Fraenkel, Hermann Ferdinand
Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Sanskrit in Berlin, Bonn und Göttingen, 1915 in Göttingen mit der Promotion abgeschlossen. Danach zunächst als Freiwilliger 1915-1918 an der Front in Rußland (trotz labiler Gesundheit). 1920 Habilitation in Göttingen, seitdem dort auf einer Assistentenstelle Lehre in der Klassischen Philologie (seit 1925 als a.o. Prof.). Die Übernahme auf eine reguläre Stelle und Berufung auf Professuren an anderen Universitäten (Hamburg, Marburg, Rostock) kamen aus mehr oder weniger offen dargelegten rassistischen Gründen nicht zustande.[2] Am weitesten gedieh das Verfahren in Rostock, wo die Berufung eines Juden aber schon 1932 ausdrücklich abgelehnt wurde (statt seiner wurde K. von Fritz ernannt).[3] Als Kriegsteilnehmer war F. nach 1933 zunächst noch im Dienst geschützt; die Institutsleitung versuchte auch noch, eine Verlängerung seines Vertrages über 1935 hinaus zu erwirken, mit der Begründung, daß er für die Lehre, in der er auch die vakante Latinistik mitvertrat, unverzichtbar sei, was aber keinen Erfolg hatte (s. Wegeler, Q: 164-169, auch zum parallelen Verfahren bei Latte).
1935 emigrierte er in die USA, wo er bis 1937 mit Unterstützung der Rockefeller Foundation an der Stanford University lehren und forschen konnte (in dieser Zeit wurde er auch noch in den Londoner Listen der »Notgemeinschaft« offeriert); mit einer Unterbrechung für eine (Gast-)Professur in Berkeley 1942-1943 war er seitdem bis zur Emeritierung 1953 dort o. Professor. Nach der Emeritierung nahm er noch verschiedene weitere Gastprofessuren wahr, u.a. 1955-1957 an der Univ. Freiburg/Br., wo er 1956 zum Honorarprofessor ernannt wurde.
Seine Arbeiten sind strenge Philologie, insbes. seine Texteditionen. Den Anfang macht hier seine Dissertation »De Simia Rhodio«,[4] mit einer ausführlichen Einleitung über diesen Dichter des 3. Jhdts. v. d. Z., dessen Texte er herausgibt und philologisch kommentiert. Die Habilitationsschrift galt den Gleichnissen bei Homer (publiziert 1921, s.u.). Im Anschluß daran veröffentlichte er eine Reihe von Stiluntersuchungen zur (alt-)griechischen Literatur. Gegenstand lebenslanger Beschäftigung war bei F. insbes. die Argonauten-Dichtung des Apollonios von Rhodos, zu deren handschriftlicher Überlieferung er mit genauer kodikologischer Beschreibung schon in seiner Göttinger Zeit gearbeitet hatte (»Die Handschriften der Argonautika des Apollonios von Rhodos«),[5] deren abschließende Ausgabe er 1961 in Oxford publizierte; einen Kommentarband dazu veröffentlichte er 1964 (»Einleitung und kritische Ausgabe der Argonautik des Appollonios«).[6] Unter mehr literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten behandelte er den Text in seinem Vortrag im Freiburger Studium Generale im WS 1956/1957 »Das Argonautenschiff des Appollonios«.[7]
Seine Beschäftigung mit Fragen der Textüberlieferung und insbes. der Metrik beschränkte er aber nicht auf die Klassische Philologie: 1921 publizierte er auf der Basis umfassender Kenntnisse der ahd. Überlieferung seine Studie »Aus der Frühgeschichte des deutschen Endreims«,[8] bei der er gegen die damals in der dt. Literaturgeschichte übliche Genialisierung Otfrieds diesen formal »auf gebahnten Wegen« nachweist – bemerkenswert durch die nationalen Töne, die er dabei anschlägt: gegen die ausschließliche Ausrichtung auf lateinische Vorbilder suchte er das »deutsche Wesen« (S.62) in der althochdeutschen Dichtung, deren Untergang am Ende des frühen Mittelalters er geradezu als nationales Unglück anspricht (S. 64). Auch später kam er nochmals auf Otfried zurück: in seinem Vorwort zu D. A. McKenzie, »Otfried von Weissenburg: Narrator or Commentator?«[9] sieht er McK.s These von Otfried als Kommentator zu der lateinischen Vorlage offensichtlich auch im Spiegel seiner eigenen lebenslangen Kommentarbemühungen.[10]
Systematisch beschäftigte er sich mit Problemen der Stilanalyse, was ihn im Feld der damaligen Neuerer der Sprachwissenschaft zeigt, an deren Diskussionen er zumindest indirekt in Hinblick auf die Probleme der methodischen Kontrolle der Analysen partizipierte. In seiner Habilitationsschrift »Die homerischen Gleichnisse«[11] rekonstruiert er die »Gleichnisse« (Vögel...) systematisch durch die unterschiedlichen Anspielungsebenen des Textes hindurch, und schlüsselt schließlich in einem »Schlagwortregister« die Motivstruktur auf.[12] Mit der Herausstellung der relativen Autonomie der stilistischen (also sprachlichen) Form im Horizont der jeweiligen Überlieferung stellte er sich gegen die damals endemische Mode, die »innere Sprachform« direkt an Äußerungsformen abzulesen, so etwa anhand der damals viel diskutierten Farbbezeichnungen in seiner ausführlichen Besprechung von K. Müller-Boré,[13] wo er gegen die Deutung eines »farbenblinden« griechischen Weltbildes auf den stereotypen Konnotationen in farblichen Bezeichnungen in der altgriechischen Dichtung insistierte.
Dabei verstand F. sich explizit als Sprachwissenschaftler, der nicht nur zahlreiche kleinere, vor allem wortgeschichtliche Studien vorgelegt hat, sondern der den Bemühungen der 20er Jahre um eine Stilanalyse verpflichtet ist, für die die Textkritik nur die materiale Grundlage bietet, s. bes. seine rückblickende Einleitung in F. Tietze (Hg.), »H. F.: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien«[14] – trotz des Untertitels dieser »Kleinen Schriften« betont er dort geradezu die Affinität zu den Naturwissenschaften und die Notwendigkeit formal-algebraischer Repräsentationsformen für die sprachliche Formanalyse (S. xvii zur metrischen Analyse).
Am deutlichsten kommt dieses Selbstverständnis in seinem Spätwerk »Grammatik und Sprachwirklichkeit«[15] zum Ausdruck, in dem er einen eigenen systematischen Entwurf zur Grammatiktheorie (mit einer extrem idiosynkratischen Terminologie, z.B. Flarens [mehr oder weniger »Präsens«], Luma [etwa »Pronomen«] u. dgl.) vorlegte, der auf einer deskriptiven Position gegen die spekulativ-logische Tradition der Grammatikreflexion insistiert und (ganz i. S. der jüngsten kognitivistischen Wende) fordert, das grammatische Wissen um die Regularitäten der Sprachpraxis zu rekonstruieren – aber keine Anzeichen einer Auseinandersetzung mit der neueren sprachwissenschaftlichen Literatur zeigt. Gegen den traditionellen Psychologismus versucht er, die grammatischen Strukturen von dem her zu entwickeln, was die Äußerung aufgrund ihrer Form dem Hörer vermittelt (und nicht, was der Sprecher mit ihr verbindet). Auch sonst zeigen seine Kategorien Übereinstimmungen mit der neueren kommunikativ orientierten Sprachtheorie (etwa in der Linie von Bühler), vgl. etwa zu Tempus (S. 145), zur Personaldeixis (S. 321) usw. Bemerkenswert an diesem Buch ist aber auch, wie F.s biographische Situation in es eingeschrieben ist: er veröffentlichte es von Kalifornien aus auf deutsch in Deutschland – insistierte aber auf seiner im Deutschen unorthographischen prosodischen Interpunktion nach angelsächsischem Vorbild (S. viii). Seine Beispiele nimmt er außer aus den klassischen Schulsprachen vor allem aus dem Deutschen und Englischen.
F. hatte sich offensichtlich auch sprachlich in den USA rasch zurechtgefunden, fühlte sich aber nach wie vor im Deutschen verwurzelt, das er auch als Publikationssprache nach Möglichkeit beibehielt. 1946 bemühte er sich gleich um eine Rückkehr nach Göttingen, wurde aber von der Universität hingehalten, wobei vor allem auch das Kultusministerium die ungeklärten Wiedergutmachungsansprüche ins Feld führte. Ein von F. 1950 gestellter Antrag auf Wiedereinstellung nach 1953 als Emeritus wurde hinhaltend bearbeitet, und F. mußte wiederholt Zeugenaussagen beibringen, die seine Benachteiligung beweisen mußten. Erst 1957 wurde er als Emeritus der Universität Göttingen mit einem entsprechenden Wiedergutmachungsbescheid anerkannt (s. Wegeler, Q: 267-270).
Q: LdS: temporary; BHE; B/J; Wegeler 1996; DBE 2005; Nachruf: L. Pearson u.a.: Memorial Resolution H. F. Frankel (s. http://histsoc.stanford.edu/pdfmem/FrankelH.pdf, Jan. 2009); Bibliographie in den »Kleinen Schriften« (s.o.) S. xx-xxiii.
[1] Schwager von Eduard Fraenkel.
[2] Detailliert zu diesen Konflikten, die schon das Habilitationsverfahren 1920 prägten, Wegeler (Q: 98-106).
[3] In Mecklenburg bildete damals schon die NSDAP die Regierung, s. dazu Heidorn u.a. 1969, Bd. 1: 265.
[4] Göttingen: Dieterich 1915.
[5] In: Nachr. d. Ges. d. Wiss. Göttingen. Ph.-hist. Kl./1929: 164-196.
[6] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zur Fachkritik an F.s doch sehr weitgehenden kritischen Eingriffen in die Textüberlieferung, s. Pearson u.a. (Q).
[7] In: Freiburger Dies Universitatis 5/1956/1957: 9-27.
[8] In: Z. f. dt. Altertum u. dt. Literatur 58: 41-64.
[9] Stanford: Stanford UP 1946.
[10] Solche autobiographischen Spiegelungen finden sich damals öfters in seinen Werken: auch seine Rekonstruktion eines literarischen Topos der antiken Dichtung (Ovid, Pindar...) »The Immigrant's Bath« (in: Univ. Calif. Publ. in Classical Ph. 12/1944: 293-294) dürfte so zu sehen sein.
[11] Zuerst 1921, Repr. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977.
[12] Methodische Parallelen finden sich z.B. in den zeitgenössischen Arbeiten von Sperber und Spitzer.
[13] »Stilistische Untersuchungen zum Farbwort und zur Verwendung der Farbe in der älteren griechischen Poesie« (1922), in: Dt. Literaturz. 35/1924: Sp.2366-2370.
[14] München: Beck 3. erw. Aufl. (zuerst 1955). Zu diesem umfassenden Ansatz in seinen (frühen) Arbeiten, s. auch die Würdigung durch B. Snell in »Philologie von heute und morgen. Die Arbeiten F. Fraenkels«, in ders. »Gesammelte Schriften«, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966: 211-212 (zuerst in ders. »Bodensee-Buch«, Kreuzlingen/Schweiz 1963: 125f.).
[15] München: Beck 1974.