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Haas, William

 Geb. 28.5.1912 in Ostrawa/ČSSR (Mährisch-Ostrau), gest. 2.2.1997 in Manchester.

 

H. studierte an der Tschechischen Universität in Prag von 1930 bis 1936 Jura, schloß dieses Studium aber nicht ab, sondern wechselte 1937 an die (deutsche) Karlsuniversität, wo er auch bei den Vertretern des Prager Linguistenkreises hörte, die für seine weitere Entwicklung bestimmend wurden. Er war wie sein Vater in der Sozialdemokratie politisch aktiv und betätigte sich auch literarisch: 1938 publizierte er ein Theaterstück über die Französische Revolution: »Die große Revolution«.[1] Nach der Besetzung der ČSR 1938 (»Reichsprotektorat Böhmen und Mähren«) floh die Familie vor der drohenden politischen und auch vor der rassistischen Verfolgung (die Mutter war »nicht-arisch«) im Frühjahr 1939 illegal zunächst nach Polen, von dort dann nach England. H. arbeitete in verschiedenen Hilfsarbeiterjobs, bis er mit Unterstützung der tschechischen Exilregierung (in der sein Vater tätig war) sein Studium 1940 an der Universität Cardiff/Wales wieder aufnehmen konnte, und zwar sowohl in Philosophie und Germanistik, wo er das Studium mit dem B.A. und M.A. abschloß, wie auch mit einem Diplom in Politik- und Wirtschaftswissenschaften (für dieses Studium hatte er das tschechische Stipendium bekommen).

Von 1945 bis 1955 war er Lektor für Deutsch an der Universität Cardiff, worauf auch noch spätere Veröffentlichungen zum Deutschen zurückgehen, sowohl zur Sprachgeschichte im engeren Sinne wie auch zur Ideengeschichte im umfassenden Sinne; so ein mehrteiliger Aufsatz »Of living things«,[2] in dem er ausgehend von Goethes »Morphologie« den Gestaltbegriff als systematische Kategorie entwickelt, in der Hauptsache an literarischen Problemen (im Rückgang auf Herder und Schlegel), aber auch als Kategorie der vergleichenden Sprachwissenschaft im Gegensatz zu atomistischen deskriptiven Verfahren (merkwürdigerweise findet sich hier keine Anknüpfung an den Gestaltbegriff des Strukturalismus).

Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag bei sprachwissenschaftlichen Fragen, insbesondere bei der Methodologie. Dabei schreibt er die Prämissen der Prager Schule fort, bezieht sich aber auch auf andere europäische Traditionen, neben der Glossematik vor allem auf die britische Schule von Firth. Sein Konzept einer funktionalistischen Sprachanalyse, das sich gegen jede Form von Reduktionismus (logisch, psychologisch usw.) richtet, stellte er 1948 auf dem 6. Internationalen Linguistenkongreß vor.[3] Auch auf den folgenden internationalen Linguistenkongressen war er mit Beiträgen (oft auch mit kleineren Diskussionsbeiträgen) präsent. Er publizierte vor allem zu methodologischen Fragen, auch sprachphilosophische Entwürfe (seit 1951 wiederholt in den »Proceedings of the Aristotelian Society«). H. gehörte zu den Gründern der englischen Linguistics Association, deren Zeitschrift Journal of Linguistics er mitherausgab. Daneben produzierte er auch wissenschaftsjournalistische Darstellungen zu sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Fragen, z.B. in Vorträgen für die BBC. Von 1955 bis zu seiner Pensionierung 1979 war er zunächst Dozent, später Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Manchester.

In einer ganzen Reihe von Aufsätzen ging er das Problem der Bedeutungsanalyse an, wo er im Horizont der angelsächsischen Philosophie Bedeutung aus dem Sprachgebrauch entwickelte. In Weiterführung von Argumentationen, wie sie auch in der englischen Ethnologie entwickelt wurden (und von dort aus von Firth in der sog. »prosodischen Analyse« als operationales Verfahren umgesetzt wurden), entwickelte er ein Verständnis von Sprachstrukturen als Beschränkungen über den kommunikativen Verhaltensmöglichkeiten. In Abgrenzung von abstrakteren Herangehensweisen in der Saussureschen Tradition verstand er sprachliche Strukturen immer als sozial indizierte, als Beschränkungen gegenüber den naturgegebenen Bedingungen sprachlichen Handelns.

In der Prager Tradition lagen für ihn stilistische Fragen und (praktischer gewendet:) solche der Übersetzung nahe, mit denen er in seinen Arbeiten argumentierte. Sprachphilosophisch ambitioniert entwickelte er so die Prämissen einer systematischen Übersetzungstheorie, gegen die naiven Vorstellungen von einer konstant gehaltenen Bedeutung in verschiedenen sprachlich-formalen Verpackungen (»The theory of translation«).[4] Für ihn traf sich diese naive Vorstellung mit der, die an der Konstruktion logischer Sprachen orientiert ist. Ihr stellte er das entgegen, was für ihn eine genuin linguistische Bedeutungsanalyse ausmacht: paradigmatische Strukturen etwa i. S. der Trierschen Wortfelder, syntagmatische Strukturen von Kollokationen, aber auch konnotative Strukturen im weiteren Sinne. In diesem Sinne kann Übersetzung letztlich nur ein kreativer Prozeß des Nachschaffens in anderem sprachlichen Material sein.

Am stringentesten hat er diese Überlegungen im Horizont der Phonologie entwickelt, wo mit der Phonetik ein eindeutiger Bezugshorizont definiert ist, s. die gründliche methodologische Diskussion in: »Relevance in phonetic analysis«[5] – mit einer ausführlichen Kritik am Distributionalismus und dem expliziten Rückgriff auf die unterschiedlichen europäischen strukturalistischen Traditionen (nicht zufällig in der emigrantengeprägten US-amerikanischen Zeitschrift Word). Dazu entwickelte er umfangreichere Argumentationen in Rezensionsaufsätzen, so z.B. in einer ausführlichen Kritik an den Verfahren des Distributionalismus in einer Rezension des Buches von Hill.[6] Gegenüber einem grammatiktheoretischen Aufbau mit einer strikten Trennung der Ebenen, der im Sinne einer intendierten Reduktion auf die physikalische Qualität der Signale von unten nach oben operiert, forderte er eine Analyse von oben nach unten, also den Ausgang von semantischen, pragmatischen wie grammatischen Strukturen der höheren Ebenen. Formal entspricht das zwar den generativen Ableitungen bei den Chomskyanern, aber denen warf er vor, daß sie dabei die relative Autonomie von Zeichenstrukturen ignorieren, deren Rolle er nicht zuletzt in praktischen Kontexten wie z.B. denen der Übersetzung herausstellte. Das bestimmte auch später seine z.T. sehr scharfe Auseinandersetzung mit der generativen Grammatik.[7]

Sein Plädoyer für eine Analyserichtung »von oben nach unten« war durchaus im Sinne der jüngeren Diskussion in der »nicht-linearen« Phonologie, indem er betonte, daß die Definition von analytischen Einheiten notwendigerweise eine Klärung der strukturellen Voraussetzungen höherer Einheiten voraussetzt (wie es ja auch das Grundprinzip der »prosodischen Analyse« von Firth war, die in diesem Sinne in den neueren Arbeiten wiederentdeckt wird), s. sein Plädoyer für eine formale Modellierung sprachlicher Verhältnisse durch ihre Abbildung in Logiksprachen – im Gegensatz zu einer für ihn unsinnigen Ableitung von Äußerungsstrukturen aus logischen Strukturen (die für ihn der Grundtatsache: »Language is a social institution« widerspricht – vergleichbar bei Firth), s. »Linguistics 1930-1980«.[8]

Neben derartigen theoretischen/methodologischen Arbeiten standen aber auch solche mit einem deutlichen Anwendungsbezug, wie insbesondere einige Arbeiten zur Sprachpathologie, bei denen er gegen eine diagnostische Haltung, die nur die Abweichungen erfaßt, eine strukturelle Modellierung der »pathologischen« Leistungen stellte, so z.B. die exemplarische Analyse des phonologischen Konsonantensystems eines dyslalischen Jungen, das er zuerst intern rekonstruierte, um dann über die Abbildung auf das System der englischen Standardsprache Felder therapeutischer Interventionen zu gewinnen. Der Schwerpunkt lag auf der Unterscheidung einer rein lautlichen Analyse von der funktionalen Nutzung der Lautdiskriminierung: »Phonological analysis of a case of Dyslalia«.[9]

In den späteren Jahren wurde die Schriftanalyse zu einem Schwerpunkt seiner Arbeiten, womit er wiederum an die Prager Schule anschloß. In Manchester konnte er mit den Mitteln einer Stiftung des englischen Schriftreformers Mont Follick eine eige­ne Forschungsabteilung mit einer Buchreihe im Manchester Univ. Ver­lag und einer Gastvortragsreihe aufbauen; eingeladen waren hier andere Emigranten und Verfolgte mit ähnlicher Ausrichtung wie E. Pulgram und E. Grumach.[10] Eine sy­stematische Darstellung seiner Position gab er 1970 in monographischer Form in dieser Reihe: »Phono-graphic translation«, wo er die relative Autonomie der Schriftstruktur gegenüber der gesprochenen Sprache herausstellt, die auf deren Strukturen zwar zurückgreift (was strikt autonom argumentierenden Positionen widerspricht, in der Didaktik insbes. auch der Wortbildmethode, S. 80-81), aber gerade in Nicht-Korrespondenzen zu einer postulierten phonographi­schen Abbildung Sprachstrukturen für den Leser repräsentiert (S. 3ff., 69ff.). In seinem systematischen Beitrag »Writing: The basic options« in dem von ihm hg. Band »Writing without Letters«[11] setzte er sich auf der Folie seines ab­strakt entwickelten Modells (mit deutlichen terminologischen Anleihen bei der Glossematik) mit den verschiedenen Positionen zur Schriftent­wicklung auseinander; er zeigt, wie bei den durch komplexe Tradie­rungszusammenhänge immer inhomogenen Schriftsystemen die funktionalen Zwänge der Schriftpraxis als Grenzwerte der Entwicklung wir­ken. Vor diesem Hintergrund beschäftigte er sich mit der Reform der englischen Orthographie, wobei er (unter funktionali­stischen Prämissen folgerichtig) sprachlich-interne (insbes. pho­nographische) Gesichtspunkte mit »externen« Faktoren der Schrift­praxis (Kontinuität der Tradition; Kosten der Umstellung u. dgl.) abglich, s. seine Einleitung zu dem von ihm hg. Band »Alphabets for English«.[12]

Als in den 70er Jahren die orthogra­phische Analyse im Rahmen der generativen Grammatik »entdeckt« wurde, hat er seine Position in Auseinandersetzung mit deren linearen Ableitungsmechanismen präzisiert, die seiner Ansicht nach (bei allem theoretischen Interesse) den komplexen Verhältnissen des Rekurses auf verschiedene Ebenen des sprachlichen Wissens in der Schriftpraxis auf der einen Seite, den heterogenen Traditionszu­sammenhängen der jeweiligen Schriftsysteme auf der anderen Seite nicht gerecht werden.[13]

In Deutschland ist er in den späteren 70er Jahren entdeckt worden, im Kontext der damals einsetzenden neuen sprachwissenschaftlichen Forschung über Probleme von Schrift und Orthographie, wo er an der einflußreichen Konferenz über Schrift und Schriftsysteme teilnahm, die F. Coulmas und K. Ehlich 1980 in Bielefeld organisiert haben. Kontakte zur deutschsprachigen Sprachwissenschaft bestanden aber schon vorher, vor allem im Rahmen der Phonologiediskussion, für die die »Prager Schule« orientierend war. So war er im Vorbereitungskomitee der Wiener Internationalen Phonologietagung, die 1966 als Gedenkveranstaltung für Trubetzkoy veranstaltet wurde, s. im Vorwort der von J. Hamm herausgegebenen Akten: »Phonologie der Gegenwart«.[14] 1979 erhielt er eine Festschrift (Q).

Q: BHE; Lebenslauf und Schriftenverzeichnis bis 1979 in der Festschrift, D. J. Allerton u.a. (Hgg.), »Function and context in linguistic analysis. A Festschrift for William Haas«, Cambridge: UP 1979. Dazu hat die Prominenz der englischen Linguistik Beiträge beigesteuert;[15] Nachruf von D. A. Cruse in The Independent v. 5.3.1997. Lebensdaten von H. brieflich von seiner Tochter Ann McDonald.



[1] Das Werk war mir nicht zugänglich.

[2] In: German Life and Letters 10/1956-1957: 62-70; 85-96; 251-257.

[3] »General categories of language«, in: »Proceedings of the 6th International Congress of Linguistics [Paris 1948]«, Paris: Klincksieck 1949: 150-160.

[4] In: Philosophy 37/1962: 208-228.

[5] In: Word 15/1959: 1-18.

[6] »Linguistic Structures« [Rez. von A. Hill, »Introduction to linguistic structures«, New York 1958], in: Word 16/1960: 251-276.

[7] »Grammatical Prerequisites of Phonological Analysis«, in: »Phonologie der Gegenwart« (= Wiener slavistisches Jahrbuch, Band 6), Wien 1967: 227-241.

[8] In: J. Linguistics 14/1978: 293-308.

[9] In: J. Speech and Hearing Disorders 28/1963: 239-246 (auf der Basis eines Vortrags auf einem Kongreß englischer Sprachtherapeuten in Birmingham 1961).

[10] S. die redaktionelle Notiz zur Publikation von dessen Vortrag über kretische Schriftsysteme in dem Band »Writing without Letters«, Manchester: Manchester UP 1976: 45 (s.u.).

[11] In der gleichen Reihe 1976, hier S. 131-208.

[12] Manchester: Manchester UP 1969.

[13] S. »Determining the level of a script«, in: F. Coulmas/K. Ehlich (Hgg.), »Writing in Focus«, Berlin: Mouton 1983: 15-29.

[14] Graz usw.: Böhlau 1967 (hier S. 8).

[15] Von außerhalb: aus den USA Bolinger und aus Europa zwei Vertreter der Prager Schule im weiteren Sinne: A. Martinet (Paris) und J. Vachek (Prag).