Lenz, Rodolfo (Rudolf)
Geb.10.9.1863 in Halle, gest. 7.9.1938 in Santiago de Chile.
Nach dem Abitur 1882 in Metz (Lothringen) studierte L. die Neueren Philologien und vergleichende Sprachwissenschaft zunächst in Bonn, dann in Berlin. 1886 promovierte er in Bonn und unterrichtete danach zunächst auf einem Gymnasium in Köln, später in Wolfenbüttel (wohl mit dem Hauptfach Französisch). 1889 wurde er von der chilenischen Botschaft in Berlin für den Aufbau einer pädagogischen Hochschule in Santiago angeworben, wo er die Neueren Sprachen vertreten sollte. Seit Januar 1890 lebte er in Chile und unterrichtete an der pädagogische Hochschule, die er seit 1922 auch als Rektor leitete. Seit 1931 unterrichtete er auch als Hochschullehrer an der Philosophischen Fakultät in Santiago.
Sein primärer Arbeitsbereich war die Phonetik, in der er auch promovierte, Dissertation: »Zur Physiologie und Geschichte der Palatalen«.[1] Die Fremderfahrung in Chile war für ihn Anlaß, sich einen allgemeineren Horizont zu erschließen und die eurozentrischen Vorgaben seiner Ausbildung zu überwinden. So kam er auch zu einer Kritik des internationalen phonetischen Alphabets, ausgehend von speziellen Lautierungen der südamerikanischen Indianersprachen.[2] Vor diesem Hintergrund war er in der Bewegung für die Erneuerung des fremdsprachlichen Unterrichts engagiert, die auf eine stärkere Ausrichtung auf die gesprochene Sprache zielte. Dazu veröffentlichte er eine Vielzahl von wissenschaftspolitisch und auch didaktisch ausgerichteten Beiträgen, in Chile, aber auch in Europa, wo er 1922 eine größere Vortragsreise unternahm.
Entsprechend seinem relativ breiten Lehrgebiet arbeitete er sich systematisch in die damalige Allgemeine Sprachwissenschaft ein, von Anfang an mit einer typologischen Ausrichtung, bei der er sich vor allem an von der Gabelentz orientierte. Vor diesem Hintergrund entwickelte er eine systematische Kritik an Jespersens Theorie der Sprachentwicklung (dessen Buch »Progress in Language«, 1894), bei der er zwischen Denkstrukturen und Sprachstrukturen unterschied, mit dem Hinweis, daß sich Denkstrukturen vor allen Dingen ontogenetisch im Rückgriff auf Sprachstrukturen entwickeln, aber keine projektive Koppelung zwischen beiden besteht. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der derzeitigen Grammatikalisierungsdebatten sind seine z.T. mit detaillierten Beobachtungen an den südamerikanischen Indianersprachen plausibel gemachten Überlegungen aktuell, nach denen sprachliche Strukturen nur labile Lösungsmuster beim sprachlichen Umbau sind und typologische Charakteristiken wie isolierende Strukturen oder auch inkorporierende nur als aus der Dynamik zu abstrahierende Charakteristiken zu fassen sind, während die Sprachen selbst im Sinne einer charakterisierenden Typologie in einer solchen Dynamik zu betrachten sind.
Die Konsequenzen aus diesen Überlegungen zieht er für die Fremdsprachdidaktik, wo er sich in der gleichen Weise gegen verabsolutierende Vorgaben von Sprachen auf einer Skala »schwieriger Typen« wendet und stattdessen mit der Distanz zwischen der muttersprachlich gelernten Struktur und einer zu lernenden Struktur operiert (besonders detailliert auch hier wieder im Bereich der Phonetik, etwa mit einer Typologie von Silbenstrukturen im ersten Teil einer Aufsatzreihe)[3]. Auch seine Diskussion der Probleme des Bilingualismus hat nichts an Aktualität verloren: mit dem Hinweis auf seine eigenen biographischen Erfahrungen betont er dort, daß bilinguale Entwicklungen die Chance für ein analytisches Verhältnis zu Sprachproblemen bieten – in der Spannung zu Interferenzen bei pragmatischer ausgerichteten Sprachlernern. Mit dieser Ausrichtung verfaßte er auch ein allgemeines Lehrbuch der Sprachwissenschaft als Hintergrund für den Grammatikunterricht: »La oración y sus partes«,[4] das darauf zielt, das Modell der lateinischen Schulgrammatik zu überwinden und einen sprachtypologischen Horizont für den Sprachunterricht aufzubauen. Auch hier illustriert er seine Überlegungen ausführlich mit Beispielen aus südamerikanischen Indianersprachen.
Seine deskriptive Orientierung wird auch da deutlich, wo sein unmittelbarer Lehrauftrag lag, bei dem Umgang mit den Besonderheiten des chilenischen Spanischen. Hier interessierte er sich, im Gegensatz zu der in der Regel extrem konservativen Sprachpflege in den Kolonien, für die »volkssprachigen« Elemente und legte dazu früh systematische, empirisch fundierte Studien vor. Entsprechend der damaligen Substratdiskussion suchte er die Gründe für diese Besonderheiten im indianischen Einfluß. Diesen hatte er in frühen Arbeiten recht spekulativ mit dem Einfluß indianischer Kindermädchen in spanischen Familien plausibel zu machen versucht. Seit 1891 hat er dazu eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen vorgelegt, die 1940 (mit einem kritischen Kommentar von A. Alonso) nachgedruckt worden sind.[5] Die Naivität, mit der L. hier das normative Spanisch, das er in der Vorbereitung auf seine Auswanderung gelernt hatte, als etymologischen Hintergrund für das südamerikanische Spanisch annimmt, ist von dialektologisch orientierten Romanisten von Anfang an kritisiert worden, am deutlichsten von M. L. Wagner (s. bei diesem). L. hat in Einzelheiten später auf diese Kritik reagiert, aber an seiner Grundthese festgehalten.[6]
Seine Interessen verschoben sich später zunehmend direkt zu den Indianersprachen in Chile, die bei seinen frühen Arbeiten noch recht spekulativ vorkommen. Er forschte insbesondere bei den Mapuche.[7] Hier sammelte er Texte, die er vor dem Hintergrund einer sich offensichtlich geradezu freundschaftlich entwickelnden Beziehung zu seinen Hauptinformanten systematisch kommentierte.[8] Zunächst dominierten auch hier bei seinen Erläuterungen die phonetischen Interessen, über die später von ihm vorgenommene interlineare Glossierung kam er dabei auch zur grammatischen Analyse, vor allem aber zu eher volkskundlichen Anmerkungen, wobei er die Mitwirkung seines Hauptinformanten in den Publikationen herausstellt und diesen sogar im Titel mit aufführt.[9]
Der Hauptertrag dieser Arbeiten war ein etymologisches Wörterbuch des chilenischen Spanischen, mit dem Schwerpunkt bei den indianischen Elementen dort. Vorarbeiten dazu hatte er bereits in der Festschrift für seinen Lehrer Foerster vorgelegt: »Die indianischen Elemente im chilenischen Spanisch«.[10] 1904 begann er mit der Veröffentlichung des Wörterbuchs, das er 1910 mit einem Gesamtumfang von 938 Seiten abschloß.[11] Der einleitende Teil dieses Wörterbuchs enthält eine bemerkenswerte soziolinguistische Skizze der sprachlichen Verhältnisse in Chile. Im übrigen verweist der Titel dieses Wörterbuchs mit dem Vermerk: »Primera Parte« darauf, daß er diese Materialsammlung (vorwiegend »fachsprachliche« Termini von Pflanzen, Tieren, Heilmitteln u. dgl.) nur als eine Materialbasis ansah, auf die er eine systematische historische Grammatik des chilenischen Spanisch bauen wollte.[12]
Sein Horizont blieb aber nicht auf Chile beschränkt. In den Fußstapfen des von ihm verehrten Hugo Schuchardt arbeitete er auch über Kreolsprachen, die für seine Auseinandersetzung mit den Vorstellungen über Sprachursprung und Sprachentwicklung eine Schlüsselrolle hatten (s.o. auch zu seiner Kritik an Otto Jespersen). Auf einer Reise nach Venezuela 1921 untersuchte er das Papiamento, s. »El papiamento. La lengua criolla de Curazao. La gramática más sencilla«.[13]
Q: NDB; Stammerjohann; DBE 2005; A. M. Escudero, »R. L.«, in: Thesaurus 18/(Bogota) 1963: 445-484 (mit Bibliographie).
[1] Gütersloh: Bertelsmann 1887.
[2] In: Maître Phonetique 26/1911: 125-127.
[3] S. von ihm »Über Ursprung und Entwicklung der Sprache«, in: Die Neueren Sprachen 8/1900-1901: 449-472; 513-534; 577-589 und 9/1901: 1-12.
[4] Madrid: Centro de Estudios Históricos 1920.
[5] A. Alonso (Hg.), »Biblioteca de dialectología hispanoamericana. Bd. VI: El Español en Chile«, Buenos Aires: Universidad 1940.
[6] S. die vorgenannte Aufsatzsammlung (Fn. 3).
[7] Er selbst benutzt meist diesen ethnischen Terminus auch zur Bezeichnung der Sprache, einer Variante des Arauka. In der Literatur findet sich als Bezeichnung auch Mapudungun.
[8] S. seine »Estudios Araucanos I-XII« (Santiago de Chile: Cervantes 1895-1897; 1897 nochmals gesammelt nachgedruckt).
[9] So in seinen »Araukanischen Märchen und Erzählungen mitgeteilt von Segundo Jara (Kalvun)«, Valparaiso: Helfmann 1896.
[10] In: »Beiträge zur romanischen und englischen Philologie. FS W. Foerster«, Tübingen: Niemeyer 1902: 1-48.
[11] »Diccionario etimolójico de las voces chilenas derivadas de lenguas indíjenas americanas«, Santiago de Chile: Cervantes 1904-1910.
[12] Siehe dazu das Vorwort zur Neuausgabe des Wörterbuchs von M. F. Podesta, Santiago de Chile: Universidad 1978.
[13] Santiago: Univ. de Chile 1928.