Bäuml, Franz H.
Der Vater war ein jüdischer Geschäftsmann, der als ehemaliger Offizier zwar ein österreichisches Selbstverständnis hatte, aber den Antisemitismus zeitlebens erfahren mußte. Im Juni 1939 schickten die Eltern B. (als einziges Kind) mit Hilfe einer Quäkerorganisation nach England, wo er bis 1942 in einem Heim untergebracht war. Die Eltern emigrierten im November 1939 in die USA, wohin ihnen der Sohn 1942 folgte. Er erwarb dort die US-Staatsbürgerschaft,[2] leistete von 1944-46 im Pazifik Wehrdienst, danach Schulabschluß und Beginn eines volkswirtschaftlichen Studiums; 1950-51 wurde er erneut eingezogen (Koreakrieg). Für seinen weiteren Studiengang sieht er selbst entscheidende Anstöße noch in der Wiener fin-de-siècle-Kultur und ihren Folgen (vermittelt später noch über den Vater), bes. bei Karl Kraus und dessen Sprachkritik.[3]
Er studierte in Berkeley Ideengeschichte mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Bereich (vor allem im Mittelalter). Sein wichtigster Lehrer war Archer Taylor, dem er nach eigenem Bekunden die Orientierung auf empirisches, materialbezogenes Arbeiten verdankt und damit eine geradezu positivistische Einstellung gegen die traditionelle »germanistische« geistesgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft, wobei die Positivität i. S. der anthropology[4] auch die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge umfaßte. 1957 promovierte B. an der Universität Berkeley (Dissertation: »Die Kudrun Handschrift«, s.u.). Seitdem Lehrtätigkeit an der UC Los Angeles, seit 1965 bis zur Emeritierung als ordentlicher Professor für deutsche Sprache.
Obwohl er Sprachwissenschaft studierte (i. S. des amerikanischen deskriptiven Strukturalismus), ist sein Interesse doch vom »literary criticism« bestimmt - die Strukturalismusdebatte bildet das Schnittfeld (mit Bezug auf Roman Jakobson wie die russischen Formalisten). In diesem Sinne betont B. gegenüber der Sprachwissenschaft die Notwendigkeit, Sprache nicht auf grammatische Strukturen zu reduzieren - und gegenüber der Literaturwissenschaft die Notwendigkeit, vor der Interpretation deskriptiv genau die Strukturen der Texte zu bestimmen, die die Interpretation begründen (so insbes. gegen ein subjektivistisches Literaturverständnis, das auf die »Absicht des Autors« fixiert ist). Diese formbezogene Analyse verbindet er mit kulturhistorischen Erklärungsansätzen - womit er (ohne es allerdings für sich so zu reklamieren) die Ansätze kulturanalytischer Sprachwissenschaftler von vor 1930 fortsetzt.
Sein Arbeitsschwerpunkt liegt bei mediävistischen Themen, wo sich seine Publikationen durch philologische Akribie auszeichnen, wie etwa bei der (auf der Dissertation aufbauenden) diplomatischen Edition »Kudrun: Die Handschrift«,[5] die der Überlieferung (hier: die frühneuhochdeutsche Niederschrift der mittelalterlichen Vorlage) zu ihrem eigenständigen Recht verhilft (statt eines normativen Bezugs auf ein idealisiertes Mittelhochdeutsch) und sich durch eine detaillierte paläographische Analyse der Schreiberhand und eine im engeren Sinne grammatische Interpretation auszeichnet. Auch über weitere philologische Arbeiten hinaus (u.a. Mitarbeit an einer Konkordanz des Nibelungenliedes) setzt er die »vorstrukturale« kulturgeschichtliche Tradition fort, s. etwa »Rhetorical Devices and Structures in the Ackerman of Böhmen«,[6] in der er in einem detaillierten Durchgang durch den Text dessen Stilelemente (von der Metaphorik über die Topoi bis zum formalen Gesamtbau) analysiert und diesen als manieristischen tour de force in der gelehrten Tradition des Mittelalters aufweist, an dem (gegen die vor allem in Deutschland verbreitete Reklamierung eines genuinen Ausdrucks »deutschen« Geistes) deutsch (und modern) nur die nichtlateinische Sprachform ist.
Die gleiche Anstrengung, die »universale« Einheit der mittelalterlichen Kultur aufzuzeigen, bestimmt auch die Überblicksdarstellung »Medieval Civilization in Germany, 800-1273«,[7] mit einer leicht anachronistischen Emphase entsprechend der von Ernst Robert Curtius (den B. auch immer als Autorität herausgestellt hat). Wie bei diesem mag das ein Reflex auf den deutschen Nationalismus und seine Kulmination in den Faschismus sein (wobei B. den damals üblichen Verlust methodischer Kontrolle der Argumentation am Text auch öfters als Gegenpart explizit herausstellt: so in seinem Forschungsüberblick zur Ackermann-Philologie). Verstärkend hinzukommen mag noch der germanistische Diaspora-Effekt, der eine normative Konservierung solcher »nationaler« Denkfiguren sicher fördert.
In den späteren Jahren hat B. eine Reihe von Studien zur Literarität im Mittelalter vorgelegt, zusammenfassend etwa »Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy«,[8] wo er die Topoi der einschlägigen Diskussion durch ein komplexes Modell überwindet, das Schrift als Medium zur Aneignung und Vermittlung gesellschaftlichen Wissens begreift, und so die Entwicklung vom "oligoliteraten" Mittelalter zur literarisierten Neuzeit in drei Dimensionen faßt: Eine soziale Stratifikation durch den unterschiedlichen Zugang zur Schrift (wobei die Pointe darin liegt, daß eine Notwendigkeit dazu empirisch unabhängig vom selbständigen Zugang ist, was außer den Extremen der litterati und illitterati eine »Zwischenschicht« definiert, die auf die litterati angewiesen ist); die mediale Form der Speicherung und auch der Weitergabe von Wissen (mündlich/schriftlich); schließlich die strukturellen Voraussetzungen bzw. Folgen sozialisierten oralen bzw. schriftlichen Verkehrs (anders in lateinischen als in nichtlateinischen Texten), wie er sie detailliert für die Entwicklung der neuen realistischen (bzw. »fiktionalen«) Literatur nachzeichnet.
Dieses Modell, das er in verschiedenen Aufsätzen vorgetragen hat, ist in der neueren sprachwissenschaftlichen Diskussion über Schrift meines Wissens noch nicht rezipiert worden, was dadurch sicher befördert wird, daß B. es in seinen an der Rezeptionstheorie orientierten Arbeiten literaturwissenschaftlich fruchtbar macht. Soweit ich sehe, hat er dieses Modell zunächst in Auseinandersetzungen mit literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Nibelungenlied entwickelt, s. noch zusammen mit E. Spielmann »From Illiteracy to Literacy: Prolegomena to a Study to the Nibelungenlied«[9]; »Medieval Literacy and Illiteracy: An Essay toward the Construction of a Model«;[10] »Zum Verständnis mittelalterlicher Mitteilungen«;[11] »Medieval Texts and the Two Theories of Oral-Formulaic Composition: A Proposal for a Third Theory«,[12] s. auch den ausführlichen Literaturbericht mit einer Replik auf seine Kritiker: »The Oral Tradition and Middle High German Literature«.[13]
Ausgangspunkt ist seine detaillierte Auseinandersetzung mit der stilistischen Heterogenität der Texte (insbesondere Formen der Ironie), die er als Reflex des Übergangs der oralen epischen Gattung in eine literate Bearbeitung bestimmt: In einer Gesellschaft, deren Organisation auf literater Wissensorganisation und - überlieferung beruht und deren literate (obwohl nach wie vor analphabetische) Oberschicht den Topos des Illiteraten als literarische Figur goutiert. Literat/illiterat sind so als soziales Verhältnis bestimmt, nicht weniger als der in diesem Verhältnis gemachte Gebrauch davon (etwa in Formen von Textgattungen, die eine bestimmte Rezeptionssituation symbolisch binden). So setzt er auch selbst die Akzente für ein darauf bezogenes geplantes Magnum Opus: Das historische Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Form zu rekonstruieren, in der es jeweils (zeitgenössisch) in literarischen Texten repräsentiert ist, insbes. in der ironischen Brechung fiktiver Mündlichkeit als literarischer Form. In diesem Sinne hat er schon den Teil »Mittelalter« der von E. Bahr hg. »Geschichte der deutschen Literatur«[14] verfaßt, wobei außer diesen methodischen Positionen, die die Produktions- wie Rezeptionsseite der Literatur betonen und sie in die zeitgenössische mediale Konstellation stellen (Schriftlichkeit von Latein besetzt, Deutsch traditionell durch Mündlichkeit definiert), insbes. die europäischen Bezüge der Literatur im Vordergrund stehen: das Nationale wird von dem Emigranten B. dem Universalen untergeordnet.
In späteren Jahren hatte er diese Analyse historisch ausgeweitet auf die Anfänge der Verschriftlichung der deutschen Volkssprache in Auseinandersetzung mit der lateinischen Schriftkultur, wobei er einer dichotomischen Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Nutzung von tradierten Formen mündlicher Praktiken als stilistische Ressource der neuen Schriftlichkeit gegenüberstellt, so bei frühmittelalterlichen Texten wie dem Heliand nicht anders als bei der späteren höfischen Dichtung. Dabei stellte er diese kulturellen Prozesse der Etablierung einer Schriftkultur in einen breiten gesellschaftlichen Kontext, in dem in der Schriftkultur gesellschaftliche Machtstrukturen ausgetragen werden, so bei der Karolingischen Reform nicht anders als mit umgekehrten Vorzeichen bei den frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen mit dem kirchlichen Monopol der Schriftkultur, s. »Reflections on the beginnings of literacy: The East Frankish kingdom«[15] und »Scribe et impera: Literacy in medieval Germany«.[16]
Eine explizite Auseinandersetzung mit neuen sprachwissenschaftlichen Konzepten (außer der demonstrativ bemühten Kommunikationsterminologie) fehlt in diesen ansonsten gerade in Literaturnachweisen reichen Arbeiten, s. auch den von ihm hg. Symposiumsband »From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide«,[17] in dem kein im engeren Sinne sprachwissenschaftlicher Beitrag vorhanden ist (übrigens auch kein Beitrag von B. selbst). Andererseits beschränken sich seine Arbeiten zunehmend weniger auf ein »germanistisches« Arbeitsfeld, wie der mit seiner Frau Betty (einer gebürtigen Amerikanerin, als Hispanistin tätig) verfaßte Band »A dictionary of gestures«[18] - eine Kompilation aus einer Unmenge weltweiter kulturgeschichtlicher, anthropologischer und belletristischer Literatur, aus der kulturell definierte, d. h. bedeutungsvolle, also gelernte Gesten (bzw. ihre Beschreibung) exzerpiert sind. Dieses Belegmaterial dient ihm zur Abgrenzung rein expressiver Gesten, die unwillkürliche Ausdrucksformen von Befindlichkeiten sind, von kulturell definierten, die als solche tradiert (und literarisch vorzeigbar) sind. Eine weitere Abgrenzung unternimmt er zu kodifizierten Gesten, die grammatikalisiert sind (wie Gebärdensprachen).
Die Überwindung der germanistischen Vorgaben seines Arbeitsfeldes - wie auch das Verfolgen der anfänglichen Interessen (die Arbeit ist dem volkskundlichen Lehrer Archer Taylor gewidmet) ist hier besonders deutlich.
B.s Arbeiten erweisen sich so (wogegen er allerdings protestiert!) in der Tradition der deutschen Stilanalyse der 20er Jahre, die das sprachwissenschaftlich-methodische Instrumentarium nutzte, um anhand der kulturellen Formen der verschiedenen Epochen deren »Geist« (im Vosslerschen Sinne) auf die Spur zu kommen. Wie sehr er noch - trotz aller Sophistizierung des strukturalen Instrumentariums - in dieser kulturanalytischen Tradition steht, zeigen nicht zuletzt seine durchgängigen Bemühungen, Homologien in den verschiedenen kulturellen Domänen nachzuweisen - so für bildliche und sprachliche Darstellungsformen in dem genannten Aufsatz von 1980 und in den meisten Aufsätzen zum Problem mittelalterlicher »Literalität«, durchgehend so in dem entsprechend üppig illustrierten Überblicksband von 1969 - und nicht zuletzt auch sein dominantes Interesse an »hochkulturellen« (literarischen) Leistungen, das er mit den frühen Kulturanalytikern teilt (s. den erwähnten Beitrag in Bahr 1978).
Q: BHE; Bibliographie in der FS Schaefer, Ursula/Spielmann, Edda (Hgg.): »Formen u. Folgen von Schriftlichkeit u. Mündlichkeit: Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag«, Tübingen: Narr 2001. Die Hinweise zur Biographie gehen zum größten Teil auf ein Interview zurück, das H. Walter im November 1985 mit B. in Los Angeles führte.
[2] In jüngerer Zeit nahm er wieder die österreichische Staatsbürgerschaft an (s. FS: Q).
[3] Für seine kontinuierliche Beschäftigung mit Karl Kraus spricht auch, daß er 1975-76 ein Namenregister zu dessen »Fackel« publizierte (in mehreren Folgen in der Modern Austrian Literature).
[4] Taylor betrieb Volkskunde.
[5] Berlin: de Gruyter 1969.
[6] Berkeley, Calif.: Univ. California Press 1960.
[7] London/New York: Thames and Hudson 1969.
[8] In: Speculum 55/1980: 237-265.
[9] In: J. Duggan (Hg.), Oral Literature, Edinburgh: Scottish Academy 1975: 62-73.
[10] In: St. J. Kaplowitz (Hg.), German Studies in Honor of Otto Springer, Pittsburgh 1978: 41-54.
[11] In: »Hohenemser Studien zum Nibelungenlied« (= Montfort, Jahrgang 1980), Dornbirn 1980: 287-298.
[12] In: New Literacy Hist. 16/1984-85: 31-49.
[13] In: Oral Tradition 1-2/1986: 398-445.
[14] Tübingen: Francke 1987: 1-240.
[15] In: N. van Deusen (Hg.), »The cultural milieu of the troubadours and trouveres«, Ottawa: Institute of Medieval Music 1994: 34-45.
[16] In: Francia 24 (1)/1997: 123-132.
[17] Göppingen: Kümmerle 1984.
[18] Metuchen/New York: Scarecrow 1975, 2. Aufl. mit dem Titel: »Dictionary of worldwide gestures« 1997.