Argelander-Rose, Anneliese
(früher: Argelander)
Geb. 23.5.1896 in Weißenburg/Elsaß, gest. 27.10.1980 (in den USA).
Nach dem Abitur 1915 in Krefeld von 1915-1919 Studium der Philosophie und Volkswirtschaft in Berlin und Heidelberg, mit volkswirtschaftlicher Promotion abgeschlossen. Während des Krieges leistete sie »Hilfsdienst« beim Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Berlin. Die Dissertation (»Die Entwicklung der Eisenpreise in Deutschland, England und den Vereinigten Staaten während des Krieges«)[1] ist bemerkenswert durch die dabei deutlichen politischen (gewerkschaftlich orientierten) Prämissen der Analyse, die auch die Auswirkungen der »Revolution« (sic!) von 1919 einschließen. 1919/1920 war sie angestellt bei einem Forschungsinstitut für Textilstoffe in Karlsruhe, 1920-23 Assistentin am Institut f. Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule in Mannheim. Von dort wechselte sie nach Jena, wo sie 1926 als eine der ersten für Psychologie habilitierte (und nicht mehr mit einer philosophischen Venia, s. Geuter 1986: 316). Seitdem lehrte sie dort mit dem Schwerpunkt Arbeitspsychologie; seit 1930 als a.o. Professorin (zugleich als Abteilungsvorstand für Psychologie, Amtstitel seit 1932 »Konservator«).
1934 wurde sie zunächst beurlaubt (offiziell aus Krankheitsgründen) und ging vorübergehend nach England (die Londoner Listen der »Notgemeinschaft« von 1936 verzeichnen sie als »unplaced«). 1937 wurde sie nach §6 des Beamtengesetzes entlassen: die in den Akten dokumentierte Begründung war ihre Lebensgemeinschaft mit dem bereits 1933 aus rassistischen Gründen entlassenen Psychologen W. Peters, mit dem sie seit 1920 zusammenlebte und mit dem sie von Mannheim nach Jena gezogen war.[2] Von 1936-1938 war sie Wiss. Mitarbeiterin am Kaiser-Wilhelm-Institut f. Hirnforschung in Berlin. Im Januar 1939 emigrierte sie (nach ihrer Heirat mit dem poln. Neurologen Jerzy Edwin Rose [1909-1992])[3] zunächst nach Polen, dann weiter in die USA, wo sie zunächst Assist. Professorin, dann Assoc. Professorin für Psychologie am Smith College, Northhampton (Mass.), war, 1949 bis zur Emeritierung am Goucher Coll., Towson (Maryland), zuletzt als o. Professorin.
Sie hat eigene empirische Untersuchungen, vor allem aber auch zusammenfassende Beiträge zur Sozialpsychologie verfaßt, bei denen die »schichtenspezifischen« Sprachprobleme eine zentrale Rolle spielen, s. bes. ihren Forschungsbericht »Der Einfluß der Umwelt auf die geistige Entwicklung«,[4] in dem sie für ein soziales bzw. funktionales und gegen ein biologisches Sprachverständnis plädiert (bes. S. 11), wobei ihre umfangreiche Bibliographie von 166 Titeln allein 16 zu sprachsoziologischen Fragen aufführt.[5] Eine detaillierte Fallstudie legte sie 1927 vor (»Über den sprachlichen Ausdruck des Schulkindes in der freien Erzählung«),[6] bei der sie nicht nur eine Skala zur Messung der sprachlichen Differenziertheit (im Bereich der schriftsprachlichen Syntax) nutzt, die eindeutige Korrelationen zur sozialen Schichtzugehörigkeit zeigt, sondern auch geschlechtsspezifische Differenzen ausweist, die sie aber auf unterschiedliche Entwicklungsrhythmen bei Jungen und Mädchen zurückführt (s. bes. S. 77). Vor diesem Hintergrund kritisierte sie die gängigen Intelligenztests, die zum großen Teil sprachliche Fertigkeiten messen, dabei aber nicht die »milieu«-bedingt unterschiedlichen Sprachpraxen (Ausmaß von Artikuliertheit und Differenziertheit des Ausdrucks, Wortschatzdifferenzen u. dgl.) berücksichtigen, s. etwa »Der Einfluß des Milieus auf die kindliche Sprachleistung«.[7]
In pädagogisch-praktischer Perspektive explorierte sie die sozialbedingt unterschiedlichen Sprachpotentiale vor allem in Hinblick auf ihre Entfaltung beim Schriftspracherwerb. Dazu führte sie kontrollierte Untersuchungen zu schriftlichen Schreibleistungen durch, analysierte aber auch das spontane Schreiben von »Unterschichts«kindern und -jugendlichen im Kontext der Armutsforschung, die in der Weltwirtschaftskrise Aufschwung erhielt, vor allem auch als Versuch, die darin liegende positive Leistung zur Geltung zu bringen (zugleich aber auch mit der Frage nach den kulturellen Ressourcen, zu denen die Kinder/Jugendlichen Zugang hatten: Klischees im »Groschenheftstil« bei der Selbstdarstellung, Versatzstücke aus Schlagern oder der Reklame u. dgl.), s. etwa (mit I. Weitsch, die wohl in Verbindung mit ihrer Erzieherinnenarbeit das Material erhoben hatte) »Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen aufgrund ihrer Tagebuchaufzeichnungen«.[8] Über die Wiener Arbeiten hinausgehend (s. hier bei Hetzer) analysiert A. dort auch die spezifischen Probleme postpubertären Schreibens.
Q: LdS: unplaced; Geuter 1986; Auskunft des Universitätsarchivs Heidelberg (14.4.2008).
[1] Düsseldorf: Stahleisen 1919.
[2] I. Raehlmann, »Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus: eine wissenschaftssoziologische Analyse«, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005: 67-68.
[3] S. den Nachruf auf diesen von L. Kruger in: J. of Comparative Neurology 327/1993: 469-472; dort auch das Todesdatum von A.
[4] Als für den Druck erweiterte Fassung ihres Habil.vortrages von 1927 in den von ihr selbst 1925-28 mitherausgegebenen »Jenaer Beiträge zur Jugend- und Erziehungspsychologie«, Heft 8; Langensalza 1928.
[5] Angesichts des Innovationspathos der Soziolinguistik nach 1968 bemerkenswert.
[6] Langensalza: Beltz 1927 (= Jenaer Beiträge H.3).
[7] In Z. f. päd. Psych. 29/1928: 34-42.
[8] Jena: Fischer 1933.