Carnap, Rudolf
Geb. 18.5.1891 in Ronsdorf bei Barmen, gest. 14.9.1970 in Santa Monica (Kalifornien).
Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Freiburg/Br. und Jena (dort wurde er von G. Frege in die moderne Logik eingeführt); nach einer Unterbrechung durch den Kriegsdienst Promotion in Jena 1921 mit einer Dissertation über den Raumbegriff. 1926 habilitierte er in Wien bei Moritz Schlick (1882 - 1936, seit 1922 Professur für Naturphilosophie in Wien), zur Habilitationsschrift s.u.. C. hatte zunächst offensichtlich freiberuflich ohne universitäre Anstellung gearbeitet (bzw. von elterlicher Unterstützung gelebt?), dabei aber auf dem Gebiet der Philosophie der Naturwissenschaften und der Logik publiziert. Nach der Habilitation erhielt er eine Stelle an dem Institut von Schlick, von der aus er mit diesem und Neurath den »Wiener Kreis« als philosophisches Diskussionszentrum begründete, mit engem Kontakt zum Berliner Kreis um Hans Reichenbach, mit dem er 1923 eine Konferenz gleichgesinnter Logiker/Philosophen in Erlangen veranstaltete.
In dieser frühen Zeit war C. aktiv in linken politischen Kreisen (im gleichen Umfeld wie Reichenbach, Wittfogel u.a.), allerdings ohne organisatorische Anbindung. Dieser Orientierung blieb er auch zeitlebens treu: Marx reklamierte er öfters in einer Ahnenreihe der zu beerbenden Aufklärer; [1] und noch im Alter von 79 unternahm er einen demonstrativen Solidaritätsbesuch im Gefängnis bei inhaftierten linken mexikanischen Kollegen. [2] 1931 wurde er in Prag a.o. Professor für die Philosophie der Naturwissenschaften an der Deutschen Universität (er konkurrierte dabei mit Reichenbach); diese Stelle nahm er von 1931-1935 wahr.
Als eine der führenden Gestalten des »Wiener Kreises« war C. maßgeblich an der Ausarbeitung des Programms des Logischen Positivismus beteiligt (s. bes. seine Habilitationsschrift »Der logische Aufbau der Welt«); [3] zusammen mit Hans Reichenbach gründete er 1930 die wichtigste Zeitschrift dieser Richtung »Erkenntnis« (bis 1940 erschienen, zuletzt im US-Exil). Seit 1930 hatte er engen Kontakt zu polnischen Logikern, bes. zu Tarski, dessen Metamathematik (die Formalisierung der Theorie-, nicht nur der Objektsprache) seine eigenen Ansätze zur »Logischen Syntax der Sprache« entscheidend beeinflußte (der Kontakt zu Tarski bestand auch später im gemeinsamen US-Exil weiter).
Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Wittgenstein verschob sich bei ihm (wie generell im "Wiener Kreis") die Akzentsetzung von der neukantianischen Erkenntniskritik zu einer Kritik der Form der Explikation der Erkenntnis: die Irrationalität der Erfahrungsdaten entzieht sich ihrer Kritik; diese kann nur an der Form ihrer Darstellung und Begründung ansetzen. Den argumentativen Rahmen hatte Wittgenstein mit seinem Konzept der (sprachlichen) Repräsentation von Sachverhalten gesetzt: letztlich im Rückgang auf "Elementarsätze" und dann ggf. durch deren wahrheitsfunktionale Verknüpfung.
Für C. implizierte das eine letztlich normative wissenschaftstheoretische Aufgabe: für die wissenschaftliche Praxis (bei ihm kalibriert auf die Naturwissenschaften) ist es nötig, ihre Argumentationsformen eindeutig zu definieren. Als empirische Aussagen sind sie fundiert in der Alltagserfahrung und damit auch in der Alltagssprache; aber sie müssen dieser gegenüber durch die Konstruktion auf einer eigenen "symbolischen" Darstellungsebene unabhängig gemacht werden. Das umschreibt sein lebenslanges Projekt, zu dem spiegelverkehrt zur Explikation der (natur-) wissenschaftlichen Explikationsformen auch die Eploration der Verhältnisse in den "natürlichen" Sprachen gehörte (in seinen frühen Arbeiten sprach er von Wortsprachen).
Bei den frühen Wiener Arbeiten, zu denen C.s Habilitationsschrift gehört, war mit einer emphatischen anti-metaphysischen Haltung) die Suche nach einer letzten physikalistischen Begründung aller wissenschaftlichen Aussagen verbunden, ausgerichtet auf experimentell kontrollierbare Aussagen über unmittelbare Eindrücke in den atomar gesetzten »Protokollsätzen«. C. war früh zu einer zentralen Figur der »analytischen« Philosophie geworden, nicht zuletzt auch in der US-amerikanischen Szene: Quine studierte 1932 bei ihm in Prag. [4] Charles W. Morris kam ebenfalls zu einem Gastaufenthalt, aus dem eine lebenslange Verbindung resultierte: über dessen Vermittlung konnte C.1935 in die USA emigrieren und in Chicago (wo Morris lehrte) eine Professur erhalten.
Seit seiner Habilitation arbeitete C. an den Grundlagen einer »rationalen« Sprachtheorie, als was er die Logik verstand. Dafür erstellte er systematische Lehrbücher (1929 publizierte er einen »Abriß der [formalen] Logik«, den er 1954 im Exil systematisch überarbeitete [auf Deutsch!], 1958 auch in englischer Übersetzung erschienen: »Introduction to Symbolic Logic and its applications«), [5]mit denen er immer umfangreichere Bereiche der Sprache »logistisch« rekonstruierte, bes. in seinem Hauptwerk der »Logische[n] Syntax der Sprache«, an dem er seit 1929 arbeitete. [6] Aber schon in den frühen Arbeiten in den USA ging er über die Beschränkung auf syntaktische Konstruktionen hinaus und entwickelte eine formale Theorie für deren Interpretation, systematisch in "Introduction to semantics" [7] , (explizit im Ausgang von den Arbeiten der polnischen Logiker, vor allem Tarski - aber auch in kritischer Abgrenzung von diesen) und daran anschließend dann in Arbeiten zur Modallogik (s. etwa »Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic«) [8] und zuletzt der Wahrscheinlichkeitslogik, mit der er das induktive Schließen bzw. Plausibilitätsargumente rekonstruieren wollte (s. gemeinsam mit R. C. Jeffrey, »Studies in Inductive Logic and Probability«). [9]
Dabei bemühte er sich um eine systematische Differenzierung zwischen Operationen im Rahmen eines konstruierten formalen Systems, also system-"internen" Operationen und "externen" Operationen im Umgang mit mit solchen Sytemen, angefangen bei dessen Konstruktion bis hin zu seiner Modifikation (er sprach von 'practical questions' im Gegensatz zu 'internal questions'. Dem ist er in seinen späteren Arbeiten auch explizit nachgegangen, wo er diese Aufgaben auch als 'practical questions' bezeichnet.
> S.z.B. "Empiricism, semantics, and ontology", in: Rev. intern. de Philosophie 4/ 1950: 20-40, repr. in deer Neuauflage von 'Meaning an Necessity' 1956: S. 205-221, Reproduktion eines Aufsatzes aus dem Jahr 1951).
Die Konstruktion formaler Darstellungsformen erfolgt auf einer metasprachlichen Ebene, die aber auch allltagssprachlich fundiert bleiben muß: auch mit ihnen werden Schritte der Sprachpraxis artuliert, die alltagsweltlich fundiert ist. Aber anders als in der Alltagssprache stehen sie unter der Anfordrung der rationalen Rechtfertigung (1928: 252), während für diese nur gilt, daß sie nicht im Widerspruch zu der mit ihnen aktivierten gemeinschaftlichen Sprachpraxis stehen dürfen: mit jedem sprachlichen Zug geht der Sprecher Bindungen für ein Feld von sprachlichen Zügen ein, die er "bound to admit" ist (1950: 217). Mit diesem Forschungsprogramm hatte C. den analytischen Horizont sprachtheoretisch weit geöffnet. Propositional explizierbare Strukturen bilden nur einen Sonderfall, mit dem die Sprachpraxis im vollen Sinne nicht modellierbar ist.
Mit seinem umfassenden Unternehmen einer theoretischen Fundierung der Sprachanalyse partizipierte C. an dem sprachkritischen Elan, der um die Jahrhundertwende die Literatur genauso wie die Philosophie bestimmte. In diesem Kontext wurde das Programm der formalen Logik als Antwort auf die von der »grammatischen Syntax der natürlichen Sprachen« möglich gemachten Paradoxien bzw. sinnlosen Sätze (»Scheinsätze«) verstanden (so in »Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«). [10] Für die wissenschaftliche Praxis schien der Ausweg in der Konstruktion einer symbolisch transparenten Sprache zu liegen, in die alle wissenschaftlichen Aussagen zu übersetzen waren. C. war sich der Grenzen dieses Programms immer bewußt: nur eine formal definierte Sprache, deren Formen die Bedingungen für ihren Gebrauch zeigen, löst das Programm einer strikten Kalkülisierung (Rechenhaftigkeit) wissenschaftlicher Argumentation ein. Mit deren Konstruktion wollte er programmatisch an Leibniz anschließen. Dieses Programm war für ihn nur für spezielle Wissenschaftsfelder möglich, denen gegenüber die »natürliche Sprache« (in den frühen Arbeiten sprach er weniger mystifizierend von der »Wortsprache«) aber immer die letzte Instanz zur Begründung und Abklärung der Voraussetzungen bleibt.
In polemischen frühen Schriften ging C. politisch sensibisiert gegen obskurantistische Diskurse an, insbes. gegen Heidegger in dem erwähnten »Überwindung«-Aufsatz von 1931 (ähnlich vorher schon in: »Scheinprobleme in der Philosophie«, 1928); ebenso in »abgeklärteren« späteren Beiträgen zur Erweiterung der »Logistik«. Dabei betonte er immer die inkongruente Struktur der »Wortsprachen«, deren Form auf andere (nicht wissenschaftliche) Funktionen abgestellt ist: um als Ausdruck für Lebensgefühl u.ä. zu dienen; pointiert formulierte er seine Kritik an Heidegger denn auch so, daß dessen Argumenation die Unterscheidung zwischen einem Operator (Negation) und einem interpretierbaren Prädikat nicht/nichts versäumt - was aber nur zu kritisieren ist, wenn sie versuchsweise als wissenschaftlich genommen wird - nicht, wenn sie als Ausdruck für ein »heroisches« Lebensgefühl steht; dann ist sie nicht zu kritisieren, sondern nur mit anderen Ausdrucksformen für ein solches Gefühl zu vergleichen, etwa Beethovens Symphonien; sarkastisch merkte er an, daß Heidegger insofern höchstens eine zu geringe künstlerische Begabung nachzusagen ist. [11]
Systematisch ist C. diese Fragen in seiner „Logischen Syntax" (1934, s. Anm. 6) angegangen, die eine Metasprache für formal explizierbare Wissenschaften konstruiert (neben der Philosophie in seinem Sinne waren damit aber nur die Naturwissenschaften im Blick). Den Ausgangspunkt bildeten die Ansätze zur Lösung der Paradoxien in den frühen formalen Logiken durch eine Typen-Differenzierung, mit der paradoxe Aussagen durch die Unterscheidung metasprachlicher Prädikate wie „wahr" und „falsch" von objektsprachlichen vermieden wurden. Die theoretische Systematisierung hatte vor allem Tarski unternommen, auf den C. sich stützte. Während aber für Tarski als Mathematiker, für den das Aktual-Unendliche eine rechenhafte Größe war, der unendliche Regreß bei der Konstruktion der fundierenden Metasprachen formal darstellbar war,[12] konnte C. diesen Regreß ausklammern, weil die von ihm konstruierten Metasprachen (für die er die Bezeichnung „Syntax" verwendete) [13] nur eine eingeschränkte Reichweite hatten, da sie in die „Wortsprache" als letzter Metasprache eingelassen waren. Indem er sich auf die Konstruktion einer Metasprache beschränkte, war für ihn auch die systematische Kritik von Wittgenstein an dem logistischen Programm gegenstandslos: schließlich sind dessen "grammatische Sätze" genauso wie "Erfahrungssätze" metasprachlich darstellbar.[14]
Das konstruktive logistische Programm zwang C. allerdings, immer weitere (und damit komplexere) Bereiche der Alltagspraxis/Alltagssprache zu rekonstruieren. Hier setzte auch schon seine Kritik den dem physikalisch ausgerichteten Progamm des frühen Wiener Kreises an, der mit Prokollsätzen als vorgeblich voraussetzungslosen Basiseinheiten operiere: diese sind aber mit physikalisch nicht reduzierbaren konzeptuellen Strukturen artikuliert, die in der Wortsprache (also nicht zirkulär in einem formalen Konstrukt) fundiert sind. Dazu gehören seine Bemühungen um eine Induktionslogik, die sich der Einsicht verdanken, daß die formal soviel befriedigendere Deduktion in der wissenschaftlichen Praxis eben doch nur eine marginale Rolle spielt. Vor allem gilt das für die Modallogik, die er wegen ihrer Unhandhabbarkeit zunächst verabscheute; [15] s. u. für seine späteren Arbeiten nach dem Weltkrieg.
Zur Sprachwissenschaft hatte C.ein ambivalentes Verhältnis. Die Probleme der »natürlichen Sprache« beschäftigten ihn nicht nur in der Philosophie, sondern auch sehr praktisch: er war jugendbewegt in der Esperantobewegung aktiv und führte später noch in seiner »Autobiographie« das »Erlebnis« der Verständigung in der Hilfssprache auf einer großen »Fahrt« als Student 1922 an. [16] Im Kontext des Programms einer semiotischen Einheitswissenschaft, wie es in Chicago vor allem Morris vertrat und organisatorisch umsetzte, definierte C. die arbeiteilige Abgrenzung zur Sprachwissenschaft auch sehr explizit: sie ist für ihn ein empirisches Forschungsprogramm, das den Sprachgebrauch ("use") als Gegenstand hat, wie es besonders in der Feldforschung umgesetzt wird. [17]
Auf der theoretisch-methodischen Ebene hatte er zunächst neben der (formalen) Philosophie nur die Naturwissenschaften bei seiner formalen Sprachtheorie im Blick. Es scheint so, daß er weder in Wien noch in Prag Kontakt zu den theoretisch arbeitenden Sprachwissenschaftlern hatte: in seiner Prager Zeit lud ihn zwar der dortige Linguistenzirkel 1935 zu einem Vortrag ein, über den hinaus gab es aber keine weiteren Kontakte (insbesondere nicht von C. aus);[18] und so kommt allein der Name Bühler neben Bréal bei seiner Begründung für den Terminus Semantik in der Einleitung zur »Logischen Syntax« vor (dort S.9). In seinen frühen propagandistischen Beiträgen zur Einheitswissenschaft fehlt ein Hinweis auf die grundlegenden zeitgenössischen Sprachwissenschaftsdebatten - auch da, wo er explizit etwa den US-amerikanischen Behaviorismus als Einlösung seines physikalischen Programms in der Psychologie diskutierte; [19] der sprach»nächste« Problembereich, den er hier diskutierte, ist die Graphologie, die er physikalistisch reformulierte. [20]
C. hatte sich schon früh mit dem Gedanken der Emigration getragen, und sich auch vergeblich um Stipendien bemüht - vielleicht auch vor dem Hintergrund seiner zunehmend größer werdenden Differenz zu den Wiener Fachvertretern, aber eben auch auf der gleichen Weise wie andere Wiener, die damals Gastaufenthalte in den USA unternahmen - von Schick bis Bühler.[21] Die Auswanderung in die USA glückte 1935 - jetzt auch vor der drohenden faschistischen Verfolgung: als politischer Gegner, nicht als potentielles Opfer. Maßgeblich war dafür die aktive Unterstützung durch prominente amerikanische Kollegen, die C. wie insbes. Ch. Morris und W. V. Quine, schon aus der Prager Zeit kannte (Quine trainierte schon vor C.s Auswanderung brieflich mit ihm dessen englischsprachige Integration). [22] Bis 1952 hatte er eine Professur für Philosophie an der Universität Chicago, zeitweise war er auch in Harvard. Allerdings ist sein Wirken in den USA keineswegs einfach als Erfolgsgeschichte zu verbuchen. [23] Einerseits entfaltete C. in den USA wieder die gleichen organisatorischen Fähigkeiten wie vorher in Wien/Prag: er reorganisierte gewissermaßen den alten Wien-Berliner Kreis (der bis 1939 weitgehend emigriert war) und hielt enge Verbindung zu den ebenfalls emigrierten polnischen Logikern, insbesondere zu A. Tarski. Schon in Wien/Prag war er mit Otto Neuraths monumentalem Projekt einer »Enzyklopädie der Wissenschaften« in Verbindung gewesen, das den Anspruch der französischen Enzyklopädie des 18. Jhdts. neu auflegte. In Chicago wurde das Unternehmen von C. und Neurath gemeinsam mit Ch. Morris seit 1936 konkret in Angriff genommen: seit 1938 erschien es unter der Gesamtleitung von Morris als »International Encyclopedia of Unified Science« [24] (bis heute nicht endgültig abgeschlossen). [25] Den Hintergrund für dieses Unternehmen bildeten die von C. mitorganisierten internationalen Kongresse der Einheitswissenschaft (Prag 1929, Königsberg 1930, Paris 1935, Cambridge/Mass. [Harvard] 1939) [26] und die entsprechenden Sektionen auf den Philosophiekongressen (s. etwa C.s programmatischen Vortrag von 1935 »Einheit der Wissenschaft durch Einheit der Sprache«). [27] 1941 wurde er in den USA eingebürgert. 1952-1954 war er Professor in Princeton, danach bis zu seinem Tod in Los Angeles (als Nachfolger von Reichenbach).
Aber in der US-Philosphie blieb C. ein Fremdkörper: nicht nur bei den überwiegend sehr konservativ (z.T. auch regelrecht theologisch ausgerichteten) dortigen Fachvertretern, an denen er auch institutionell mehrfach scheiterte, sondern auch bei denen, die seine Einwanderung als Verstärkung der "analytischen Philosophie" begrüßt und unterstützt hatten. Diese stießen sich an C.s Programm einer radikal formalen Analyse der philosophischen Argumentation, der sie die Ausrichtung auf eine praktische Philosophie entgegenstellten. Das gilt so z.B. für Ernest Nagel (1901 - 1985, im übrigen selbst ein slowakischer Immigrant von vor dem ersten Weltkrieg), aber auch, wenn auch wissenschaftstheoretisch anders gelagert, für Quine. Noch deutlicher war der Gegensatz zu Morris, der letztlich nach einer biologistischen Fundierung der "Semiotik" suchte. In seinen ersten Arbeiten in den USA hatte C. noch eine Art Harmonisierung seines Unternehmens mit deren "realistisch" ausgerichteten Ansätzen versucht, indem er die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke auf ihre empirische Überprüfbarkeit zurückführte.[28] Aber letztlich war das für ihn eine Sachkgasse, gegen die auch schon seine frühen Wiener Arbeiten standen, in denen er die physikalistisch nicht-reduzierbaren Grundstrukturen sprachlicher Artikulation angegangen war.[29]
C.s Arbeiten markieren recht deutlich den Horizont für die Herausbildung der gegenwärtig dominanten formalen Grammatiktheorie, auf deren Ausbildung (»Generative Grammatik«) er mittelbar über Bar-Hillel großen Einfluß genommen hat, s. u. Vor allem seine »Logische Syntax der Sprache« läßt sich als Programm einer formalen Grammatiktheorie lesen, wie sie seitdem herrschende Lehre geworden ist: die theoretische Explikation ist an eine formale Modellierung gebunden, die zwar nur in Fragmenten der »natürlichen« Sprache interpretiert werden kann, aber gewissermaßen durch die Erweiterung des Modells sich einer systematischen Rekonstruktion als ihrem Grenzwert nähert. Dabei erfolgt die Modellierung strikt konstruktivistisch nach der axiomatischen Methode: als Prämissen bzw. Anfangsbedingungen wird mit Formationsregeln festgelegt, was als (»syntaktisch«) wohlgeformte Sätze zu gelten hat; mit einem Induktionsschema ist daraus dann rekursiv die Menge aller Sätze der Sprache abzuleiten (C. sprach hier von »folgern«) - das leisten die »Umformungsregeln« (in der englischen Übersetzung: »transformation rules«). [30]
In der grammatiktheoretisch ausgerichteten sprachwissenschaftlichen Umsetzung mündete C.s „Logische Syntax" in ein extensionales Sprachkonzept als Menge aller rekursiv charakterisierbaren Sätze einer Sprache; die Grammatik wird auf diese Weise kalkülisiert, d.h. als Beweisverfahren verstanden, mit dem für jeden sprachlichen Ausdruck entschieden werden kann, ob er ein Ausdruck der durch die jeweilige Grammatik definierten Sprache ist oder nicht. Das führte zu einem radikalen Bruch mit der philologischen ebenso wie operationalen Tradition der Sprachwissenschaft; bis in Detailkonzepte (etwa der Zerlegung der Satzmengen in die Prämissen der primitiven Basisstrukturen und die daraus abzuleitende unendliche Menge der Folgesätze [Transformate]) liegt es der neueren Grammatiktheorie zugrunde (für einen knappen Abriß der entsprechenden theoretischen Modellierung bei C., s. die »Introduction«, in der Ausgabe von 1958: 78 ff). C. hatte insofern die Blaupause für die konstitutive Annahme des generativistischen Unternehmens (zumindest in dessen frühen Jahren) geliefert: für die Annahme der Autonomie der Syntax in der Sprachreflexion. Aber C. hat dieses Konzept nie auf die »natürliche Sprache« als Objektbereich bezogen (so ist z.B. auch der Anwendungsteil der »Introduction« auf die Mathematik und Physik beschränkt, ohne jeden Hinweis auf die damals ja schon einsetzenden formalen grammatiktheoretischen Arbeiten).
Für die neueren Entwicklungen sind C.s semantische Grenzerweiterungen seiner Logistik, die ihm die Einsicht in Schwierigkeiten bei deren Anwendung abtrotzte, produktiv geworden. Daran arbeitete er seit Anfang der 1940er Jahre.[31] Er definierte als Bezugsgröße einer formalen Modellierung eine „state description“ (S. 9), explizit im Rückgriff auf Leibniz‘ Konzept der „möglichen Welten“ mit der Auszeichnung der aktuellen Welt. Damit hatte der den Rahmen für die weiteren Ausbau einer formalen Semantik gesetzt. Wichtig wurde dafür vor allem sein Aufsatz »Meaning Postulates«, [32] mit dem er seine frühe Kritik an der Vorstellung atomarer Protokollsätze fortsetzte, bei denen der auf ihnen aufbauende Kalkül nur mit logischen Verknüpfungsoperationen operieren sollte. Demgegenüber mußten die darin eingehenden semantischen Beschränkungen durch die deskriptiven Terme expliziert werden (in der »Logischen Syntax« firmieren sie noch einfach als Konstanten). C. skizzierte damit eine lexikalische Semantik als relationales Netz der Beziehungen, die Aussagen miteinander verknüpft, in denen diese Terme eingehen - in Form von aufzulistenden »Bedeutungspostulaten« für diese deskriptiven Ausdrücke. Diese Idee ist für die neuere formale Semantik grundlegend. Wie mit diesem Aufsatz hatte C. in der Nachkriegszeit sein Forschungsprogram schließlich doch systematisch in Richtung auf die Analyse der „natürlichen Sprachen" erweitert (diesen Terminus benutzte er seitdem auch). Letztlich war das für ihn eine Notwendigkeit, um diese als letzte metasprachliche Instanz analytisch in den Griff zu bekommen. Systematische Überlegungen dazu stellte er in „Meaning and synonymy in natural languages" an, [33] wo er das dafür notwendige offene intensionale Konzept der Bedeutung entwickelt, bezogen auf mögliche Interpretationen eines Ausdrucks im Gegensatz zur extensionalen denotativen Bedeutung (die neuere formale Semantik ist ihm darin gefolgt).
Insofern hat C. hat unfreiwillig tatsächlich eine grundlegende Rolle in der modernen Sprachwissenschaft gespielt, wobei die entsprechende Rezeption ihn gewissermaßen gegen den Strich gebürstet hat. Eine Schlüsselrolle spielte dabei sein zeitweiliger Mitarbeiter Bar-Hillel, der C. eine gewisse Kurzsichtigkeit vorgeworfen hat. [34] Bar-Hillel hat ausgehend von C.s Arbeiten einen beträchtlichen Einfluß auf die Entwicklung von Chomskys Konzeption und die mathematische Linguistik insgesamt genommen (er arbeitete in den 50er Jahren am MIT, s. bei ihm). C. selbst hat aber seine Skepsis bewahrt, daß die Wortsprachen aufgrund ihrer Komplexität einer Formalisierung praktisch nicht zugänglich sind - wobei diese Komplexität (zu der es gehört, daß in den Wortsprachen eben auch paradoxe Sachverhalte formulierbar sind) gerade ihre Leistungsfähigkeit ausmacht, nicht zuletzt eben auch als letzte Metasprache für formale Kalküle. Das widerspricht nicht dem grundsätzlichen Anspruch einer formalen Durchdringung auch dieses Gegenstandsbereiches und auch nicht dem Bemühen, für bestimmte Teilbereiche eine formale Modellierung zu versuchen: als Abbildung der formal definierten Syntax auf einen Teilbereich des sprachlichen Beobachtbaren - aber darin liegt keine Theorie der (Wort-) Sprache (s. C.s Antwort auf Bar-Hillel, Schilpp 1963 [Q] S. 940-944).
In dieser Hinsicht war C. zeitlebens konsequent. In gewisser Weise findet C.s Position in der Entwicklung der Generativen Grammatik eine Bestätigung, wenn diese in ihren jüngsten Spielarten den Anspruch der Formalisierung im C.schen Sinne gänzlich aufgegeben hat. Das gibt seiner Skepsis im nachhinein Recht - mit der Implikation, für die Sprachwissenschaft eine eigene Methodologie auszuarbeiten. Lag C. so in gewisser Weise fachlich quer zu dem, was u.U. sogar mit Bezug auf ihn vertreten wurde, so gilt das genauso für sein Leben als Emigrant: im Laufe der Jahre wurde für ihn die Erfahrung kultureller Fremdheit und »Unangepaßtheit« an die konformistische US-amerikanische Gesellschaft wohl auch immer deutlicher (s. Autobiographie, S. 39).[35]
Q: P.A. Schilpp (Hg.), »The Philosophy of Rudolf Carnap«, La Salle, Ill. : Open Court 1963, darin bes. Carnap »Intellectual Autobiography«, S. 3-84; R. C. Buck/R. S. Cohen (Hg.), »In Memory of Rudolf Carnap«, Dordrecht: Reidel 1971 (= Akten der Tagung der Philosophy of Science Association, 1970); BHE; Poggendorff, Bd. VII a; W. Essler in DBE 2005; C. Limbeck-Lilienau, R.C. und die Philosophie in Amerika. Logischer Empirismus, Pragmatismus, Realismus, in: F. Stadler (Hg.), Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel von R.C und Wolfgang Stegmüller, Wien: LIT 2010:85 - 163. Hinweise zum Nachlaß in Spalek u.a. 1978; der Nachlaß ist zum großen Teil elektronisch zugänglich über die Universität Pittsburgh: http://www.library.pitt.edu/libraries/special/asp/carnap.html (Jan. 2009).
[1] S. etwa Erkenntnis 3/1932-3: 110.
[2] Buck/Cohen 1971 (Q): 18*-19*.
[3] Zuerst Berlin: Meiner 1928, Neuauflage Hamburg: Meiner 1961.
[4] S. die Sammlung persönlicher Erinnerungen an C. in der Gedenkschrift Buck/Cohen 1971 (Q).
[5] New York: Dover.
[6] 1934 in Wien erschienen; 2. Aufl. Wien usw.: Springer 1968.
[7] Cambridge, Mass.: Harvard univ. pr. 1942
[8] Chicago: Univ. Press 1947.
[9] Berkeley usw.: Univ. of Calif. Press 1971.
[10] In: Erkenntnis 2/1931: 219-41, hier 227.
[11] In: Erkenntnis 2/1931: 240.
[12] Das begründete die Differenz zu den intuitionistischen Logikern, s. hier bei Freudenthal.
[13] Insofern kann der Terminus Syntax im Titel sprachwissenschaftlich in die Irre führen - nicht anders als es später bei Chomskys „Theorie der Syntax" der Fall war.
[14] Gerade weil in seinen frühen programmatischen Schriften der Bezug auf Wittgenstein grundlegend ist, war für ihn dessen philosophische Position irriterend, von der er sich auch explizit distanzierte, s. z.B. "Die Methode der logischen Analyse" in: Actes du 8ième congrès international de Philosophie (Prag 1934), Prag: Comité d'organisation du congrès 1936:142-145, hier: S. 143 - dort im übrigen parallel zu einer ebenso expliziten Abgrenzung zu Husserl. In der "Logischen Syntax" geht er ausführlich auf dieses Argument ein, s. dort S. 208 - 210 und auch schon grundlegend beim Aufbau seiner Syntax S. 46.
[15] S. Quine in Buck/Cohen 1971 (Q): 254.
[16] Im übrigen eines der Momente, die ihn in einen heftigen Gegensatz zu Wittgenstein brachten, für den Kunstsprachen wie Esperanto ein Unding waren. Es bleibt noch genauer zu recherchieren, wieweit das auch zu W.s Weigerung beitrug, sich mit C. in dessen Wiener Zeit zu treffen.
[17] Explizit so in "Semantics" (1942), wo er die "linguistics" in der Morris'schen Systematik der pragmatics subsumiert und mit Beispielen aus dem Eskimo aufwartet (z.B. dort S. 13). In der Systematik der Argumentation läßt sich das mit Chomskys späterer Abgrenzung des theoretisch modellierbaren Gegenstands der Sprachwissenschaft als competence gegenüber der so ausgegrenzten performance vergleichen - mit einer allerdings verschobenen disziplinären Grenzlinie.
[18] S. dazu Ehlers (2005).
[19] S. »Psychologie in natürlicher Sprache«, in: Erkenntnis 3/1932-1933: 107-142.
[20] a.a.O.: 130-136.
[21] Bereits 1923 reiste C. ein erstes Mal in die USA, damals allerdings verbunden mit einer Weiterreise nach Mexiko, wo sein damaliger Schwiegervater lebte (von seiner ersten Frau, mit der er immerhin auch vier Kinder hatte, wurde er 1929 geschieden). Seine zweite Frau Elisabeth Ina Stöger studierte in Wien Philosophie und wollte wohl auch in Modallogik promovieren. Sie vollzog mit ihm nach der Heirat 1933 alle weiteren Stationen und tippte auch seine Manuskripte (ohne daß C. sie in seinen autobiographischen Notizen als Wissenschaftlerin erwähnt); 1964 nahm sie sich das Leben. Für die hier angesprochenen biographischen Zusamenhänge stütze ich mich vor allem auf Limbeck-Lilienau (Q).
[22] So Coser 1984: 298-306, der C.s Karriere in den USA unter dem Titel »A Success Story« darstellt. Die folgenden Hinweise stützen sich wieder auf Limbeck-Lilienau (Q).
[23] S. Buck/Cohen 1971 (Q): 24*.
[24] Chicago: Chicago UP.
[25] S. dazu Ch. Morris, »On the History of the International Encyclopedia of Unified Science«, in: »Logic and Languae« (FS Carnap), Dordrecht: Reidel 1962: 242-246.
[26] An diesem Kongreß nahmen eine ganze Reihe sprachanalytisch engagierter Emigranten teil, s. hier Goldstein, Jaeger, Korsch.
[27] In: Trav. 9ème Congrès Intern. d. Philos., Paris 1935 (1937, Bd. 4: 51-57).
[28] S. vor allem "Testability and meaning", in: Philosophy of Science 3/ 1936: 419-471 und 4/ 1937: 1-40.
[29] In diesen frühen Arbeiten spiegelte sich im übrigen auch C.s Rezeption gestaltpsychologischer Arbeiten - nicht anders als bei K.Bühler (ohne allerdings daß C. das explizit angesprochen hätte).
[30] Das zumindest in der Frühzeit der Generativen Grammatik gängige psychologistische Mißverständnis der Architektur von "Tiefen- vs. Oberflächenstruktur", die einen prozessualen Umbau (die "Transformationen") erfordert, macht in C.s Denkmodell ohnehin keinen Sinn. Seine Transformationen resultieren aus einer ökonomischen Architektur der Metasprache ("Syntax" in seinem Sinne), die die Definition einer großen (unbegrenzten) Menge von Ausdrücken einspart, weil für deren Eigenschaften die Folgerungsbeziehung gilt, daß ihre Geltung als Ausdrücke der defnierten Syntax mit den durch die Formationsregeln definierten Ausdrücken notwendig mitgegeben ist - Folgerungsbeziehungen sind relationale Strukturen: sie haben keine Zeit.
[31] Die entsprechenden Aufsätze hat er zusammen publiziert in: „Meaning and necessity. A study in semantics and modal logic.“ Chicago: Chicago univ. pr. 1947, erweitert 1956.
[32] In: Philos. St. 3/1952: 65-73, auch wieder abgedruckt in der erweiterten Neuauflage von »Meaning and Necessity«.
[33] In Philos. Stud. 7/ 1955: 33 - 47 (repr. in der erweiterten Neuauflage von „Meaning and Necessity"156: 233 - 247).
[34] S. bes. dessen »Remarks on Carnaps ›Logical Syntax of Language‹« in dem Band von Schilpp 1963 (Q): 519-544.
[35] Auch hier bestätigte sich bei ihm, was auch die anderen erfuhren, die damals in den USA waren, die aber wie z.B. Schlick daher auch eine Emigration ausschlossen, s. die in dieser Hinsicht tragische Parallele bei K.Bühler.