Goldstein, Kurt
Geb. 6.11.1878 in Kattowitz (damals Oberschlesien), gest. 19.9.1965 in New York.
Zunächst Studium der Philosophie und Literatur in Heidelberg, dann der Medizin in Breslau, wo er 1903 zum Dr. med. promoviert wurde. Danach klinisch-psychiatrische Tätigkeit in Königsberg, seit 1914 an der neu gegründeten Universität Frankfurt/M., wo er 1917 das »Institut zur Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen« gründete, dessen Direktor er bis 1930 war und an das er Gelb holte. 1930-1933 Professor und Leiter der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses von Berlin-Moabit.
G. war praktizierender Jude, der in der Sozialdemokratie engagiert war (u.a. als aktives Mitglied im »Verein sozialistischer Ärzte«). Am 1.4.1933 wurde er im Rahmen der »Arisierung« der Berliner Krankenhäuser von der SA festgenommen und mißhandelt; nach Protestinterventionen wurde er mit der Auflage der Emigration freigelassen. Er emigrierte zunächst in die Niederlande, wo er sich mit Unterstützung der Rockefeller Stiftung ein Jahr aufhielt und eine Gastprofessur in Amsterdam übernahm. Von dieser Position aus trug er die »Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland« auch organisatorisch mit.[1] Er nutzte diese Zeit, um ein Werk über seine »holistische« Auffassung des Organismus im Verhältnis zur Umwelt zu schreiben, das eine grundlegende Bedeutung für die heute erst wieder weiterentwickelte Konzeption einer psychosomatischen Medizin hat.[2] 1934 emigrierte er weiter in die USA (unterstützt vom Emergency Committee, bei dem er sich auch weiterhin für andere Emigranten verwendete),[3] wo er bis 1945 wechselnde klinische und universitäre Anstellungen hatte (in Boston und New York, 1936-1940 an der Columbia University). 1940 wurde er US-amerikanischer Staatsbürger. Seit 1945 hatte er eine freie ärztliche (neuropsychiatrische) Praxis in New York, zugleich zahlreiche Gastprofessuren; außerdem wirkte er an psychologischen Postgraduate-Programmen mit. Allerdings erlangte er in den USA keine seiner früheren akademischen Position vergleichbare Stelle mehr.[4] Nach allen Darstellungen fühlte er sich fremd in den USA – wenn er jemanden positiv bewertete, pflegte er zu bemerken: »he is so European«; die Emigration blieb für ihn ein Trauma.[5]
G. hat ein umfassendes, auch quantitativ umfangreiches Werk verfaßt, das von der Neurologie im weiteren Sinne über die Aphasiologie bis zur Psychoanalyse und zur Kulturanthropologie reicht, darunter zahlreiche Beiträge generell methodologischer Art (die Bibliographie von J. Meiers verzeichnet 328 Titel – nachgedruckt in dem Gedächtnisband von Simmel (Q), S. 273-293). Sprachprobleme, immer in der Spannung von Sprache und Denken angegangen, durchziehen sein ganzes Werk, wozu auch die lebenslang fortgeführte Diskussion mit seinem Vetter Ernst Cassirer gehörte. Im Zentrum standen dabei Sprachstörungen. Hier sollen denn auch allein seine Arbeiten zur Aphasiologie näher besprochen werden.
Epochemachend waren seine Arbeiten am Frankfurter Institut, zum großen Teil gemeinsam mit Adhémar Gelb verfaßt (s. auch bei diesem). G. hatte schon früh Probleme der Aphasie behandelt und sich dabei von Anfang an gegen eine physiologische Reduktion des Problems ausgesprochen, vor allem gegen die auch damals in der Aphasiologie dominierenden lokalistischen Theorieansätze: für ihn sind die Gehirnläsionen lokal, nicht aber die dadurch ausgelösten Störungen, die aus der Reaktion des gesamten Organismus (bzw. der Persönlichkeit) des Kranken resultieren. Entsprechend fordert er eine reiche Beschreibung der Störung im Zusammenhang des gesamten Verhaltens des Patienten, wie er es auch in seiner ersten Fallstudie vorführte (»Zur Frage der amnestischen Aphasie und ihrer Abgrenzung gegenüber der transcorticalen und glossopsychischen Aphasie«).[6] Das brachte ihn zur klinischen Arbeit (s. seine autobiographischen Notizen), die auch bei der systematischen Analyse noch die Perspektive der Therapie dominant sein lassen. Entsprechend verlagerte sich sein Argumentationshorizont zur Psychologie und noch mehr zur Psychoanalyse (mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Biologismus Freuds und der Orientierung an der Daseinsanalyse Binswangers), wobei sein psychosomatisches Konzept sowohl gegen die Verselbständigung einer vom psychologischen Befund (und entsprechenden therapeutischen Maßnahmen) absehenden Psychoanalyse wie gegen eine rein »naturwissenschaftliche« Medizin stand, die die Krankheit in einem Teil des Körpers lokalisiert, statt den kranken Menschen in den Blick zu nehmen und so schon bei der Diagnose auf die Therapie abstellte, ganzheitlich auf die Person des Patienten in seiner Umwelt bezogen (s. entsprechend auch Stern).
Als Mitarbeiter suchte er Psychologen, darunter Egon Weigl, der seine Arbeit später in Deutschland weiterführte, und vor allem A. Gelb. In Zusammenarbeit mit diesem erschienen 1918-1932 insgesamt vierzehn z.T. sehr umfangreiche »psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle«, zumeist in den von G. mitgegründeten und mitherausgegebenen Psychologischen Forschungen. Für die Aphasieforschung und die sprachtheoretische Diskussion bahnbrechend wurde davon vor allem die 10. Folge: »Über Farbamnesie, nebst Bemerkungen über das Wesen der amnestischen Aphasie überhaupt und die Beziehung zwischen Sprache und dem Verhalten zur Umwelt«.[7] Abgesehen von dem unmittelbaren klinischen Befund wirkte diese Arbeit durch ihre methodologischen und theoretischen Überlegungen: aphasische Symptome werden »ganzheitlich« (im Sinne damaliger gestaltpsychologischer Ansätze, mehr wohl aber noch der »personalistischen« Auffassung Sterns, auf den die Autoren in ihren Veröffentlichungen immer wieder Bezug nehmen), also funktional in Hinblick auf das praktische Gesamtverhalten des Patienten interpretiert – statt »atomistisch« als Relikte eines normativ gesetzten »gesunden« Verhaltens gedeutet (und behandelt) zu werden.
Insofern steht sein Ansatz gegen die bis heute vor allem auch bei »klinischen Linguisten« mit Vorliebe praktizierte direkte Projektion pathologischer Befunde auf das physiologisch-neurologische Substrat und für deren Rekonstruktion als lebenspraktischer Leistung, mit der das Syndrom vom Patienten unter Umständen erst als Umwegleistung produziert worden ist – was im übrigen auch die große interindividuelle Variation der aphasischen Syndrome erklärt, die sich immer wieder gegen die gängigen Typisierungen sperren. Diesen klinischen Ansatz baute G. sprachtheoretisch aus: er faßt Sprache als spezifische Form, in der der Organismus sein Verhältnis zur Umwelt und zu sich selbst regelt, wie G. es in seinen späteren Arbeiten dann explizit formulierte, s. z.B. »Language and Language Disturbances« (s.u.), S. 23: statt wie in den üblichen Tests und Therapieprogrammen sprachliche Formen zu isolieren, gilt es, auf einer theoretischen Ebene das Verhältnis von Sprache und Denken und damit das mit diesen Formen artikulierte Verhältnis zur Umwelt zu analysieren. G. skizziert so ein Sprachverständnis, das den spezifischen Beitrag der Sprache in der symbolischen Überwindung situativer Gebundenheit des Handels sieht, die ontogenetisch im Material der Kindersprache entwickelt wird (entsprechend wie bei Stern nicht von der »abstrakten« Projektion von der Erwachsenensprache aus gedeutet!) – und gegenüber der die schweren Aphasien (bedingt durch die Zerstörung von Hirnfunktionen) eine Regression darstellen.
Was später vor allem durch Roman Jakobsons Arbeiten (die sich auf G. stützen) wissenschaftliches Gemeingut wird, ist hier schon entwickelt: eine Entwicklungslogik des Sprachverhaltens, die im pathologischen Fall invertiert wird. Produktiv wurden G.s Arbeiten aber vor allem, weil sie anders als bei G.s Vorgängern, die wie Pick[8] im Anschluß an H. J. Jackson (1835-1911) schon die Notwendigkeit betont hatten, aphasiologische Forschung sprachwissenschaftlich zu untermauern, daraus ein bestimmtes Forschungsdesign machten: die qualitative Fallstudie im Gegensatz zum Paradigma statistisch kontrollierter Forschung, das in einem theoretisch so wenig geklärten Bereich wie hier die Gefahr läuft, zirkulär nur diagnostische Unklarheiten in großer Serie zu reproduzieren. Mit der qualitativen, d.h. interpretativ reichen Analyse eines Einzelfalls (wie er die lange Reihe dieser Studien charakterisiert) ist die Möglichkeit einer strukturalen Analyse der diagnostizierten Symptome im System des vom Patienten jeweils entwickelten Verhaltensrepertoires möglich – hier liegen die Parallelen zu kulturanalytischen Stilanalysen (in Abgrenzung zur atomistischen Datenakkumulation und -klassifikation) und vor allem zur »interpretativen« Sozialforschung.
Diese methodologischen Implikationen hat G. selbst immer betont – und seiner Kritik an der arbeitsteilig spezialisierten medizinischen Forschungspraxis vor allem der USA setzt er seine Ausbildung auf einem humanistischen Gymnasium und die »freie« Studiensituation an einer deutschen Universität entgegen – und setzt sich intensiv mit erkenntnistheoretischen Traditionen auseinander (s. auch unten zu seiner Beteiligung an der philosophisch orientierten wissenschaftstheoretischen Diskussion).
Für die derzeitige Aphasiologie bleibt sein antilokalistischer Ansatz wichtig, mit dem er sich (eigenen Protesten zum Trotz) von der Tradition eines Wernicke absetzt und verlangt, die höheren Leistungen des Organismus als Funktion des Gehirns im Ganzen zu sehen, bei dem lokale Verletzungen zwar mit pathologischen Symptomen korreliert werden können, das Patientenverhalten aber nicht darauf reduziert werden kann, sondern immer als »ganzheitliche« Reaktion auf die neue Situation analysiert werden muß. Erst recht verbietet es sich für ihn, in einer Rückprojektion aus den pathologischen Fällen korrelativ zu den verletzten Hirnregionen »Zentren« zu postulieren, die für das entsprechende »ungestörte« Verhalten verantwortlich wären, s.o.[9] Die Aktualität der komplexen G.schen Diagnostik, die sensibel für die kulturellen und sozialen Faktoren in der Karriere von Patienten ist, genauso wie für die extremen Bedingungen der Testsituation, auf deren vorgeblich sicheren Resultate sich die gängigen Klassifikationen stützen, ergibt sich nicht zuletzt in Hinblick auf die von linguistischer Seite, ohne Bezug zur therapeutischen Praxis, auch heute noch propagierten »Landkarten des Gehirns«.
Grundlegend und für die Sprachforschung vor dem zweiten Weltkrieg wegweisend wurde die Unterscheidung von abstraktem (»kategorialem«) Verhalten, das an die symbolischen Organisationspotentiale der Sprache für das Denken gebunden ist, gegenüber einem konkreten, das an die unmittelbare situative Handlungskonstellation gebundenen ist.[10] G. und Gelb sahen darin Stufen der kognitiven Bearbeitung der Erfahrungen, die bei aphasischen Störungen gewissermaßen rückgebaut werden. "Primitive" Verhaltensformen bleiben an den konkreten Anschauungen und Erlebnissen haften und sind nicht in der Lage, diese unter begrifflliche Schemata zu subsumieren ("primitiv" ist bei G. im Sinne eines solchen Stufenaufbaus zu verstehen und nicht wertend; in einem anderen Kontext benutzt er dafür "lebensnah"). Die sprachlichen Formen können diese Differenz verdecken, weil sie gegenüber dieser kognitiven Differenz invariant sein können: im frühkindlichen Lernen wie u.U. bei aphasischen Störungen werden solche Formen konnotativ verwendet; sie verweisen auf Situationen, in denen damit ähnliche Erlebnisse ausgedrückt wurden - sie artikulieren aber keine begrifflichen Invarianten. Sehr systematisch ist das entwickelt in der 10. Folge der Untersuchungsreihe von G. und Gelb: "Über Farbenamnesie nebst Bemerkungen über das Wesen der amnestischen Aphasie überhaupt und die Beziehung zwischen Sprache und dem Verhalten zur Umwelt".[11] Dabei verweisen sie auf die Entsprechung von in diesem Sinne kategorial fundiertem Sprachverhalten zu Bühlers Konzept der Darstellung.
In der Reduktion auf die Formen konkreten Verhaltens sieht G. die zentrale Störung der Aphasie – und wendet diese Sicht methodenkritisch auf die diagnostische Praxis an, wobei scheinbar einfache Leistungen wie Buchstabieren, das Identifizieren isolierter Wörter u. dgl. durch die Hypostasierung der Sprache für viele Patienten eine höhere Anforderung stellt als ein situativ determiniertes Verhalten, in dem die gleichen sprachlichen Elemente vorkommen (der Patient kann blau nicht nachsprechen und kommentiert das anschließend: »Sie wissen doch, daß ich nicht blau sagen kann«). Derartige Aufgaben können abhängig vom kulturellen Hintergrund der Patienten von diesen sehr verschieden wahrgenommen und bewältigt werden, wie schon G.s erste Fallstudie von 1906 zu einer nicht lese- und schreibgeübten Frau gezeigt hat. In der langen Reihe dieser Fallstudien werden die vielfachen Dissoziationen von kognitiven Leistungen bei aphasischen Störungen exploriert, bei denen insbesondere die physiologisch fundierten, anschaulichen Leistungen (z.B. die Diskriminierung von Farbwahrnehmungen, figürliche Unterscheidungen von Gegenständen u.dgl.) bewahrt sein können, während der kategoriale Umgang damit gestört ist.
Der von G. immer wieder formulierte Anspruch, mit seinen Forschungen nicht nur zur medizinischen, sondern auch zur Sprachforschung beizutragen, wurde damals von der Wissenschaft honoriert, wie insbes. die Einladungen an Gelb und G. zeigen, die Sektion »Pathologie du Langage« in dem Sammelband »Psychologie du Langage« zu bearbeiten, der als Kompendium zum damaligen Stand der theoretisch orientierten Sprachforschung intendiert war:[12] beide lieferten jeweils einen theoretisierenden Beitrag, G. mit dem signifikanten Titel »L’analyse de l’aphasie et de l’étude de l’essence du langage«,[13] der die intensive Auseinandersetzung mit der sprachwissenschaftlichen Überwindung des atomistisch-»naturwissenschaftlichen« Forschungsansatzes zeigt (nicht zuletzt im Rekurs auf Humboldt und Vossler).[14] Vor allem Roman Jakobson hat immer wieder die sprachtheoretischen Implikationen von G.s Arbeiten aufgezeigt, so die zeichentheoretische Tragweite der von G. klinisch nachgewiesenen Dissoziierbarkeit von signans (Saussures signifiant) und signatum (Saussures signifié), indem jedes von beiden mit einem »leeren« Gegenstück als pathologisches Syndrom vorkommen kann (verfestigt so bei aphasischen Störungen, aber eben auch in der »Pathologie des Alltagslebens«).[15]
In seinem in den USA verfaßten Handbuch »Language and Language Disturbances. Aphasic Symptom Complexes and their Significance for Medicine and the Theory of Language«[16] hat G. dann seine einschlägigen Forschungen zusammengefaßt und ein System zur Diagnose und Therapie aphasischer Störungen vorgelegt. Dabei ist auch hier wieder der Nachdruck bestimmend, mit dem er einerseits gegen einen klinischen Agnostizismus die Notwendigkeit sprachtheoretischer Reflexion betont (jetzt explizit in Aufnahme strukturaler Arbeiten – nicht nur Roman Jakobson u.a., sondern auch z.B. von Bloomfield, vgl. S. 34), zugleich aber auch die Analyse des kritischen Falles extremer Störung der Sprachfähigkeit als Schlüssel zu deren theoretischem Verständnis aufzeigt.
G. nahm mit seinen klinischen Forschungen, vor allem aber auch mit seinen darauf gestützten systematischen theoretischen Konzeptionen die wissenschaftstheoretische Neuorientierung der Jahrhundertwende auf und übersetzte sie mit einem empirischen Untersuchungsdesign ins Feld der Sprachforschung. Der Nachweis, daß physiologische Störungen wie bei der Aphasie die Voraussetzungen für komplexe kognitive Operationen entzogen, erlaubte es, diese zu isolieren, ohne sie biologisch zu reduzieren. G.s Unterscheidung von situationsgebundenen konkreten Einstellungen/Verhaltensweisen bei traumatisierten Patienten, denen eine kategoriale Einstellung nicht mehr möglich ist, nimmt Husserls phänomenologische Grundargumentation mit idealen (»eidetischen«) Invarianten auf, die von komplexen kognitiven Leistungen vorausgesetzt werden, und macht sie für die Analyse der Sprachpraxis (insbes. auch des Spracherwerbs und ggf. des Sprachabbaus) produktiv. So wurden G.s Arbeiten auch in der zeitgenössischen philosophischen Diskussion aufgenommen, bei dem mit ihm eng befreundeten (und verwandten) Cassirer, der sich bei der Ausarbeitung seines Symbolbegriffes durchgehend auf G. stützt,[17] und vor allem bei der Phänomenologie, in deren Diskussionen er eine Standardreferenz ist.[18]
In seiner persönlichen Situation blieb G. wie erwähnt Immigrant – er mußte sich auch, trotz seines rigorosen Ausgangspunktes bei den biologischen Bedingungen der untersuchten Störungen, in den USA wiederholt wegen seines »philosophischen« Ansatzes rechtfertigen (s. das Vorwort seines genannten Bandes von 1948).[19] Im akademisch-wissenschaftlichen Kontext taucht er nur an disparaten, meist auch von Mit-Immigranten geprägten Stellen auf, wie z.B. mit einem Aufsatz in der emigrantengeprägten Zeitschrift Word 1946.[20] Präsent war seine Position vor allem auch in der New Yorker New School durch seinen dort lehrenden Schüler A. Gurwitsch (s.o.). Immerhin wird er gelegentlich in Arbeiten von führenden US-Strukturalisten rezipiert und erwähnt, z.B. von Z. Harris.[21] Daß er dabei jedenfalls noch in den ersten Jahren in den USA seine Position relativ offensiv vertrat, zeigt seine Beteiligung an dem 5. Internat. Kongreß für die »Unity of Science«.[22] In einer kulturwissenschaftlich orientierten Buchreihe hat er seinen Ansatz später noch einmal im Zusammenhang dargestellt (»The nature of language«)[23] und dabei auch seine Position im Feld der US-amerikanischen Sprachreflexion negativ verortet. Zugehörig fühlt er sich einem Diskurs, für den er als Fixpunkte Herder, Humboldt angibt sowie Bühler und Cassirer, aus dem amerikanischen-philosophischen Umfeld den Ethiker W. M. Urban sowie aus dem Cassirer-Umfeld S. Langer. Von Sprachwissenschaftlern im engeren Sinne nennt er dort nur Roman Jakobson, der nun seinerseits im gleichen Band bemüht ist, auch G.s Arbeiten systematisch in die derzeitige Sprachwissenschaft im umfassenden Sinne einzubeziehen, vor allem auch in Hinblick auf seine eigenen Arbeiten mit der Analyse literarischer Werke (»The cardinal dichotomy in language«, ebd. 155-173). Eine gewisse Präsenz behielt G. auch nach dem Weltkrieg in der sprachtheoretisch orientierten europäischen Diskussion, wo er z.B. als einziger Nicht-Europäer Anfang der 1950er Jahre an einer Konferenz über Denken und Sprechen in Amsterdam teilnahm.[24]
Sein persönliches Schicksal, die rassistische Diskriminierung und die dadurch erzwungene traumatische Emigration, spiegelt sich in seinen kulturanthropologischen Überlegungen, die gegen biologistische Reduktionen des menschlichen Handelns angehen (s. auch die Hinweise bes. bei der Auseinandersetzung um die Psychoanalyse in seinen »Notes on the Development of my Concepts«),[25] vor allem aber auch gegen die normative Wertung »primitiven« Verhaltens, wobei er sich gerade in Hinblick auf seine Unterscheidung von »konkretem« gegenüber »abstraktem« Verhalten von entwicklungspsychologischen Modellen in der Folge von Levy-Bruhl abgrenzt. Damit lieferten G.s Arbeiten auch die begrifflichen Grundlagen für die "kulturhistorischen" Arbeiten in der frühen Sowjetunion, vor allem so bei den empirischen Forschungen von A.R. Lurija, der in diesem konzeptuellen Rahmen (vor allem auch mit der Unterscheidung von [± kategorial]) die Verschiedenheit von situativ gebundenem "konkreten" Verhalten bei analphabeten Hirten und Bauern gegenüber mehr oder weniger literarisierten Menschen, die in moderne soziale Organisationsformen eingebunden sind, untersucht hatte. [26]
Auf die anti-biologistischen (und damit anti-normativen) Implikationen seines Ansatzes hat G. besonders in seinen Arbeiten nach der Emigration immer wieder hingewiesen.[27] Darin drückte sich nicht nur die Verarbeitung seiner Opfer-Rolle der rassistischen Verfolgung aus, sondern auch seiner erschreckenden Kollusion beim rassistischen Diskurs, wie sie sein Buch »Über Rassenhygiene«[28] dokumentiert hatte – ein engagiertes Eintreten für biologische Gesichtspunkte in der Politik, zwar überlagert von der Emphase auf dem Primat der »Versittlichung des Menschengeschlechts«,[29] aber die sorgfältige Vermeidung von Problemen des Antisemitismus ist dort erkauft mit dem Eintreten für die weitere »Herrschaft« (sic!, S. 93) der »weißen Rasse«; von der er passim als »unserer Rasse« spricht (z.B. S. 13), vor allem gegenüber der »gelben Gefahr« (S. 95) – nur mit Schaudern liest man hier die »objektiven« Abwägungen für und gegen die Zwangssterilisation (S. 62ff.), die Vor- und Nachteile des Krieges als Selektionsinstrument (S. 26ff.); vgl. auch Parallelen bei Theodor Geiger.
Q: BHE; DBE 2005; E. G. Boring/G. Lindzey (Hgg.), »A history of psychology in autobiographies«, Bd. 5, New York: Appleton-Century-Crofts 1967: 147-166; FS »Papers in honor of K. G.«1959 (= Journal of Individual Psychology 15); M. L. Simmel (Hg.), »The reach of mind. Essays in memory of Kurt G.«, New York: Springer 1968; M. Kütemeyer/U. Schulz, »Kurt G. (1878-1965): Begründer einer psychosomatischen Neurologie?« in: Ch. Pross/R. Winau (Hgg.), »Nicht mißhandeln! Das Krankenhaus Moabit«, Berlin: Hentrich 1984: 133-139, sowie weitere Hinweise dort.
[Nachtrag 2021: R. de Bleser, Kurt Goldstein, in: P. Eling (Hg.), Reader in the history of aphasia. Amsterdam: Benjamins 1994: 319-347]
[1] S. Feichtinger 2001, S. 72.
[2] S. dazu und zu G.s politischer Einstellung Kütemeyer/Schulz (Q).
[3] Akten im Rockefeller-Archiv.
[4] S. auch Coser 1984: 19.
[5] Zu seinem Leben s. seine autobiographische Skizze (postum von W. Riese redigiert) in: E. G. Boring/G. Lindzey (Q) sowie die Beiträge von Simmel, Ulich, Riese und Murphy in dem von M. L. Simmel hg. Gedächtnisband (Q); zur Bewertung »European«, s. dort Simmel, S. 9 – zu seinen Problemen mit dem Leben in den USA gehörten auch seine Schwierigkeiten, die dortige Kommerzialisierung der Medizin mitzumachen, s. Hinweise bei Kütemeyer/Schulz (Q).
[6] Zuerst 1906, nachgedruckt bei A. Gurwitsch u.a. (Hgg.), »Kurt Goldstein: Selected Papers/Ausgewählte Schriften«, Den Haag: Nijhoff 1971: 13-57.
[7] In: Psych. F. 6/1925: 127-186. Zu den methodischen Implikationen dieser Arbeiten, die G. auch immer selbst herausstellte, s. z.B. M.G. Ash, Ganzheit und Gestalt, in: M. Epple u.a. (Hgg.), 'Politisierung der Wissenschaft'. Jüdische Wissenschaftler und ihre Gegner an der Universität Frankfurt am Main vor und nach 1933. Göttingen: Wallstein 2016: 363 - 394.
[8] Der Mediziner (Aphasiologe) Arnold Pick (1851-1924), nicht zu verwechseln mit dem Semitisten H. Pick.
[9] Explizit so im Anschluß an von Monakow in der Ausarbeitung eines Vortrages von 1926, nachgedruckt in Gurwitsch a.a.O., S. 154-230.
[10] Diese Unterscheidung wurde auch terminologisch in der einschlägigen Forschung fest: vor allem in der Piaget-Schule, aber z.B. auch in der russischen Vygotzki-Tradition der „kulturhistorischen“ Arbeiten, wo sie Vygotzkis damaliger Mitarbeiter Aleksandr R. Lurija auch als diagnostisches Kriterium in der ethnologischen Forschung umsetzte, so in seinen bis heute viel diskutierten Untersuchungen bei literaten und illiteraten Sprechern in der Altai-Region, die er dort (in Verbindung mit Vygotzki) 1931 - 1932 durchgeführt hatte (zugänglich in seiner späteren Neuveröffentlichung, dt. Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, Berlin (DDR): Deutscher Verlag der Wissenschaften 1986 (russ. Orig. Moskau 1974); oft zitiert nach der engl. Übersetzung 1976).
[12] Sonderheft des Bandes 30/1933 des J. d. Psych. normale et pathologique.
[13] a.a.O., S. 430-496 – einer der längsten des Bandes!
[14] ebd. S. 457.
[15] »Linguistic glosses to Goldstein's ›Wortbegriff‹«, in der FS 1959 (Q), nachgedruckt in Jakobsons »Selected Writings« 2/1971: 267-271.
[16] New York: Grune and Stratton 1948, 51971.
[17] Cassirer hatte im 3. Band seiner »Symbolischen Formen« (1929) ein ausführliches Kapitel »Zur Pathologie des Symbolbewußtseins« (Teil II, Kap. 6, S. 238-325), in dem er sich durchgängig nicht nur auf die Befunde von G. (bzw. von G. und Gelb) stützt, sondern G. explizit für persönlich vermittelte grundlegende Einsichten dankt (s. bes. S. 244, FN 2), im übrigen auch von G. zur Verfügung gestelltes unveröffentlichtes Anschauungsmaterial nutzt.
[18] Das Verhältnis zuHusserl wird deutlich bei G.s Schüler Aron Gurwitsch, der zunächst in Freiburg bei Husserl studierte, dann aber zu G. nach Frankfurt wechselte und sich zeitlebens daran abarbeitete, Einzelwissenschaften wie die Psychologie im Rahmen von Husserls Phänomenologie zu rekonstruieren, s. besonders seine »Studies in phenomenology and psychology«, Evanston: Northwestern UP 1966. Gurwitsch gab den oben genannten Sammelband mit Aufsätzen von G. 1971 als Band 43 in der Reihe »Phaenomenologica« heraus (die außer von Gurwitsch von E. Fink, M. Merleau-Ponty, R. Ricoeur u.a. herausgegeben wird).
Aron Gurwitsch (1901-1973) mußte vor der rassistischen Verfolgung 1933 nach Paris emigrieren, wo er bis 1939 lehrte. 1940 emigrierte er weiter in die USA, wo er zunächst an der Johns Hopkins Universität, dann in Harvard, in Brandeis und in New York an der New School lehrte. Zu Gurwitsch s. den Nachruf von L. Embree, in: Z. allg. Wissenschaftstheorie 5/1/1974: 1-8.
[19] Generell zum Mißerfolg der ganzheitlichen Psychologie in den USA s. auch Coser 1984.
[20] »On naming and pseudo-naming«, in: Word 2/1946: 1-7 (repr. in Gurwitsch 1971: 400-408) – neben einem Überblick über seine Konzeption der Nachweis, daß auch referentielle Beziehungen nicht aus einer Relation zwischen sprachlichem Zeichen und Ding in der Welt zu erklären sind, sondern auf den Umgang der Sprecher mit der (ihrer) Welt zurückzuführen sind./1946: 1-7 (repr. in Gurwitsch 1971: 400-408) – neben einem Überblick über seine Konzeption der Nachweis, daß auch referentielle Beziehungen nicht aus einer Relation zwischen sprachlichem Zeichen und Ding in der Welt zu erklären sind, sondern auf den Umgang der Sprecher mit der (ihrer) Welt zurückzuführen sind.
[21] S. z.B. von diesem »Distributional structure«, in: Word 10/1954: 146-162, passim (also in einer ausgeprägten Emigranten-Zeitschrift!)./1954: 146-162, passim (also in einer ausgeprägten Emigranten-Zeitschrift!)./1954: 146-162, passim (also in einer ausgeprägten Emigranten-Zeitschrift!).
[22] Sept. 1939 an der Harvard Univ. von Carnap, Reichenbach, Morris u.a. organisiert, s. die Kurzdarstellung des Kongresses in Erkenntnis 8/1939-1940: 368-371, hier S. 370, G.s Vortragstitel »The Task of Biology«. Ob G. diesen Vortrag gehalten hat, konnte ich nicht feststellen. Kongreßakten sind nicht veröffentlicht worden.
[23] In: R. N. Anshen, »Language: an enquiry into into its meaning and function«, New York: Harper 1957: 18-40.
[24] S. G. Révész (Hg.), »Thinking and speaking. A symposium«, Amsterdam: North Holland 1954; G.s Beitrag »Bemerkungen zum Problem ›Sprechen und Denken‹ auf Grund hirnpathologischer Erfahrungen« dort S. 175-196. Diese Konferenz hatte der Leiter des großen psychologischen Instituts in Amsterdam, Géza Révész, organisiert (G. R., 1878-1955, psychologische Promotion 1906 in Göttingen, Professur 1908 in Budapest, das er nach der Etablierung des Horthy-Regimes 1920 verlassen mußte; Emigration in die Niederlande, wo er 1932 die Professur in Amsterdam erhielt; die enge Verbindung zu G. ergab sich bei dessen erster Emigrationsstation dort, s.o. Während der deutschen Besetzung war R. selbst rassistischen Repressionen ausgesetzt).
[25] Zuerst 1959, nachgedruckt in Gurwitsch, op. cit., S. 1-12).
[26] s. Fn. 10; in der deutschen Ausgabe (1986): 73 - 75.
[27] S. seine erwähnte Autobiographie, bes. S. 160ff. und passim in dem Sammelband von Gurwitsch u.a., bes. S. 485ff.
[28] Berlin: Springer 1913.
[29]a.a.O., S. VII.