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Bäuml, Franz H.

 

Geb. 12.6.1926 in Wien, gest. 6.12.2009[1] in Palm Dessert/Kalifornien.

Der Vater war ein jüdischer Geschäftsmann, der als ehemaliger Offizier zwar ein österreichisches Selbstver­ständnis hatte, aber den Antisemitismus zeitle­bens er­fahren mußte. Im Juni 1939 schickten die Eltern B. (als einziges Kind) mit Hilfe einer Quä­kerorganisation nach England, wo er bis 1942 in einem Heim un­tergebracht war. Die El­tern emi­grierten im November 1939 in die USA, wohin ih­nen der Sohn 1942 folgte. Er erwarb dort die US-Staatsbürgerschaft,[2] leistete von 1944-46 im Pazifik Wehrdienst, danach Schulabschluß und Beginn eines volks­wirtschaftlichen Studi­ums; 1950-51 wurde er erneut ein­gezogen (Koreakrieg). Für seinen weiteren Studi­engang sieht er selbst entscheidende Anstöße noch in der Wie­ner fin-de-siècle-Kultur und ihren Folgen (vermit­telt spä­ter noch über den Vater), bes. bei Karl Kraus und dessen Sprachkri­tik.[3]

Er studierte in Berkeley Ideengeschichte mit Schwerpunkt im deutsch­sprachigen Be­reich (vor allem im Mittelal­ter). Sein wich­tigster Lehrer war Ar­cher Taylor, dem er nach eigenem Bekunden die Orien­tierung auf em­pirisches, materialbe­zogenes Arbeiten ver­dankt und damit eine geradezu po­sitivistische Einstellung gegen die tra­ditionelle »germanistische« geistesge­schichtlich orientierte Literaturwis­senschaft, wobei die Positivi­tät i. S. der anthropology[4] auch die sozialge­schichtlichen Zusam­menhänge umfaßte. 1957 promovierte B. an der Universität Berke­ley (Dissertation: »Die Kudrun Handschrift«, s.u.). Seitdem Lehr­tätigkeit an der UC Los Angeles, seit 1965 bis zur Emeritierung als or­dentlicher Pro­fessor für deutsche Sprache.

Obwohl er Sprachwissen­schaft stu­dierte (i. S. des amerikani­schen de­skriptiven Struktura­lismus), ist sein Inter­esse doch vom »literary criti­cism« bestimmt - die Struktura­lismusdebatte bildet das Schnittfeld (mit Bezug auf Ro­man Jakobson wie die rus­sischen Formali­sten). In diesem Sinne be­tont B. gegen­über der Sprach­wissenschaft die Notwendigkeit, Sprache nicht auf grammati­sche Struk­turen zu redu­zieren - und gegenüber der Literaturwis­senschaft die Notwendig­keit, vor der Interpreta­tion deskrip­tiv ge­nau die Strukturen der Texte zu bestim­men, die die Interpretation begründen (so ins­bes. gegen ein subjektivisti­sches Literaturver­ständnis, das auf die »Absicht des Au­tors« fi­xiert ist). Diese formbezogene Ana­lyse verbin­det er mit kulturhi­storischen Erklä­rungsansätzen - womit er (ohne es allerdings für sich so zu rekla­mieren) die An­sätze kultur­analytischer Sprachwis­senschaftler von vor 1930 fort­setzt.

Sein Arbeits­schwerpunkt liegt bei mediävisti­schen Themen, wo sich seine Pu­blikationen durch phi­lologische Akribie auszeich­nen, wie etwa bei der (auf der Dissertation auf­bauenden) diploma­tischen Edition »Kudrun: Die Hand­schrift«,[5] die der Überliefe­rung (hier: die frühneuhochdeut­sche Niederschrift der mittelal­terlichen Vor­lage) zu ih­rem eigen­ständigen Recht verhilft (statt eines normati­ven Be­zugs auf ein ideali­siertes Mittelhoch­deutsch) und sich durch eine detail­lierte paläogra­phische Analyse der Schreiberhand und eine im enge­ren Sinne grammatische Inter­pretation aus­zeichnet. Auch über weitere philologische Arbeiten hinaus (u.a. Mitarb­eit an einer Konkordanz des Nibelungen­liedes) setzt er die »vorstrukturale« kul­turgeschichtliche Tradition fort, s. etwa »Rhetorical Devices and Struc­tures in the Ac­kerman of Böh­men«,[6] in der er in ei­nem de­taillierten Durchgang durch den Text dessen Stilelemente (von der Metaphorik über die Topoi bis zum formalen Gesamtbau) analy­siert und die­sen als manie­ristischen tour de force in der gelehrten Tra­dition des Mittelal­ters aufweist, an dem (gegen die vor allem in Deutschland verbrei­tete Re­klamierung eines genuinen Aus­drucks »deutschen« Gei­stes) deutsch (und mo­dern) nur die nichtla­teinische Sprachform ist.

Die gleiche Anstrengung, die »universale« Ein­heit der mittelalter­lichen Kultur aufzuzeigen, bestimmt auch die Überblicksdarstellung »Medieval Civiliza­tion in Germany, 800-1273«,[7] mit einer leicht anachronistischen Em­phase entspre­chend der von Ernst Robert Cur­tius (den B. auch immer als Autorität herausge­stellt hat). Wie bei diesem mag das ein Reflex auf den deutschen Nationalis­mus und seine Kulmination in den Faschismus sein (wobei B. den da­mals übli­chen Verlust methodischer Kontrolle der Ar­gumentation am Text auch öf­ters als Ge­genpart explizit her­ausstellt: so in seinem For­schungsüberblick zur Ackermann-Philolo­gie). Verstär­kend hinzukom­men mag noch der germani­stische Dia­spora-Effekt, der eine norma­tive Konservierung sol­cher »nationaler« Denkfiguren sicher för­dert.

In den späteren Jahren hat B. eine Reihe von Studien zur Litera­rität im Mittelalter vorge­legt, zusammen­fassend etwa »Varieties and Con­sequences of Medieval Literacy and Illite­racy«,[8] wo er die Topoi der einschlägigen Diskus­sion durch ein komplexes Modell überwin­det, das Schrift als Me­dium zur Aneignung und Vermittlung gesell­schaftlichen Wis­sens be­greift, und so die Entwicklung vom "oligoliteraten" Mittelalter zur lite­rarisierten Neuzeit in drei Dimensionen faßt: Eine soziale Strati­fikation durch den unter­schiedlichen Zugang zur Schrift (wobei die Pointe darin liegt, daß eine Notwendigkeit dazu empirisch unabhän­gig vom selbständigen Zu­gang ist, was außer den Extremen der lit­terati und illitterati eine »Zwischenschicht« definiert, die auf die litterati angewiesen ist); die me­diale Form der Speicherung und auch der Weiter­gabe von Wissen (mündlich/schriftlich); schließlich die strukturel­len Vor­aussetzungen bzw. Fol­gen soziali­sierten ora­len bzw. schrift­lichen Verkehrs (anders in lateini­schen als in nichtlateini­schen Tex­ten), wie er sie detail­liert für die Entwick­lung der neuen realisti­schen (bzw. »fiktionalen«) Literatur nach­zeichnet.

Dieses Modell, das er in verschiedenen Aufsät­zen vorge­tragen hat, ist in der neueren sprach­wissenschaftlichen Dis­kussion über Schrift mei­nes Wissens noch nicht rezi­piert worden, was da­durch si­cher befördert wird, daß B. es in seinen an der Rezep­tionstheorie orientierten Ar­beiten literatur­wissenschaftlich fruchtbar macht. Soweit ich sehe, hat er dieses Modell zunächst in Ausein­andersetzungen mit literatur­wissenschaftlichen Ar­beiten zum Nibelungenlied ent­wickelt, s. noch zu­sammen mit E. Spielmann »From Illiteracy to Lite­racy: Prolegomena to a Study to the Nibe­lungenlied«[9]; »Medieval Lite­racy and Illiteracy: An Essay toward the Con­struction of a Mo­del«;[10] »Zum Verständnis mit­telalterlicher Mitteilun­gen«;[11] »Medieval Texts and the Two Theories of Oral-For­mulaic Composi­tion: A Proposal for a Third Theory«,[12] s. auch den aus­führlichen Litera­turbericht mit ei­ner Replik auf seine Kritiker: »The Oral Tradition and Middle High German Literature«.[13]

Ausgangspunkt ist seine detaillierte Aus­einandersetzung mit der stilistischen Heteroge­nität der Texte (insbesondere For­men der Iro­nie), die er als Reflex des Über­gangs der ora­len epischen Gat­tung in eine literate Bearbei­tung be­stimmt: In einer Ge­sellschaft, deren Or­ganisation auf literater Wissens­organisation und - überlie­ferung beruht und deren li­terate (obwohl nach wie vor analphabeti­sche) Ober­schicht den Topos des Illitera­ten als literari­sche Figur goutiert. Lite­rat/illiterat sind so als soziales Verhältnis be­stimmt, nicht weniger als der in diesem Ver­hältnis gemachte Ge­brauch davon (etwa in Formen von Textgattungen, die eine bestimmte Re­zeptionssituation symbolisch binden). So setzt er auch selbst die Akzente für ein darauf bezo­genes geplantes Magnum Opus: Das historische Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Form zu rekonstruieren, in der es je­weils (zeitgenössisch) in li­terarischen Texten repräsentiert ist, ins­bes. in der ironischen Brechung fiktiver Mündlich­keit als litera­rischer Form. In diesem Sinne hat er schon den Teil »Mittelalter« der von E. Bahr hg. »Geschichte der deutschen Litera­tur«[14] verfaßt, wobei außer die­sen methodi­schen Posi­tionen, die die Produktions- wie Rezeptionsseite der Literatur beto­nen und sie in die zeitgenös­sische mediale Kon­stellation stellen (Schriftlichkeit von Latein besetzt, Deutsch tradi­tionell durch Mündlichkeit definiert), insbes. die europäi­schen Bezüge der Literatur im Vordergrund stehen: das Nationale wird von dem Emigranten B. dem Universalen untergeord­net.

In späteren Jahren hatte er diese Analyse historisch ausgeweitet auf die Anfänge der Verschriftlichung der deutschen Volkssprache in Auseinandersetzung mit der lateinischen Schriftkultur, wobei er einer dichotomischen Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Nutzung von tradierten Formen mündlicher Praktiken als stilistische Ressource der neuen Schriftlichkeit gegenüberstellt, so bei frühmittelalterlichen Texten wie dem Heliand nicht anders als bei der späteren höfischen Dichtung. Dabei stellte er diese kulturellen Prozesse der Etablierung einer Schriftkultur in einen breiten gesellschaftlichen Kontext, in dem in der Schriftkultur gesellschaftliche Machtstrukturen ausgetragen werden, so bei der Karolingischen Reform nicht anders als mit umgekehrten Vorzeichen bei den frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen mit dem kirchlichen Monopol der Schriftkultur, s. »Reflections on the beginnings of literacy: The East Frankish kingdom«[15] und »Scribe et impera: Literacy in medieval Germany«.[16]

Eine explizite Auseinandersetzung mit neuen sprach­wissenschaftlichen Konzepten (außer der demonstrativ be­mühten Kom­munikationsterminologie) fehlt in diesen anson­sten gerade in Lite­raturnachweisen reichen Ar­beiten, s. auch den von ihm hg. Symposi­umsband »From Symbol to Mimesis. The Ge­neration of Walther von der Vo­gelweide«,[17] in dem kein im engeren Sinne sprachwissenschaftli­cher Beitrag vorhanden ist (übrigens auch kein Beitrag von B. selbst). Anderer­seits beschrän­ken sich seine Arbeiten zunehmend we­niger auf ein »germanistisches« Ar­beitsfeld, wie der mit sei­ner Frau Betty (einer gebürtigen Ameri­kanerin, als Hispanistin tätig) ver­faßte Band »A dic­tionary of ge­stures«[18] - eine Kompilation aus ei­ner Unmenge weltweiter kulturge­schichtlicher, an­thropologischer und belletristischer Litera­tur, aus der kul­turell definierte, d. h. bedeu­tungsvolle, also gelernte Ge­sten (bzw. ihre Be­schreibung) ex­zerpiert sind. Dieses Belegmaterial dient ihm zur Abgrenzung rein expressiver Gesten, die unwillkürliche Ausdrucksformen von Befindlichkeiten sind, von kulturell definierten, die als solche tradiert (und literarisch vorzeigbar) sind. Eine weitere Abgrenzung unternimmt er zu kodifizierten Gesten, die grammatikalisiert sind (wie Gebärdensprachen).

Die Überwin­dung der germa­nistischen Vorgaben sei­nes Arbeitsfeldes - wie auch das Verfolgen der anfänglichen Inter­essen (die Arbeit ist dem volkskundlichen Leh­rer Archer Taylor ge­widmet) ist hier besonders deutlich.

B.s Arbeiten erweisen sich so (wogegen er al­lerdings prote­stiert!) in der Tradition der deutschen Stil­analyse der 20er Jahre, die das sprachwissenschaftlich-methodische Instrumenta­rium nutzte, um an­hand der kulturellen Formen der verschie­denen Epochen deren »Geist« (im Vosslerschen Sinne) auf die Spur zu kom­men. Wie sehr er noch - trotz aller Sophistizie­rung des strukturalen In­strumentariums - in dieser kul­turanalytischen Tradition steht, zeigen nicht zu­letzt seine durchgängigen Bemühungen, Homolo­gien in den verschiedenen kulturellen Domänen nachzuweisen - so für bild­liche und sprachliche Darstellungsformen in dem genannten Aufsatz von 1980 und in den meisten Auf­sätzen zum Problem mittelalterli­cher »Literalität«, durchgehend so in dem entsprechend üppig illu­strierten Über­blicksband von 1969 - und nicht zuletzt auch sein dominantes Interesse an »hochkulturellen« (literarischen) Leistun­gen, das er mit den frü­hen Kul­turanalytikern teilt (s. den er­wähnten Beitrag in Bahr 1978).

Q: BHE; Bibliographie in der FS Schaefer, Ursula/Spielmann, Edda (Hgg.): »Formen u. Folgen von Schriftlichkeit u. Mündlichkeit: Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag«, Tübingen: Narr 2001. Die Hinweise zur Biographie gehen zum größ­ten Teil auf ein Inter­view zurück, das H. Walter im November 1985 mit B. in Los Ange­les führte.

 


[1] S. Schaefer, U. »In memoriam Franz H. Bäuml«, in: Das Mittelalter 15/2010: 141. S. in dieser Zeitschrift auch B.s erneut abgedruckten autobiographischen Aufsatz »Fünfzig Jahre philologische Irrungen und Wirrungen: Unzuverlässige Erinnerungen eines unzufriedenen Ausweichlers« (S. 141-147).

[2] In jüngerer Zeit nahm er wieder die österreichische Staatsbürgerschaft an (s. FS: Q).

[3] Für seine kontinuierliche Beschäftigung mit Karl Kraus spricht auch, daß er 1975-76 ein Namenre­gister zu dessen »Fackel« publizierte (in mehreren Folgen in der Modern Austrian Literature).

[4] Taylor betrieb Volkskunde.

[5] Berlin: de Gruyter 1969.

[6] Berkeley, Calif.: Univ. Ca­lifornia Press 1960.

[7] London/New York: Thames and Hudson 1969.

[8] In: Specu­lum 55/1980: 237-265.

[9] In: J. Duggan (Hg.), Oral Literature, Edinburgh: Scottish Aca­demy 1975: 62-73.

[10] In: St. J. Kaplowitz (Hg.), German Studies in Honor of Otto Springer, Pittsburgh 1978: 41-54.

[11] In: »Ho­henemser Studien zum Nibelungenlied« (= Montfort, Jahr­gang 1980), Dornbirn 1980: 287-298.

[12] In: New Literacy Hist. 16/1984-85: 31-49.

[13] In: Oral Tradi­tion 1-2/1986: 398-445.

[14] Tübingen: Francke 1987: 1-240.

[15] In: N. van Deusen (Hg.), »The cultural milieu of the troubadours and trouveres«, Ottawa: Institute of Medieval Music 1994: 34-45.

[16] In: Francia 24 (1)/1997: 123-132.

[17] Göppingen: Kümmerle 1984.

[18] Metuchen/New York: Scarecrow 1975, 2. Aufl. mit dem Titel: »Dictionary of worldwide gestures« 1997.