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Jahoda, Marie

 (auch Albu-Jahoda, Marie)

Geb. 26.1.1907 in Wien, gest. 20.4.2001 in Keymer/Sussex (GB).

Studium der Psychologie in Wien, 1932 Promotion (Dissertation »Anamnesen im Versorgungshaus«. [1] Bereits als Schülerin war sie politisch organisiert (in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler), gemeinsam mit ihrem späteren Mann Paul Lazarsfeld. Nach dem Examen war sie zeitweise in der politischen Volksbildung in Wien tätig, von 1932 bis 1934 auch als Lehrerin. Seit 1933 baute sie mit Lazarsfeld am Wiener Institut von Karl Bühler die »Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle« auf, die sie nach 1934 auch als Deckadresse für die organisierte Widerstandsarbeit nutzten (sie war in leitender Funktion bei den Revolutionären Sozialisten Österreichs tätig).[2]

1933 veröffentlichte A.-J. gemeinsam mit Lazarsfeld und Hans Zeisel die Ergebnisse einer großen Feldforschungsstudie »Die Arbeitslosen von Marienthal«,[3] die paradigmatisch für die neuere Sozialforschung geworden ist. Es handelt sich um eine exemplarisch intendierte Studie zu einem Industriearbeiterdorf bei Wien,[4] das 1929 nach der Schließung der Textilfabrik dort gewissermaßen kollektiv in die Arbeitslosigkeit geraten war. Für diese Untersuchung erweiterten die Autoren das sozialwissenschaftliche Erhebungsinstrumentarium (insbesondere Fragebögen und statistische Daten) systematisch auf der Basis von teilnehmender Beobachtung, also auch durch sprachliche Daten, die sie nach dem Muster der anderen Arbeiten des Wiener Instituts, insbesondere der Studien von Hildegard Hetzer, dokumentierten und auswerteten. Das diente ihnen dazu, die Art, wie sich die Menschen mit der sozialen Situation arrangierten, aus deren Eigensicht zu verdeutlichen: durch wörtlich angeführte Aussagen, auch längere narrative Passagen (auch in schriftlicher Form, auf der Basis eines von ihnen dazu veranstalteten Schreibwettbewerbs); insofern sind hier Fragestellungen der Diskursanalyse angelegt. Allerdings werden die sprachlichen Strukturen weniger noch als bei Hildegard Hetzer in ihrem Eigensinn ausgewertet, sondern sie bleiben letztlich nur sozialwissenschaftliche Daten neben anderen (s. auch bei Lazarsfeld).

In einer späteren Betrachtung dieser Arbeitsphase »Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich«[5] betont A.-J. im übrigen das methodisch eklektische Vorgehen in dieser Arbeit; ironisch spricht sie von einem »Triumph der zumindest damals berühmten Schlamperei, umgewandelt in eine schöpferische und anpassungsfähige Organisation« (S. 138) – eben die Forschungsstelle am Bühler-Institut. Insofern ist A.-J. zwar nicht im engeren Sinne zur Sprachwissenschaft zu rechnen, aber mit dem spezifischen Zuschnitt ihrer Arbeit, der schon in dieser frühen Untersuchung deutlich ist, markiert sie das Feld, in dem sich die soziolinguistische Forschung heute disziplinär definieren muß. Für A.-J. bestimmend ist die Weigerung, ihren Gegenstand in einer modellierenden Reduktion zu definieren, indem sie auf dem außerwissenschaftlichen Gegenstand sozial(-kulturell) artikulierter Prozesse besteht (nicht zuletzt als Grundlage für eine engagierte politische Intervention), allerdings in dem Bemühen um eine methodische Kontrolle, in der Bandbreite von ethnographischer Beschreibung bis zu quantitativen Verfahren, die für sie nur in ihrer wechselseitigen Spannung ein angemessenes Vorgehen definieren.

1936 flog die Widerstandsarbeit von A.-J. auf. Die Forschungsstelle wurde geschlossen und A.-J. wurde inhaftiert.[6] Nicht zuletzt wohl auch auf internationalen Druck hin, bei dem das ausgewanderte frühere Frankfurter Institut für Sozialforschung (Leitung M. Horkheimer) über sein Londoner Büro eine wichtige Rolle spielte,[7] kam sie mit der Auflage auszuwandern frei. Die Staatsbürgerschaft wurde ihr aberkannt (von Lazarsfeld war sie 1934 geschieden worden). Sie emigrierte im Juli 1937 nach England,[8] wo sie zunächst von den Quäkern unterstützt wurde, bis sie ein Stipendium für die Universität Cambridge erhielt, zusammen mit einer Unterstützung von Horkheimers Forschungsinstitut. Dadurch konnte sie ihre sozialwissenschaftliche Forschungstätigkeit weiterführen, u.a. mit einer von den Quäkern in Auftrag gegebenen Untersuchung zu den arbeitslosen Bergarbeitern in Wales, die gewissermaßen eine Replik der Marienthal-Studie war. Da die Ergebnisse dieser Untersuchung dem philanthropischen Programm der Quäker widersprachen (die von diesen initiierten Selbsthilfemaßnahmen erwiesen sich als kontraproduktiv), verzichtete sie allerdings auf ihre Veröffentlichung, da sie sich den Quäkern zu Dank verpflichtet fühlte.[9]

Ab 1940 arbeitete sie für das britische Ministry for Information. Zugleich war sie aktiv im »Londoner Büro der österreichischen Sozialisten in Großbritannien« und arbeitete u.a. auch an Propagandasendungen des englischen Rundfunks mit. Zunächst hatte sie ihre Forschungstätigkeit zugunsten dieser politischen Arbeit aufgegeben, musste dann aber diese wieder nach Konflikten mit den vorgesetzten britischen Behörden aufgeben, als sie auch bei Propagandaaktivitäten auf der Einhaltung wissenschaftlicher Standards bestand.[10] Daraufhin arbeitete sie in der Privatwirtschaft (in der Marktforschung). 1944 emigrierte sie weiter in die USA, wo sie 1945-1948 Forschungsassistentin bei Horkheimer war;[11] danach arbeitete sie bis 1949 als Assistentin am Forschungsinstitut ihres früheren Mannes Lazarsfeld an der Columbia University in New York, wo sie seitdem auch Sozialwissenschaften lehrte (zunächst als Associate, dann als ordentliche Professorin). Zugleich war sie im American Jewish Committee aktiv.

Ihre wissenschaftliche Arbeit ist durchgängig von ihrer Biographie bestimmt: ihr erstes großes Forschungsprojekt in den USA führte sie im Auftrag des American Jewish Committee durch. Es galt dem Antisemitismus: »Anti-semitism and emotional disorder«.[12] Es war ausdrücklich als eine Art klinische Replik auf die große Studie von Horkheimer und Adorno zum autoritären Charakter beabsichtigt.[13] In dieser Untersuchung wurden 40 psychoanalytische Fallstudien rekonstruiert, um so antisemitische Syndrome gewissermaßen als pathologische Entwicklungen sichtbar zu machen. Methodisch nutzte sie dabei Instrumente der Inhaltsanalyse: wörtliche Zitate der Patienten werden zwar in die Argumentation einmontiert, aber nicht in engerem Sinne sprachlich analysiert.

Ähnlich bleibt die Anlage auch bei ihren weiteren Arbeiten, vor allem den lehrbuchartigen Werken, die sie in der Regel mit anderen verfaßt hat oder herausgab: mit einer starken Orientierung auf praktische Anwendung, also der Bindung wissenschaftlich-analytischer Arbeit an die Lösung sozialer Probleme, etwa in »Research methods in social relations – with especial reference to prejudice«,[14] wo das Stichwort Sprache denn auch im Register fehlt und »verbal techniques« nur sekundär im Zusammenhang mit projektiven Untersuchungsmethoden besprochen werden (Bd. I: 212). Ähnlich in dem späteren Sammelwerk »Attitudes. Selected Readings«,[15] das zwar ausgiebig Fragen der Kulturanalyse behandelt, aber Sprachliches nur unter dem methodischen Gesichtspunkt thematisiert, ob bzw. wieweit sprachliche Daten als valide zu behandeln sind (z.B. S. 211) – und das, obwohl »Kommunikation«, etwa i. S. der Meinungsbeeinflussung, einen breiten Raum in dieser Zusammenstellung einnimmt.

An der Columbia University war A.-J. im Zentrum der sich neu formierenden Sozialwissenschaften der USA, insbesondere in enger Verbindung zu Merton. Sie blieb aber in einer nonkonformistischen, ausdrücklich politisch-oppositionellen Position, die ihre (austro-)marxistische Vergangenheit nicht leugnete. Das war besonders deutlich bei ihren kritischen Interventionen, z.T. auch durch Untersuchungen unterfüttert: zu dem McCarthyismus der Nachkriegszeit bezog  sie als neu eingebürgerte US-Staatsangehörige Stellung.[16]

1958 heiratete sie den englischen Sozialwissenschaftler und Abgeordneten der Labour Party Austin Albu und emigrierte nach Großbritannien zurück. Zu Albu hatte sie seit der Kriegszeit in England eine enge persönliche Beziehung, die sie in ihrer Autobiographie auch bemerkenswert offen darstellt. In England hatte sie dann bis zu ihrer Emeritierung eine Professur für (Sozial-)Psychologie: 1958-1965 an der Brunel University (Uxbridge/London), 1965-1973 an der Sussex University (Brighton). Ihr politisches Engagement bestimmt auch die späteren Arbeiten: neben Auseinandersetzungen mit dem Rassismus jetzt vor allen Dingen auch die Frage des Nationalismus (im Kontext von sich neu formierenden rechtspopulistischen Bewegungen) und allen Formen des politischen Opportunismus, etwa den medial breit publizierten Entwürfen des Club of Rome.[17]

Im Umgang mit ihrer Migrationsbiographie ist sie durchaus ambivalent, vor allen Dingen auch was ihren mehrfachen Wechsel der Staatsbürgerschaft anbetrifft: als Staatenlose in England, dann als US-Staatsbürgerin und zuletzt als englische Staatsangehörige. Die gleiche Ambivalenz zeigte sie auch in Bezug auf ihre persönliche Geschichte, etwa was ihr Verhältnis zu ihrem früheren Mann Lazarsfeld anbetrifft, mit dem sie in den USA zeitweise wieder zusammenarbeitete. In ihrem Beitrag zu dessen Gedenkschrift (s. dort) würdigt sie ihn, ohne auch nur anzumerken, daß sie mit ihm verheiratet war. Selbst von ihrem gemeinsamen Kind spricht sie dort nur als von Lazarsfelds Kind als Untersuchungsgegenstand von dessen statistischen Auswertungen. Bemerkenswerterweise verfaßte sie ihre Autobiographie auf Englisch, obwohl sie bei ihren späteren Auftritten in Deutschland und in Österreich Deutsch sprach. In einer Dankesrede 1993 in Wien, aus Anlaß einer politischen Ehrung dort, betonte sie: »Ich fühle mich nicht als Österreicherin«.[18]

Q: M. Jahoda, »Ich habe die Welt nicht verändert« (hgg. mit einem biographischen Interview von St. Engler/B. Hasenjürgen), Frankfurt: Campus 1977 (mit Werkbibliographie). Angesichts der Bedeutung, die die Arbeiten von A.-J. in der Sozialwissenschaft haben, ist sie und ihr Werk in zusammenfassenden Darstellungen dort auch wiederholt ausführlich gewürdigt worden, s. insbesondere Chr. Fleck, »Maria Jahoda« in: Stadler (Hg.) »Vertriebene Vernunft II« 1988: 345-359 und ders., »Maria Jahoda«, in: C. Honegger/Th. Wobbe (Hgg.), »Frauen in der Soziologie«, München: Beck 1998: 260-284; außerdem Lepsius 1981; Lepenies 1981 und in Hinblick auf die Migration Fleming/Bailyn 1969; Geuter 1986; Mosse u.a. 1991; Keintzel/Korotin 2002; B. Bauer in: Volkmann-Raue/Lück 2002: 231-250. Bibliographie: http://www.sozpsy.uni-hannover.de/dfa/jahoda.htm (Jan. 2009).


[1] Unveröff. Diss. phil. Universität Wien 1932. Doktormutter war Charlotte Bühler, die diese Arbeit im Rahmen ihres Großprojektes zu Lebenslaufstudien anregte – und die Ergebnisse in ihren eigenen Veröffentlichungen ausschlachtete, wie A. in ihrer Autobiographie (1977, s. Q) lakonisch anmerkte.

[2] Der illegalen Nachfolgeorganisation der verbotenen sozialdemokratischen Partei.

[3] Leipzig: Hirzel, zahlreiche Neuauflagen, u.a. Frankfurt: Suhrkamp 1975 u.ö. Zur englischen Neuausgabe 1971 s. bei Lazarsfeld.

[4] Marienthal ist heute ein in Grammatneusiedel eingemeindeter Ort ca. 30 km südlich von Wien.

[5] In: Zeitgeschichte 8/1980–1981: 133-141

[6] Zum politischen Kontext der illegalen Arbeit und der Prozesse, s. W. Wisshaupt, »›Wir kommen wieder!‹ Eine Geschichte der Revolutionären Sozialisten Österreichs 1934-1938«, Wien: Volksbuchhandlung 1967 (zu A.s Verhaftung bes. S. 198). A.s Entlassung erfolgte vor der großen Amnestie 1938, die Hitler selbst durchsetzte, um die inhaftierten Nationalsozialisten frei zu lassen.

[7] S. dazu Feichtinger 2001: 159-160.

[8] In gewisser Weise ersparte ihr die frühe Emigration die rassistische Verfolgung, die sie nach 1938 als Tochter einer jüdischen Familie zu erwarten gehabt hätte, die allerdings ohne religiöse Bindung war: von sich selbst sagte sie, daß sie »ohne die jüdische Religion aufgewachsen« sei (Interview in der Zeit 1999, s. http://www.zeit.de/1999/24/199924.gr._geschichte_j.xml/komplettansicht (Aug. 2012).

[9] Publiziert hat sie die Ergebnisse erst 1987, s. Fleck 1998 (Q).

[11] Also an dem exilierten Frankfurter Institut für Sozialforschung. Dadurch war sie beteiligt an den Forschungen zur autoritären Persönlichkeit, die 1950 von Theodor W. Adorno u.a. publiziert wurden.

[12] New York: Harper and Brothers 1950

[13] Mit Richard Christie (Hgg.), »Studies in the scope and method of ›The Authoritarian Personality‹«, Glencoe/Ill.: Free Press 1954. Die Beziehung zu Horkheimer geht bereits auf die Wiener Zeit zurück, wo sie im Rahmen des Instituts schon mit Vorarbeiten für diese Studie befaßt war, s. Fleck 1988 (Q); s. auch oben zu Horkheimers Intervention zu ihren Gunsten bei der Auswanderung.

[14] Gemeinsam mit M. Deutsch/St. W. Cook (Hgg.), Vol. I: »Basic Processes«, Vol. II: »Selected Techniques«, New York: Dryden Press 1951

[15] Mit N. Warren (Hgg.), Harmondsworth: Penguin 1966

[16] S. Fleck 1988 (Q).

[17] S. Fleck 1988 (Q) und 1998 (Q) für detaillierte Hinweise.