Fraenkel, Eduard David Mortier
Trotz seiner Begeisterung für die klassische Philosophie, die bes. durch eine »Bildungsreise« durch Italien nach dem Abitur 1906/1907 bestimmt war, begann F. 1906 zunächst ein Jurastudium in Berlin, weil er für sich als praktizierenden Juden[2] keine Chance einer akademischen Karriere sah. Nebenher hörte er aber klass. Philologie, vor allem bei Wilamowitz und wechselte schließlich doch mit dem Ziel des Schuldienstes die Studienrichtung. Seit 1909 studierte er in Göttingen, vor allem bei Friedrich Leo, bei dem er 1912 promovierte (s.u.) und dessen Arbeiten zum Altlateinischen er später fortführte (1960 gab er dessen »Kleine Schriften« heraus). Seine fachliche Ausrichtung war von der Sprachwissenschaft bestimmt: in Göttingen von Wackernagel; in Berlin von W. Schulze, dem er auch später noch sein großes Werk über die lateinische Akzentuierung (1928) widmete. Seine Dissertation war im Thema literaturgeschichtlich ausgerichtet (»De media et nova comoedia questiones selectae«),[3] rekonstruiert aber Abhängigkeiten späterer Autoren (Plautus...) durch die direkten (Zitate) sowie die indirekten (Anspielungen) Formen der Bezugnahme.
1913-1915 arbeitete er am lateinischen Thesaurus in München, wo er methodisch wichtige Artikel redigierte (u.a. dies, fides); er ging dann in den Schuldienst und habilitierte schließlich 1917 für klassische Philologie in Berlin. Danach unternahm er eine Reihe grundlegender Untersuchungen zur (vor allem altlateinischen) Metrik, die 1928 in »Iktus und Akzent im lateinischen Sprachraum«[4] mündeten, wo er aufgrund rigoroser (auch statistischer) Aufbereitung des Materials (vor allem aus Plautus) die satzphonetische Akzentuierung in Spannung zum (festen) Wortakzent rekonstruiert und dazu satzphonetische Transformationsregeln aufstellt; er verweist dabei auf die Probleme der Überlagerung in der späten Überlieferung, die bei ansonsten phonologisch gewandelten Strukturen z.T. literarische Iktusmuster tradiert, neben »poetischen Lizenzen«, die aber eben doch alle in einem vorgegebenen sprachlichen Horizont definiert sind. Die Reaktion auf das Werk war widersprüchlich: J. B. Hofmann rühmte es für seine methodische Sorgfalt;[5] P. Maas unterwarf es einer strengen Detailkritik, die F. später auch überzeugt hat. Auch noch F.s letzte größere Veröffentlichung: »Leseproben aus Reden Ciceros und Catos«[6] ist neben extensiven grammatischen Texterläuterungen in der Hauptsache prosodischen Fragen gewidmet; insbes. der Gliederung der Sätze in Kola (im Zusammenspiel von rhythmischen und grammatisch-syntaktischen Faktoren); damit führte er explizit die Untersuchungen Nordens zur »Kunstprosa« fort.
1920 wurde er in Berlin zum a.o. Professor ernannt, 1923 zum o. Professor f. Klass. Philologie in Kiel, 1928 nach Göttingen, 1931 nach Freiburg berufen. 1933 wurde er aus rassistischen Gründen entlassen. Trotz erfahrener Diskriminierung auch durch Kollegen (auch schon vorher in Göttingen) hatte er Schwierigkeiten, sich zur Auswanderung zu entschließen.[7] 1934 emigrierte er nach England, wo er in Oxford kollegiale Aufnahme fand, sich zeitweise aber auch in Skandinavien aufhielt. 1935 erhielt er in Oxford den Lehrstuhl für Lateinische Sprache und Literatur, den er bis zur Emeritierung 1953 innehatte. Auch nach der Emeritierung setzte er seine Lehrtätigkeit fort: in Oxford, wo er (s. Lloyd-Jones, Q) gewissermaßen den Typus des deutschen Seminars einführte, vor allem aber in zahlreichen Gastprofessuren in Deutschland, der Schweiz und Italien (wo er einen großen Teil seiner späteren Arbeiten auch publizierte, bzw. wo seine Werke übersetzt wurden).
Entsprechend seinen Lehraufgaben sind seine späteren Publikationen breit philologisch angelegt: als extensive Kommentare im Stile seines Lehrers Wilamowitz; zur lateinischen Literatur (Plautus, Horaz), aber auch zur griechischen (Aeschylos, Aristophanes) – so sehr er die Eigenständigkeit der römischen Literatur betonte, so sehr lag ihm daran, die klassische Philologie als Einheit zu vertreten. Außer literarischen Gegenständen bearbeitete er gelegentlich auch andersgeartete kulturgeschichtliche Themen – u.a. im Sinne seines frühen Jurastudiums auch solche der römischen Rechtsüberlieferung. Seine Kleinen Schriften (»Kleine Beiträge zur Klassischen Philologie«, 2 Bde.)[8] zeigen die Ausrichtung seiner Arbeiten deutlich: auch wenn der Untertitel ausdrücklich »Zur griechischen Literatur« (Bd. 1) und »Zur römischen Literatur« (Bd. 2) vermerkt, verbergen sich dahinter doch vorwiegend Untersuchungen zu literaturgeschichtlich relevanten Autoren – die hier neben der Bearbeitung anderer (vor allem juristischer) Texte stehen, sowie systematische Beiträge zur Wortbildung, Wortgeschichte und Syntax (wieder vor allem in Hinblick auf prosodische Fragen).
Die Vertreibung aus Deutschland ist für ihn offensichtlich traumatisch gewesen. Die Nachrufe sprechen direkt, mehr noch indirekt seine Schwierigkeiten an, sich einer ihm außerordentlich wohl gesonnenen und ihn als Autorität respektierenden akademischen Umgebung anzupassen. Die Schroffheit, mit der er andere behandelte, Studierende (s. drastisch Lloyd-Jones [Q], S. 638 f.), besonders aber seine Fachkollegen (alle seine Arbeiten sind von aggressiven, z.T. polemischen Kritiken durchsetzt), drückt wohl die eigene Verletztheit aus.[9] Offensichtlich kam er mit seiner Situation erst besser zurecht, als er nach Kriegsende zumindest wieder den Kontakt zur kontinentalen Heimat aufnehmen konnte (wobei er die Verhaltensweisen seiner Kollegen im ehemaligen »Reich« nicht vergaß, s. Lloyd-Jones [Q]: S. 638, Anm. 3). So wollte er auch den Tod seiner Frau Ruth von Velsen, die er 1910 im Seminar von W. Schulze kennengelernt hatte, nicht überleben und nahm sich bald darauf das Leben.
Q: V; BHE; Nachrufe von W. H. Friedrich, in: Jb. d. A.d.W. in Göttingen, Jg. 1970: 65-70; H. Lloyd-Jones, in: Gnomon 43/1971: 634-640; Volbehr/Weyl 1956; E. Hofmann u.a. (Hgg.), Universität Kiel, Bd. V, 2: 244-249; Wegeler 1996.
[1] Eine Schwester war mit Herman Fraenkel verheiratet, den F. aus seiner Göttinger Studienzeit kannte.
[2] In seiner Vita schreibt er »fidem profiteor mosaicam« (ich bekenne mich zum Mosaischen Glauben).
[3] Göttingen: Dieterich 1912.
[4] Berlin: Weidmann.
[5] In: Idg. F. 49/1931: 307-310.
[6] Rom: Ed. di Storia e Letteratura 1968.
[7] S. Wegeler 1996: 106-112, detailliert auch zu seiner Arbeit in Göttingen, fachübergreifend (mit Juristen und Historikern) sowie vor allem auch engagiert in der Lehrerausbildung. In Freiburg gab es allerdings auch Unterstüzung in der Universität: so setzte sich insbesondere auch der damalige Rektor M. Heidegger für F. beim Kultusminsterium ein, s. dessen persönliches Schreiben vom 12.7.1933 und auch die förmllich auf den Weg gebrachte Stellungnahme der Philos. Fakultät vom 19.7. 1933, abgedruckt in M. Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt: Klostermann 2000: 140 - 141 und 144 - 146.
[8] Rom: Ed. di Storia e Letteratura 1964.
[9] Diese Schroffheit findet sich aber auch schon in früheren Arbeiten, s. etwa die vernichtende Rezension der Dissertation von W. Rechnitz (1925), die er 1927 in der Savigny-Zeitschrift veröffentlichte (wieder abgedruckt in den »Kleinen Schriften« II: 491-514). Zu seiner unangepaßten Art als Hochschullehrer in Oxford, s. den anekdotischen Bericht von S. West, E. F. in Oxford, in: »Magistri et Discipuli«, Kapitel zur Geschichte der Altertumswissenschaften im 20. Jhd., Toruń: Wydawnictwo Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2002: 51-70.