Feist, Si(e)gmund Samuel
Geb. 12.6.1865 in Mainz, gest. 23.3.1943 in Kopenhagen.
F. studierte vergleichende Sprachwissenschaft in Straßburg, 1888 mit der Promotion abgeschlossen. Anschließend Lehrer (Fächer: Deutsch, Französisch, Latein) zunächst in Bingen, dann in eigener Privatschule mit Internat in Mainz. 1902 übernahm er in Berlin die Leitung eines jüdischen Waisenhauses.[1] Wieweit für diesen Rückzug aus der staatlichen Schule bzw. aus dem Wissenschaftsbetrieb die antisemitischen Verhältnisse den Ausschlag gegeben haben, ist nicht auszumachen. In den jüdischen Gemeinden (in seinem Fall handelte es sich um »Reformgemeinden«) war er jeweils aktiv und veröffentlichte in ihren Zeitschriften sowohl wissenschaftliche Beiträge (etymologische Fragen auch des Hebräischen, so wenn er z.B. Israel als vorhebräisches Wort aus einer indogermanisch-semitischen Ursprache herleitete),[2] wie allgemeiner Art (etwa seine Polemik gegen die »Nordische« Bewegung im Israelitischen Familienblatt v. 3.7.1930). Als Privatgelehrter betrieb er seine wissenschaftliche Arbeit nebenher weiter.
Seine Dissertation[3] von 1888 über die gotische Etymologie baute F. zu seinem Lebenswerk aus: 1909 als »Etymologisches Wörterbuch des Gotischen«, 1923 erweitert[4] und schließlich 1935 als das bis heute maßgebliche »Vergleichende[s] Wörterbuch der gotischen Sprache. Mit Einschluß des Krimgotischen und sonstiger zerstreuter Überreste des Gotischen«, das wohl wegen der rassistischen Publikationsvorgaben nicht mehr im Reich, sondern in den Niederlanden erschien.[5] Es erschließt die umfangreiche etymologische Diskussion vor allem auch durch den Einbezug der damals neu erschlossenen Sprachen Hethitisch und Tocharisch, für die er so überhaupt das erste etymologische Nachschlagewerk vorlegte. Nicht zuletzt durch die systematischen Literaturangaben in den einzelnen Artikeln ist es für die Indogermanistik ein Standardwerk geworden.[6] Auch sonst bemühte er sich um umfassende Literaturberichte, s. etwa »Der gegenwärtige Stand des Tocharerproblems«,[7] wo er die Belege des Namens Tocharer (für ein offensichtlich nicht zu den Indogermanen gehörendes Volk) und die Frage der sprachlichen Zugehörigkeit dieser »Mischsprache« diskutiert (trotz Kentum-Isoglosse für ihn kein westlicher-»europäischer« Ableger!).
In seiner Lehrerzeit veröffentlichte er daneben zahlreiche Aufsätze zu heimatkundlichen, wortgeschichtlichen, aber auch sprachpflegerischen Fragen, im Tonfall von völkischen Beiträgen nicht sonderlich verschieden, wobei er aber gelegentlich in kritischen Anmerkungen den sprachwissenschaftlichen Fachverstand reklamierte (z.B. zur lautlichen Interpretation mittelalterlicher Graphien).[8] 1895-1998 hat er ein Lehrwerk für den Französischunterricht herausgebracht; auf diese Qualifikation geht wohl auch seine Tätigkeit als Berichterstatter im Kriegspresseamt im 1. Weltkrieg zurück, wo er französische Tageszeitungen auswerten sollte. Ein Ergebnis davon war die Sammlung sog. Kriegs-Neologismen, bes. im Argot: »Französische Wortschöpfungen und französischer Sprachgebrauch im gegenwärtigen Kriege«,[9] wo er sich für den Duktus seiner Erklärungen auf H. Sperber stützt und bei etymologischen Fragen zum Semitischen E. Mittwoch befragt hatte (s. bes. S. 107 und S. 111 Anm. 1).
Seine späteren Publikationen standen alle im Schnittfeld des völkischen Diskurses. In der Regel brachte er keine originellen Auffassungen vor, akkumulierte zumeist eine Unmenge von Literaturverweisen, nahm aber als stigmatisierter Jude zu heiklen Fragen der völkischen Debatte Stellung, was seine Gegenspieler maßlos empörte. In Berlin wurde er gleich 1906 in der »Gesellschaft für deutsche Philologie« aktiv, für die er die Schriftleitung der »Jahresberichte über die Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie« übernahm. Hier verfaßte er in der »Alten Abteilung« Rezensionen und figurierte ab 1908 auch formell als Herausgeber. Seine auch über die engere Fachöffentlichkeit hinaus publizierten kritischen Angriffe auf germanentümelnde Gemeinplätze der völkischen Bewegung provozierten heftige Angriffe von germanistischen Ordinarien wie Much, Neckel u.a., aber z.B. auch von Pokorny. Daraufhin mußte er 1928 ausscheiden (sein Nachfolger wurde Wissmann).[10]
Seine erste große germanistische Veröffentlichung auf diesem Feld war »Die deutsche Sprache. Kurzer Abriß der Geschichte unserer Muttersprache von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart«,[11] eine eher anspruchslose Kompilation des Handbuchwissens, bei der allenfalls die Betonung der Inhomogenität der sprachlichen Entwicklung mit Hinweis auf Substrat- und Kultureinflüsse bemerkenswert ist. Das Buch erschien auch in einem eher völkischen Verlag – wo das Plädoyer für eine (vorsichtige!) Rechtschreibreform und die Aufgabe der deutschen Schrift (S. 304-305) allerdings erstaunen (im fachwissenschaftlichen Kontext war beides damals eher ein Topos). Das Bändchen war aber gut lesbar geschrieben und wurde insofern auch 1933 nochmals aufgelegt (jetzt allerdings bei einem weniger programmatischen Verlag).[12]
Seine Gegner mobilisierte F. vor allem durch seine Ausgriffe in die Urgeschichte, die zunächst von ihm wohl auch mehr als zusammenfassende Darstellungen intendiert waren (und nichts Originäres bringen). 1913 erschien »Kultur, Ausbreitung und Herkunft der Indogermanen«,[13] wo er anthropologische Befunde (Schädelmessungen) kompiliert, im wesentlichen aber die etymologische Forschung zusammenfaßt: demnach sind »die Indogermanen« eine relativ späte rassisch-volkliche Entwicklung, deren Heimat in Südrußland liegt. Keineswegs bilden die Germanen ihren Kern, die einen zerrütteten Sprachstand auf der Grundlage fremder Elemente zeigen (bes. 510-511). Das Buch brachte ihm heftige Polemiken ein (s.o.), auf die er gleich mit einem weiteren Buch antwortete: »Indogermanen und Germanen. Ein Beitrag zur europäischen Urgeschichtsforschung«,[14] in dem er diese Auffassung jetzt explizit in Auseinandersetzung mit rassistischen Positionen entwickelte. Zwar akzeptiert er im Prinzip die Rassentheorien, hält diese aber für nicht auf die Germanen anwendbar, da diese keine reine Rasse sind, wie gerade ihre Abweichungen von den Sprachformen der »arischen Rasse« zeigen (er verweist dazu auf die Lautverschiebung und zieht alle möglichen »Autoritäten« als Stütze heran, u.a. auch J. Marr, S. 52).
F. hat diese Position bis zuletzt durchgehalten, wobei er die »Indogermanisierung« Nordeuropas den Illyro-Venetern zuschrieb, die insbes. die »Germanen« einbezogen, auf die sekundär dann noch keltischer Einfluß einwirkte. Mit dieser Argumentation fand er in der internationalen Fachöffentlichkeit durchaus Beachtung: 1927 war er zu Vorträgen darüber von der Societé de Linguistique nach Paris eingeladen, die ihn bei dieser Gelegenheit auch als Mitglied aufnahm (ein weiterer Angriffspunkt für seine völkischen Gegner). Außerordentlich belesen, akkumulierte er entlegene Belege und argumentierte so auch gegen die germanophile Annahme alter Kultureinflüße im Norden, z.B. in angesetzten altgermanischen Lehnwörtern im Finnischen, die die paradoxe Annahme ungermanischer Urgermanen erfordern (weil sie keine Spuren der Lautverschiebung zeigen): »Gibt es urgermanische Lehnwörter im Finnischen?«[15] – ausdrücklich mit Bezug auf H. Jacobsohn. 1932 veröffentlichte er diese Argumentation in Language,[16] s. auch (mit Berücksichtigung der neuen Ausgliederungsfrage durch Tocharer, Hethiter...) »Die Dialekte der indogermanischen Ursprache«.[17]
F. widersprach damit den Vertretern der »nordischen« Bewegung, war aber keineswegs ein Gegner rassischer Argumentationsformen, die er auch in späteren Schriften (Einfluß der Rasse auf die Sprache in der Substraterklärung, Annahme eines Urvolkes u. dgl.) beibehielt (s. etwa zuletzt noch den in FN 17 genannten Beitrag zur FS Pedersen), wo er die in Rassen (sic!) fundierte Ausgliederungsfrage insbes. hinsichtlich des Tocharischen und Hethitischen diskutiert. Besonders deutlich ist das bei seiner »Stammeskunde der Juden. Die jüdischen Stämme in alter und neuer Zeit«.[18] Gerade mit »rassenkundlichen« Argumenten versucht er hier zu beweisen, daß das Judentum keine Rasse, wohl aber ein »Volkstum« mit einer kulturellen Identität ist, die in der historischen Lebensform fundiert und sich auf ein Bewußtsein von Gemeinsamkeit stützt (bes. 177-178). Als Beweis für die »rassische« (sic!) Vielfalt der Juden bildet er im Anhang 90 Fotographien von verschiedenen Typen ab (von nordisch bis negroid...).[19]
Tatsächlich ist diese biologistische Prämisse eine der wenigen Konstanten in F.s Argumentation, der ansonsten unter dem Eindruck der vorgebrachten oder neu entdeckten Argumente z.T. verblüffende Kehrtwendungen vollzieht. Wo er anfangs den Germanen, ausgehend von seinem besonderen Forschungsgegenstand, dem Gotischen (für das er 1922 auch einen Einführungsband publizierte), noch kulturelle Leistungen zuschrieb (insbes. die Erfindung der Runenschrift), sah er sie später (wohl nicht zuletzt unter dem Druck der Germanentümelei seiner Gegner) nur noch als Barbaren, die von den kulturellen Leistungen ihrer Nachbarn (bes. den Kelten) mitgezogen wurden. Neben eher sprachwissenschaftlichen Arbeiten wie seinen Bemühungen um die Runendenkmäler auf deutschem Boden, die er als Zaubersprüche deutet (»Zur Deutung der deutschen Runenspangen«),[20] stehen immer mehr kulturgeschichtlich bemühte Arbeiten, die die Anfänge der Runenpraxis den Illyro-Venetern zuschreiben, die sie mit der sprachlichen Indogermanisierung den Germanen brachten, wo sie sekundär erst keltische, dann lateinische Einflüsse erfuhren (s. »Zum Ursprung der germanischen Runenschrift«)[21] – die Idee von den Venetern hatte er von dem Amerikaner Hempl übernommen, s. zuerst »Eine neue Theorie über die Herkunft der deutschen Runendenkmäler«.[22]
Seine frühgeschichtlichen Phantasien waren zumeist schlicht spiegelverkehrt zu denen seiner Gegner, wobei er aber immer eine Masse literarischer Belege akkumulierte. So auch bei der Debatte um den Namen der Germanen, wo er methodisch korrekt historiographisch erwähnte Völkerschaften, archäologische Funde und Rekonstruktionen von Sprachverhältnissen trennte, dann aber zwanghaft versuchte, das lateinische Germani als Bezeichnung für Kelten plausibel zu machen, s. »Was verstanden die Römer unter ›Germanen‹?«[23] und weitgehend übereinstimmend wieder »Der Name Germanen«.[24]
Wie sehr F. zur deutschen Gesellschaft gehörte, die ihn als Juden stigmatisierte und ausschloß, wird vor allem an seiner Tätigkeit als Leiter des Waisenhauses deutlich, die sich in der jetzt zugänglichen umfangreichen Sammlung von Briefen seiner (männlichen) Zöglinge als Weltkriegsteilnehmer spiegelt[25] – diese können sich in ihrer (zumindest in den ersten Kriegsjahren) patriotischen Kriegsbegeisterung offensichtlich in Übereinstimmung mit ihrem Adressaten wissen, der sie vorher schon mit nahezu militärischem Drill in seiner Anstalt erzogen hatte (so auch, wenn auch freundlich umschreibend, seine Tochter Elisabeth F.-Hirsch, Q).
1935 trat Feist, wohl schon schwer erkrankt, von der Arbeit des Waisenhauses in den Ruhestand. Nach den Novemberpogromen 1938 bemühte er sich um die Emigration (seine Kinder lebten damals schon nicht mehr in Deutschland); mit Unterstützung dänischer Fachkollegen konnte er 1939 nach Dänemark auswandern, wo er 1943 in einem Krankenhaus verstarb.
Q: BHE; IGL (J. Schwerdt); DBE 2005; R. Römer, »S. F.«, in: Muttersprache 91/1981: 249-308 (Bibliographie S. 305-8); E. Feist-Hirsch, »Mein Vater S. F.«, in: Strauss/Grossmann 1970: 265-273; Materialien im Archiv der B/J, Frankfurt; Heuer 1992ff (Bd. 7).
[1] Das »Reichenheimsche Waisenhaus«, das von einer jüdischen Stiftung getragen 1872-1940 bestand. S. dazu Strauss/Grossmann 1970 (Q).
[2] In: Monatshefte f. Gesch. u. Wiss. d. Judentums Jg. 1931: 317-320.
[3] Die Dissertation war ein Teildruck (alphabetische Strecke A-H) des im gleichen Jahr erschienenen Gesamtwerks.
[4] Jeweils in Halle/S.: Niemeyer.
[5] Leiden: Brill.
[6] Von W. P. Lehmann ist es 1986 ins Englische übersetzt und auf den neuesten Forschungsstand gebracht worden.
[7] In: Ostasiatische Z. 8/1920: 74-84.
[8] In: Z. f. dt. Unterr. 5/1891: 695-697.
[9] In: Die neueren Sprachen 24/1917: 105-112.
[10] S. dazu R. Römer, »S. F. und die Gesellschaft für deutsche Sprache in Berlin«, in: Muttersprache 103/1993: 28-40.
[11] Stuttgart: Lehmann 1906.
[12] München: Hueber.
[13] Berlin: Weidmann.
[14] Halle/S.: Niemeyer 1914, 3. Aufl. 1924.
[15] In: FS J. Schrijnen: 474-485.
[16] »The Origin of the Germanic Languages and the Indo-Europeanizing of Northern Europe«, in: Lg. 8/1932: 245-254.
[17] In: »Mélanges linguistiques offertes à Holger Pedersen«, Åarhus: Universitätsforlag 1937: 3-14. F.s Beiträge bilden auch heute noch einen (polarisierenden) Bezugspunkt für die einschlägige Forschungsdiskussion, s. die entsprechenden Artikel im »Reallexikon der Germanischen Altertumskunde«, auch als Separatum: H. Beck (Hg.), »Die Germanen«, Berlin: de Gruyter 1998.
[18] Leipzig: Hinrich 1925.
[19] Römers Stilisierung (Q) von F. als Kämpfer gegen den Rassismus ist moralisch von seinem Schicksal als Opfer des Antisemitismus bestimmt, in der Sache aber nicht gerechtfertigt. Daß die Juden keine Rasse seien, war ja gerade ein Topos bei einem Flügel der rassistischen Argumentation im Nationalsozialismus (z.B. bei H. F. K. Günther), der gerade in dem rassisch Unbestimmten der Juden eine Gefahr für die anderen Rassen sehen wollte. Wo damals versucht wurde, differenzierter zu argumentieren, wie z.B. bei Schmidt-Rohr, findet sich denn auch eine explizite Ablehnung von F.s biologistischen Prämissen (vgl. dessen »Muttersprache«, 1. Aufl., S. 224, 2. Aufl. S. 220) – und auch ein offen rassistisch argumentierender Sprachwissenschaftler wie E. Glässer lehnt F.s »Biologismus« ab (so in seiner »Einführung«,1938: 23-24).
[20] In: Z. f. dt. Ph. 47/1918: 1-10.
[21] In: Acta Ph. Scandinavica 4/1929: 1-25.
[22] In: Z. f. dt. Unterr. 24/1910: 246-249.
[23] In: Theutonista 4/1927/1928: 1-18.
[24] In: Classica et Medievalia 4/1941: 79-93. In der Forschungsdiskussion besteht inzwischen Konsens, daß diese Leseweise nur für die frühen lateinischen Belege begründet ist, s. o. (FN 17) Beck (1998).
[25] S. Hank/H. Simon (Hgg.), »Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914-1918«, Teetz: Hentrich & Hentrich 2002.