntaktischen Grundlagen«[6] analysiert er eine auffällige balto-slawische Besonderheit: die Markierung prädikativer Funktionen mit einem Instrumentalsuffix.[7] Mit einer umfangreichen Belegsammlung sowohl der ältesten Überlieferung wie aus heutigen Dialekten macht er hier den strukturalen Umbau im Sinne dessen, was Sapir drift nannte, plausibel – insofern auch parallele Entwicklungen, die die Annahme von Kontakteinflüssen (Deutsch, auch Finnisch...) nur bei abweichenden Strukturen nötig machen. Noch deutlicher ist diese Herangehensweise bei seiner noch breiter angelegten Analyse der Herausbildung der Muster komplexer Satzbildung, bei der er systematisch Strukturen der gesprochenen Sprache (bei ihm »Volkssprache«) denen der (normierten) geschriebenen Sprache (bei ihm »Bildungssprache«) gegenüberstellt: »Zur Parataxe und Hypotaxe im Griechischen, Balto-slawischen und Albanischen«.[8] Er diskutiert die grammatikalisierten Muster: die Reanalyse adverbialer Adjunkte als Subjunktoren, Formen der Ellipse und Haplologie als Ausgang für asyndetische Subordination, die Umnutzung von koordinierenden Partikeln zur Subjunktoren,[9] außer den im Titel genannten Sprachen mit Parallelen aus dem Romanischen (mit Verweis auf Spitzer, S. 297), germanischen Sprachen (Dänisch, Friesisch) usw.

Ein Schwer­punkt war für ihn die Herausbil­dung der li­tauischen Schriftsprache (vergleichbar bei E. Hermann), was ihn dazu brachte, sy­stematisch auch syntaktische Fra­gen zu bearbeiten, denen er z.B. in Untersuchungen zu Übersetzungen nachging, s. etwa »Sprachliche, be­sonders syntaktische Untersu­chungen des kalvinisti­schen litauischen Kate­chismus des Malcher Pietkie­wicz von 1598«[10] (hier insbesondere in Hinblick auf Interferenzen aus der polnischen Vorlage). Im argumentativen Rahmen ist er um einen Abgleich mit allgemeinen theoretischen Konzepten bemüht, s. seine von ihm selbst als semasiologisch deklarierte Studie »Konkurrenz von Präpositionen und Bedeutungserweiterung der Einen auf Kosten der Anderen in den indogermanischen Sprachen«.[11]

Obwohl er im Horizont der junggrammatischen historisch-vergleichenden Grammatik arbeitete, war F. ein strikter Deskriptivist, wie auch bei seiner Besprechung des Handbuchs zum Tocharischen von Sieg/Siegling (1931)[12] deutlich wird, bei dem er Fragen der historischen Rekonstruktion (Etymologie) der Rekonstruktion der synchronen Verhältnisse unterordnet (s. explizit S. 2). Mit Parallelen aus jüngeren i.e. Sprachentwicklungen (z.B. Rumänisch, hier mit Verweis auf Tiktin, S. 3, vor allem aber aus dem Balto-Slawischen) zeigt er das Tocharische als eine fortgeschrittene Form des Umbaus in dieser Sprachfamilie, die die ansonsten gerne angeführten Substrat- bzw. Kontakteinflüsse weitgehend überflüssig macht (mit Parallelen auch bei auf den ersten Blick relativ »exotischen« Bildungen wie z.B. bei den Imperativen, S. 224-225).

1936 wurde er aus rassistischen Gründen entlas­sen – rela­tiv ge­schützt einerseits durch seinen »Frontkämpfer«-Status, an­dererseits durch seine »arische« Ehefrau. Das Ehepaar zog nach Ham­burg, und viel spricht dafür, daß er die Jahre der Repres­sion reichlich weltfremd für eine un­gestörte Ar­beitsklausur genutzt hat,[13] bei der er es auch schaffte, an entlegener Stelle im Aus­land (Finnland, Litauen...) weiter­hin zu publizieren (in Deutsch­land hatte er seit 1938 Publikati­onsverbot) – mit einem verblüf­fenden Überblick über die internationalen Neuerscheinungen, so etwa in seinem Literaturüber­blick »Die balti­sche Sprachwissen­schaft in den Jah­ren 1938-1940«.[14]

Eher zufällig (s. Nachruf von Scholz [Q], S. 563) ent­ging er zu­letzt noch dem Abtransport ins Konzentra­tionslager. 1945 wurde er gleich nach Kriegsende in Kiel mit der Leitung des Seminars für Vergleichende Sprach­wissenschaft beauftragt – bis zu seiner Emeritierung 1954. Er publizierte weiter umfassend in der verglei­chenden indoeu­ropäischen Sprach­wissenschaft – vor allem aber zum Balto-Slawi­schen: 1950 erschien ein Studi­enbuch »Die baltischen Sprachen. Ihre Beziehung zueinander und zu den indogermanischen Schwe­steridiomen als Einführung in die baltische Sprachwis­senschaft«,[15] das die Ausgliederungs­probleme auf allen sprachli­chen Ebenen, von der Lautlehre bis zu Syntax und dem Lexikon behan­delt. Ein großer Teil seines Œuvres ist etymo­logischen Pro­blemen ge­widmet; seinen Abschluß fand das in dem von 1955-1962 er­schienenen »Litauischen Etymologi­schen Wörterbuch«.[16]

Q: V; Stammerjohann (B. Schlerath); DBE 2005; Nachruf von F. Scholz, in: Orbis 5/1965: 561-569 (mit Teilbi­bliographie); mündliche Hin­weise von M. Mayr­hofer und W. Winter.



[1] Teildruck = »Buch I«, Göttingen: Huth 1905.

[2] 2 Bde., Straßburg: Trübner 1910-1912.

[3] Überprüft von mir für die spätere Hamburger Zeit.

[4]In: Idg. F. 53/1935: 49-54.

[5] In: »FS Vasmer« (hgg. von M. Woltner/H. Bräuer), Wiesbaden: Harrassowitz 1956: 151-158.

[6] In: Arch. f. Slav. Ph. 40/1926: 77-117.

[7] Gegen die Ø-Markierung (oder adverbialen Markierung) in den westeuropäischen Sprachen: vgl. russ. on vypil čai xolodnym (xolodn-ym »kalt-INSTRUMENTAL«) mit dt. er trank (den) Tee kalt.

[8] In: Idg. F. 43/1926: 290-315.

[9] Beispiel: dän. glem ikke og gå..., »vergiß nicht zu gehen...« (og »und«).

[10] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1947.

[11] In: FS J. Schrijnen 1929: 356-363.

[12] In. Idg. F. 50/1932: 1-20, 97-108, 220-231.

[13] So die Einschätzung von W. Winter (pers. Mitteilung).

[14] In: Ann. Acad. Scient. Fenn. B, 51: 1, Helsinki: Akademie 1941.

[15] Heidelberg: Winter.

[16] Heidelberg: Winter.