Bosch, Bernhard
Geb. 29.6.1904 in Kleve, gest. 2.3.2004 in Kleve.
Studium in Köln und Bonn, abgeschlossen mit dem Lehrerexamen (zuerst für die Volksschule, dann auch für das Gymnasium). Seine Studienschwerpunkte waren Psychologie, daneben auch Psychiatrie/Neurologie. In Bonn war er als Lehrer an der Versuchsschule der Pädagogischen Akademie von 1928-1933 tätig, bis 1936 dann im regulären Schuldienst.
Seine intensive Beschäftigung mit sprachwissenschaftlichen Problemstellungen (orientiert an Weisgerber, bei dem er in Bonn studierte) ist in seinen Arbeiten zum Lernen der Schriftsprache deutlich und wird von ihm auch hervorgehoben. Auf der Grundlage seiner Unterrichtsbeobachtungen und -versuche legte er 1934 eine Preisschrift an der Universität Bonn vor, die danach auch als psychologische Dissertation angenommen wurde: »Grundlagen des Erstleseunterrichts«; die Publikation scheiterte zunächst an Verlagswiderständen gegenüber seiner Berufung auf jüdische Autoren, deren stigmatisierende Kennzeichnung er verweigerte. So konnte die Arbeit erst 1937 gekürzt erscheinen.[1] Der Umfangsreduzierung fielen vor allem didaktische Abschnitte zum Opfer. Die Kopien des Originalmanuskriptes sind im Krieg zerstört worden; B. hat versucht, die verlorenen Teile durch eine Reihe von Aufsätzen nach dem Kriege zu ersetzen (u.a. mit fünf Aufsatzfolgen zum »Ganzheitlichen Erstleseunterricht«).[2]
B. kam in Bonn zunehmend in politische Konflikte, die u.a. auf sein Engagement im »Friedensbund deutscher Katholiken« bzw. bei den »Religiösen Sozialisten« zurückgingen. Das Habilitationsvorhaben wurde ihm von dem SS-Mann Obenauer als Dekan mit politischer Begründung verweigert: Die Habilitationsschrift mit dem zu Beginn des Regimes noch nicht so wie später verfänglichen Titel »Die soziologische Depravierung des Erziehungsbegriffes bei Krieck« ist ebenfalls vernichtet worden.[3] 1936 bekam er ein Angebot für eine Dozentur an der neuen »Hochschule für Lehrerbildung« in Trier, das allerdings an die Bedingung von Spitzeldiensten für den SD geknüpft war. Da der Druck auf ihn auch in der Schule größer wurde (in der Pädagogischen Akademie war bereits 1933 sein Lehrauftrag beendet und ihm Hausverbot erteilt worden), kündigte er seine Lehrerstelle und ging als Psychologe zur Wehrmacht, zunächst 1937 (?) zu einer Einheit in Kassel. Zu diesem Zeitpunkt war er in der Parteikanzlei der NSDAP als Mitglied registriert (Antragsdatum 16.7.1937), was sich B. nicht erklären konnte. Als Wehrmachtsangehörigem wurde ihm der Mitgliederausweis nicht ausgehändigt, seine Parteimitgliedschaft ist insofern formal wohl nicht vollzogen worden.[4]
Bei der Wehrmacht führte B. im Zivilrang eines Regierungsrates Eignungsprüfungen von Luftwaffenaspiranten durch. Konflikte mit der politischen Überwachung durch den SD setzten sich fort; so wechselte er 1941 in den Sanitätsdienst in ein Lazarett für Hirnverletzte in Bad Ischl. Die Unterlagen über seine Arbeit mit Aphasikern (sowohl Diagnose/Gutachten wie Therapie) sind ebenfalls vernichtet: Die umfangreichen Protokolle und Auswertungen (z.T. in expliziter Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Gelb und Goldstein, vor allem aber auch russischer Neurologen) hätten bei den aus seinen sonstigen Arbeiten ersichtlichen sprachanalytischen Reflexionen für die heutige Aphasiediskussion sicher wichtig werden können (nach seinem eigenen mündlichen Bericht operierte er damals mit »Entblockierungsmethoden«, wie sie später dank der Arbeiten des Goldstein-Schülers Weigl propagiert worden sind).
Nach dem Krieg faßte B. in der wissenschaftlichen Diskussion nicht mehr Fuß – er fühlte sich »verschlissen« in anstrengenden administrativen Aufgaben: 1946-1954 an der Abteilung Vechta der Pädagogischen Hochschule in Niedersachsen (wohin ihn A. Grimme holte, der ihn aus der Bonner Zeit der »Religiösen Sozialisten« kannte). Danach 1954 bis zur Emeritierung 1969 als Professor für Heilpädagogik an der Universität Köln. In den letzten Jahren hatte er ein Angebot, seine Forschung zur Aneignung der Schriftsprache in Verbindung mit dem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen wieder aufzunehmen; gesundheitliche Schwierigkeiten haben das verhindert. Außer den erwähnten didaktischen Implementierungen der frühen Nachkriegsjahre, die auf seine damalige Lehrtätigkeit in Vechta zurückgreifen, beschränkten sich seine gelegentlichen Beiträge auf die für ihn bittere Anstrengung, seiner Pionierarbeit von 1934/1937 zur Anerkennung zu verhelfen.[5]
Die didaktische Zielsetzung des Buches und insbesondere der Aspekt des Anfangsunterrichtes in der Volksschule (der in der akademischen Tradition i. d. R. bis heute als Ort reiner Meisterlehre und nicht wissenschaftlich-theoretischer Reflexion gehandelt wird) stehen wohl einer angemessenen Rezeption im Wege. Im Kontext der sprachwissenschaftlichen Entwicklungen in der ersten Jahrhunderthälfte gibt es Parallelen zu den Arbeiten und zu der Rolle Karl Bühlers: Gegenüber einer rein deskriptiv-»taxonomischen« Vorgehensweise der Sprachwissenschaft wird hier im Ausgang von denkpsychologischen Ansätzen der Külpe-Schule die Reflexion auf ein abstraktes Niveau von Schemata gehoben, die das Handeln strukturieren und die insofern nicht induktiv durch die Klassifikation von Beobachtungsdaten zu gewinnen sind (vgl. bei Bühler das zu seiner Rolle bei der Syntax und Phonologie Gesagte; B. zitiert wiederholt Bühler – faktisch sind für ihn aber wohl die Arbeiten eines anderen Külpe-Schülers wichtiger gewesen, Otto Selz, s. bei diesem).
Im weiteren Kontext einer antipositivistischen Orientierung, die von einem (wie es damals hieß) »teleologischen« Handlungsbegriff ausgeht, geht dieser psychologische Ansatz zusammen mit »ganzheitlichen« Ansätzen in der Sprachwissenschaft, die mehr oder weniger explizit auf Humboldt zurückgehen wie bei Vossler und Weisgerber – wobei der letztere für B. die zentrale sprachwissenschaftliche Autorität darstellt. In diesem Sinne ist das Schlüsselkonzept für B.s Analyse des Leselernprozesses das sprachliche Schema, unter dessen strukturierender Kontrolle jeder Leseprozeß steht. Auch wenn dieser Prozeß noch so rudimentär ist, so ist er doch strukturell durch die Antizipation des »intendierten« Ziels, die interpretierte (erlernte) Sprachform bestimmt. Insofern sind auch elementare Operationen (etwa die Gliederung der optisch gegebenen Konfiguration) nie nur solche, sondern immer Momente der Aneignung der »erfüllten Form«, der Interpretation des jeweiligen Wortes bzw. Textstückes. Die (Buchstaben-) Schrift wird von daher bei ihm bestimmt als graphisch gegliederte Präsentation sprachlicher Ausdrücke. In den allgemeinen (»soziologischen«) Abschnitten des Buches ist B. sorgfältig bemüht, Reduktionen zu vermeiden; zur Buchstabenschrift rechnet er insbes. auch die grammatisch-semantischen »Repräsentationen« (Wortgliederung des Textes, Homonymendifferenzierung u.dgl.), indem er die Schrift rein funktional durch die differenzierende Gliederung von Wortgestalten bestimmt (s. bes. S. 72-74).
Dieser strukturellen Argumentation stellt er explizit die genetische Betrachtung des Aneignungsprozesses der Schrift gegenüber, für den er nun allerdings der kindlichen Entdeckung der phonographischen Potentiale der Schrift Priorität einräumt, so daß in diesem Zusammenhang bei ihm auch Formulierungen stehen, die ein phonographisches Schriftverständnis suggerieren (z.B. S. 30). Auch hier ist seine Argumentation (die die entwicklungspsychologischen und reformpädagogischen Zusammenhänge mit der Reflexion »vom Kinde [und seinem Milieu] aus« deutlich zeigt) außerordentlich genau und differenziert: Die lesende Zuordnung des Wortlauts zu einem Wortbild (der Ausgang vom Wort als minimaler »erfüllter Form« ist axiomatisch) erfolgt nicht durch die phonetische Identifizierung von »Lauten« und ihrer Korrelation zu optisch identifizierten »Buchstaben«, sondern über einen Prozeß der Abstraktion aus dem vergleichenden Umgang mit Wortereignissen, der darin wiederkehrende »Teilganze« auszugliedern erlaubt – wobei die Gliederung des Wortbildes ebenso stabilisierend für die des Wortlauts wirkt wie umgekehrt (s. bes. S. 114 ff). Der Lernprozeß (oder allgemeiner die Schriftpraxis) hat es nicht mit physikalisch/physiologisch definierten »Lauten« zu tun, sondern mit kognitiven Schematisierungen, die den Sprechprozeß strukturieren (B. spricht hier, sicher nicht sehr glücklich, von »normierten Lauten«, z.B. S. 77) und die ihrerseits wiederum in der Aneignung der Schrift eine Strukturierung höherer Ordnung erfahren.
Mit seinen »normierten« Lauten ist B. nahe bei der phonologischen Reflexion, für die Bühler ja damals ebenfalls den Schemabegriff bereitstellte (s. dort); mit seinen Überlegungen zur Schriftaneignung vermeidet er es (anders als seine ihn heute mißverstehenden KritikerInnen es ihm vorhalten!), Schrift phonologisch zu reduzieren – jenseits noch der »supraphonologischen« grammatischen Artikulation der Graphien gilt das so für Fälle, bei denen phonetisch-phonologisch un»natürliche« Klassen von Lauten Korrelate zu Buchstaben bilden, ohne Kindern übermäßige Probleme zu bereiten (B. diskutiert faktisch nur phonologie»konforme« Beispiele, was die Mißverständnisse erleichtert).[6]
Diese ausführliche Erörterung von B.s Buch soll seine sprachtheoretischen Implikationen andeuten, die er u.a. durch experimentelle Untersuchungen zum Sprachbewußtsein der Schulanfänger verfolgt hat, die die »Etappen« in der Entwicklung einer analytischen Einstellung zur Sprache als kognitiver Voraussetzung zur Aneignung der Schriftsprache zeigen (Experimente übrigens, die in den letzten Jahren ohne Kenntnis von B. von Sprachwissenschaftlern »neu« erdacht worden sind!); dabei liegt seine Leistung darin, von dieser theoretischen Basis aus einen systematischen Ansatz des Schreib-/Leseunterrichts entwickelt zu haben (bis hin zu konkreten didaktisch-methodischen Anregungen wie vor allem in der erwähnten Aufsatzreihe von 1951/1953), der gerade auch die Methodendiskussion der 50er und 60er Jahre (Streit um die »analytische« gegenüber der »synthetischen« Methode) als überflüssigen Streit um theoretisch Unbegriffenes erweist, aber auch von der verkürzten »Linguistisierung« (Phonologisierung) der neueren didaktischen Schriftsprachdiskussion noch nicht eingeholt ist. Mit einer gewissen Genugtuung konnte B. zuletzt noch registrieren, daß mit der einsetzenden sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Schrift bzw. dem Schriftsprachunterricht auch seine Arbeiten endlich gewürdigt werden.[7]
Einige der »Kleinen Schriften« (auch von B.s z.B. sehr persönlichen Interventionen in die jüngste Diskussion, bei denen er seine eigene, vergessene Leistung in Erinnerung bringt) sind inzwischen wieder zugänglich.[8]
Q: Bundesarchiv; Hinweise zur Vita und zum Werk bei Oskar Lockowandt, »Bernhard Bosch 80 Jahre alt«, in: Informationen der International Reading Association, Sektion Deutschland, Jg. 1984, Heft 2: 1-2; dort auch 3-6 eine Selbstdarstellung seiner Untersuchung durch B. Bosch. Zum reformpädagogischen Konzept, in dem Bosch seine 1937 publizierte Untersuchung durchführte, s. seinen Nachruf auf Georg Raederscheidt in: Pädagogische Rundschau 29/1975: 443-448. Die Darstellung hier stützt sich im wesentlichen auf die Angaben von B. Bosch in einem ausführlichen Gespräch am 26.1.1986 sowie auf Personalunterlagen, die er mir freundlicherweise in Kopie zur Verfügung gestellt hat.
[1] Als Beiheft der Z. f. angewandte Psych. u. Charakterkunde. Zuletzt in korrigierter 6. Auflage Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule 1984.
[2] In: Die neue Volksschule in Stadt und Land 3/1951-1952: 98-106, 148-153, 357-362 und 437-447; sowie 4/1952-1953: 74-80 und 122-126.
[3] Ernst Krieck (1882-1947), war Lehrer, der extensiv pädagogisch publizierte und auch politisch aktiv war, seit 1932 Mitglied der NSDAP. 1933 wurde er o.Prof. U Frankfurt und dort zugleich Rektor. 1934 U Heidelberg und auch dort 1938 Rektor. K. war im SD und NSDozBund aktiv. 1938 endete seine politische Karriere nach Konflikten in der Partei. 1945 wurde er entlassen und erhielt Berufsverbot. machte in den 30er Jahren eine politisch steile Karriere, u.a. als Rektor in Frankfurt/M., die allerdings mit einem ebenso steilen Sturz endete.
[4] S. zu diesem formalen Problem Buchheim 1958.
[5] Dazu hatte er allerdings umso mehr Anlaß, als diese Arbeit selbst da, wo sie gewürdigt wird, immer noch nicht hinreichend aufgenommen wurde: So mißverstand selbst R. Valtin in ihrem Nachwort zur Neuauflage (1984) des Buches von 1937 dessen sprachtheoretische Implikationen – und damit letztlich auch den pädagogischen Ansatz.
[6] Vgl. das Erlernen der <r>-Schreibungen im Deutschen, die konsonantische Lautklassen bezeichnen wie im (Silben-)Anlaut bei [ʁoːt] = »rot«, aber auch das finale vokalische Element der öffnenden Diphthonge wie etwa bei [tyɐ] = »Tür«.
[7] In: Grundschule Jg. 1987, Heft 10: 66-67, s. z.B. K. Meiers, »Gedanken zum Lesen und Lesenlernen. Aus Büchern und Aufsätzen von B. Bosch«.
[8] H. Giese (Hg.), »B. Bosch: Lesenlernen. Diskussionsbeiträge aus 50 Jahren«, (= OBST, BH. 9), Oldenburg: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 1990, Neuauflage anläßlich seines 100. Geburtstages, ders. (Hg.) »Lesen lernen«, Duisburg: Gilles und Franke 2003.