Borinski, Ludwig
Geb. 11.1.1910 in München, gest. 5.11.1998 in Hamburg.
B. war als »katholischer« Halbjude von der rassistischen Gesetzgebung betroffen.[1] 1931 Promotion in Leipzig in der Anglistik bei Schücking (er gehörte dort zugleich zum engen Schülerkreis von Frings).[2] Der Abschluß der Habilitation wurde 1933 aus rassistischen Gründen verhindert, ein weiterer Habilitationsversuch im gleichen Jahr in Basel scheiterte ebenfalls; daraufhin emigrierte er nach England, zunächst wohl mit einem Stipendium des DAAD (mit Unterstützung Schückings, s. bei diesem); der Druck der Dissertation »Der Stil König Alfreds«[3] war nur noch mit einem Trick (fiktive Datierung in Leipzig) möglich. In England war er ohne feste Anstellung, konnte aber bis 1937 an der Universität Cambridge forschen und wohl auch unterrichten. Der Versuch, 1937 dort mit einer Arbeit über das Englische der Shakespeare-Zeit den Ph. D. zu erlangen, scheiterte. Nach einer schweren Krankheit mußte er seine wissenschaftliche Tätigkeit abbrechen. Danach war er Metallarbeiter, während des Krieges wurde er interniert. 1945 kam er als Angestellter der britischen Armee nach Deutschland, arbeitete zeitweise auch für die US-amerikanische Besatzung. 1951 wurde er in einem umstrittenen Verfahren Professor für Anglistik in Hamburg (s. dazu Hausmann 2003: 443-445).
B.s Dissertation »Der Stil König Alfreds. Eine Studie zur Psychologie der Rede« (s.o.) ist ein Muster sprachwissenschaftlich-kontrollierter Stilanalyse. In expliziter Auseinandersetzung mit Vossler und vor allem dem damals gängigen diffusen Psychologismus der literarischen Stilbetrachtung mit ungeklärten bewußtseins-psychologischen Prämissen führt B. hier eine strikt corpusbasierte und insofern (jedenfalls versuchsweise) operationalisierte Stilanalyse vor (s. sein Hinweis auf die »deskriptive Linguistik«, S. 24) als Rekonstruktion der textspezifischen Selektionen aus den jeweiligen sprachlichen Möglichkeiten (der »langue«); die im Titel reklamierte Psychologie zielt darauf, den Sprachgebrauch einer bestimmten sozialen Gemeinschaft als deren spezifische Wahrnehmungsstrukturen zu rekonstruieren, die den absichtlichen Stilisierungsbemühungen des Autors wie sonstigen situativen Faktoren der Sprach- bzw. Schreibhandlungen vorgängig sind. Im Sinne einer solchen Differenzierung von individueller »parole«, sozialem »usus« und »langue« faßt er genetisch die »langue« als »geronnenen Stil« (die Saussuresche Terminologie fehlt allerdings bei B., der seine Begrifflichkeit aus der Vossler/Lerch/Winkler-Richtung und von Weisgerber bezieht; für Usus steht bei ihm: Stil).
Die Exemplifizierung dieses in der Einleitung (S. 1-32) theoretisch entwickelten Ansatzes an einem altenglischen Text mit den dazugehörigen Überlieferungsproblemen bringt eine Reihe von methodischen Schwierigkeiten mit sich, die dadurch nicht geringer werden, daß B. »modern« seine Reflexion aus dem Bühlerschen Modell der Sprechhandlung ableitet, dabei aber, trotz philologisch korrekter Bestimmung der Texte als Schreibprodukte, die Besonderheiten des Schreibens selbst nicht theoretisch reflektiert (s. bes. S. 18 gegenüber S. 310). Faktisch liefert er eine sorgfältige syntaktische Beschreibung des Textes, der er eine postulierte »Normalsyntax« zugrundelegt (ausgehend von einem funktionalistischen Ansatz der Sprachbeschreibung), auf deren Folie er die Variationen im Text beschreibt und in einer Skala von Hyper- bis Hypocharakterisierungen faßt (s. S. 306): so im Verhältnis von Para- und Hypotaxe, von Attributkonstruktionen etc. im Hinblick auf ein »angemessenes« textliches »Normalverhältnis« relativ zu den semantisch paraphrasierten Ausdrucksproblemen des Textes. Die Interpretation des Befundes erfolgte dann allerdings zeitgenössisch in reichlich stereotypen »völkerpsychologischen« Kategorien (s. bes. etwa S. 308).
Der Bruch zwischen dieser frühen, auf methodische Kontrolle abgestellten Arbeit und den späteren Veröffentlichungen ist abrupt: Zwar bleibt Stil B.s Leitthema, wurde später aber in traditioneller »geistesgeschichtlicher« Manier in Globalcharakteristiken von Epochen und Autorenpersönlichkeiten abgehandelt, wobei allerdings die relative Eigenständigkeit des sprachlichen Materials, in dem Literatur artikuliert ist (bedingt durch die Überlieferung), weiter einen großen Platz einnahm, etwa »Mittelalter und Neuzeit in der Stilgeschichte des 16. Jhdts.«[4] oder »Konstante Stilformen in Shakespeares Prosa«.[5] Persönlich äußerte er sich sehr heftig und abweisend über die moderne Linguistik, die er bemerkenswerterweise mit der amerikanischen militärisch-ökonomischen Hegemonie in Europa zusammenbrachte (außer seiner Exilanten-Biographie mögen dazu auch Erfahrungen in den Jahren nach 1968 beigetragen haben, als er Institutsdirektor in Hamburg war). In seiner Festschrift[6] sind entsprechend auch außer einem sprachdidaktischen von H. Voitl nur literaturwissenschaftliche Beiträge vertreten. Die Laudatio von H. J. Müllenbrock (Q) würdigt B. als Literaturhistoriker.
Q: LdS: temporary; BHE; DBE 2005; Interview mit B. am 4. 9. 1986 in Hamburg; H. J. Müllenbrock, »L. B. zum 85. Geburtstag«, in: Intern. J. of English St. 6 (2)/1995: 190-193; Hausmann 2003.
[1] Der Vater war Professor für Germanistik.
[2] S. bei L. E. Schmitt.
[3] Leipzig: Tauchnitz 1934, mit Druckkostenzuschuß der »Notgemeinschaft«.
[4] In: Shakespeare Jahrbuch 97/1961: 109-133.
[5] In: Shakespeare Jahrbuch 105/1969: 81-102.
[6] »Literatur als Kritik des Lebens. Festschrift zum 65. Geburtstag von Ludwig Borinski«, R. Haas u.a. (Hgg.), Heidelberg: Quelle & Meyer 1975 – mit Schriftenverzeichnis S. 294-298.