Arntz, Helmut
Nach dem Abitur 1930 in Honnef (bei Bonn) Studium der vergleichenden und germanischen Sprachwissenschaft sowie Orientalistik in Köln und Gießen. Promotion 1933 bei Hirt.
Die ambitionierte Dissertation »Sprachliche Beziehungen zwischen Arisch und Baltoslawisch«[1] verfolgt eine Grundidee des Doktorvaters, nach der in der Ausgliederung der indo-europäischen Sprachfamilie die grundlegende Abgrenzung nicht zwischen den östlichen indo-arischen Sprachen und allen westlichen verläuft, sondern die balto-slawischen Sprachen zu der östlichen Gruppe gehören. Nach einem systematischen Abriss auf den verschiedenen Ebenen der Phonologie, Morphologie, Wortbildung und Syntax liefert die Arbeit ein etymologisches Verzeichnis von lexikalischen Wurzeln und Formbildungselementen, das die Übereinstimmungen, aber auch die Abgrenzungen zu den germanischen und italo-keltischen Sprachen deutlich machen soll.[2] Nach der Promotion begann er ein juristisches Zweitstudium in Bonn mit dem Ziel einer diplomatischen Karriere, das aber kaum kongruent zu seiner Selbsteinschätzung bzw. seiner Neigung zum Großartig-Ausgreifenden gewesen sein kann, die ihm bei KommilitonInnen die Aura des Genialen eintrug[3] und die wohl auch von seinem Lehrer Hirt gefördert wurde.
A. promovierte bei Hirt mit 21 Jahren und publizierte sofort fachliche Großentwürfe, wie sie sonst eher Sache von Altmeistern eines Faches sind (s.u.). So setzte er denn auch sein sprachwissenschaftliches Studium fort, für das er in den Runen eine Forschungslücke entdeckt hatte, die es ihm erlaubte, sich zu profilieren. 1935 brach er sein Jurastudium ab und habilitierte mit einer vergleichenden Arbeit über germanische Runen und keltisches Ogam.[4]
Gegen keltophile Ansätze, wie sie damals vor allem auch noch W. Krause vertrat, stellte er emphatisch die These vom germanischen Ursprung der keltischen Schrift; abgesehen von seinen problematischen Behauptungen (und heftig großspuriger Polemik: zu Krause bemerkt er, daß er »selten luftigere Theorien« gesehen habe, S. 357) ist die Arbeit bestimmt von umfassender Materialaufbereitung und genauer formalen Deskription (entsprechend sein Versuch, die Form des Ogam aus den Runen abzuleiten) - neben phantasievollen Spekulationen über den kulturellen Vermittlungsweg. Gleichzeitig präsentierte er sich der Fachöffentlichkeit mit seinem »Handbuch der Runenkunde« als Autorität auf diesem Gebiet (trotz zahlreicher Detailkritik war die Aufnahme des Buches positiv). Es ist in der zweiten neubearbeiteten Auflage von 1944[5] (mit einem pathetischen Vorwort von der russischen Front) bis heute brauchbar als detailliertes und materialreiches Kompendium,[6] das akribisch nicht nur den (reichlich verworrenen und z.T. spintisierenden) Forschungsstand aufarbeitet,[7] sondern extensiv formale Betrachtungen zur Entwicklung der Buchstabenformen, historisch-archäologische Befunde zur Überlieferung/Entstehung und eine funktionale Betrachtungsweise verbindet: Die Runenschrift ist für ihn eine Art graphische Koine in der Vor- und Völkerwanderungszeit, die kultische Praktiken anreichert, indem sie norditalische (vor-lateinische) Schriftzeichen entlehnt - das unterscheidet er strikt von einer Schriftlichkeit mit einer »Gebrauchsschrift«, wie sie im germanischen Raum erst mit dem Christentum und den damit übernommenen Schriftformen (lateinischer - oder wie bei den Goten: griechischer Provenienz) aufkommt. Damit bezog A. eine explizite Gegenposition zu den »mythischen« Spekulationen über die Runen als germanische »Urschrift«, wie sie vor allem im Umfeld des Amtes Rosenfeld favorisiert wurden.
Das Handbuch brachte ihm außer fachlicher Anerkennung 1935 auch eine Referentenstelle für diesen Bereich bei der DFG ein und manövrierte ihn damit in eine wissenschaftspolitisch exponierte Stelle, die er durch die konzentrierten Anstrengungen seiner Gegner noch im gleichen Jahr wieder aufgeben mußte. Dafür waren vermutlich weniger die fachlichen Einwände maßgeblich, gegen die A. eine Koalition mit ihm nahestehenden Forschern aufbaute (die ebenfalls unter Beschuß der Rosenberg-Fraktion standen), als vielmehr sein nicht erfolgreicher »Arier-Nachweis« - gegen die Denunziation als »Judenstämmling« (so der Volkskundler Prof. Reinerth, s. Hunger 1984: 47)[8] war er nicht zu halten. Daß er in seinem »Handbuch« auch jüdische Autoritäten wie Feist zitierte, brachte ihm weitere Anwürfe ein.[9] Hinzu kam 1936 noch ein »Heimtücke«verfahren, aus dem er nur »mangels Beweisen« ohne Verurteilung hervorging. Damit verlor er zunächst auch seine offizielle Förderungswürdigkeit: Die DFG entzog ihm ihr bis dahin gewährtes Stipendium (s. Hunger 1984: 50-1). Zunächst noch privat, dann an der Gießener Universität baute A. ein »Institut für Runenforschung« auf (offiziell eingerichtet im Oktober 1938), für das er nicht zuletzt Industriegelder zu akquirieren wußte, weil er die fotografische Industrie für seine Pläne einer neuartigen Großdokumentation interessieren konnte (sie finanzierte ihm ein »Laboratorium für wissenschaftliche Photographie«). 1936 fand er im Konkurrenzgerangel der Wissenschaftspolitik Zuflucht beim »Archäologischen Institut des Deutschen Reiches«, das ihm seitdem ein Forschungsstipendium gewährte (s. Hunger 1984: 56-7).
In dieser Konfliktsituation, in der er wiederholt bei Stellenbesetzungen nicht berücksichtigt bzw. abgelehnt wurde, trat er 1937 in die NSDAP ein (allerdings war er schon seit 1932 [oder 1933] im Stahlhelm, mit dem er in die SA überführt worden war, wo er auch regelmäßig seinen „Dienst“ ableistete). Wissenschaftlich hatte er trotz dieser Widerstände beachtliche Erfolge. 1937 publizierte er seine »Bibliographie der Runenkunde«; 1939 gemeinsam mit dem Althistoriker H. Zeiss »Die einheimischen Runendenkmäler des Festlandes«, die in monumentaler Form die neuen Dokumentationstechniken umsetzte, und von A. als erster Band einer ambitionierten Gesamtdokumentation der germanischen Sprachdenkmäler geplant war. Schließlich konnte er seit 1939 gemeinsam mit einem renommierten internationalen Beirat, den er bei seinen Auslandsreisen kennengelernt hatte, ein Periodikum »Runenberichte« herausgeben. 1939 wurde A. schließlich auch zum Dozenten an der Gießener Universität ernannt (vier Jahre nach seiner Habilitation), nachdem dort allerdings auch die institutionellen Randbedingungen positiv für A.s Fach, die Indogermanistik, geklärt waren, die durch die Abschaffung der Professur nach Hirts Emeritierung prekär geworden waren. In der Zwischenzeit hatte er der schwierigen Situation durch »entschiedene« politische Anpassungsleistungen Rechnung getragen.
Schon seine Herausgabe der Festschrift für seinen Lehrer Hirt (»Germanen und Indogermanen. Volkstum, Sprache, Heimat, Kultur«)[10] verband er mit einer pathetischen Einordnung des Unternehmens in das faschistische »Gemeinschaftswerk« (Vorwort - unter den Beiträgen versammelte er u. a. H. F. K. Günther). Noch deutlicher sind Ausführungen, die er in fachlich weniger geschützten Bereichen machte, etwa »Rasse, Sprache, Kultur und ihre Beziehung zum Volkstum«.[11] In ausdrücklicher Anlehnung an die offizielle Runenkunde (insbesondere H.F.K. Günther, Reche) entwickelte er den politischen Ort von Sprache und Sprachkritik (in reklamierter Übereinstimmung mit Stegmann von Pritzwald und Weisgerber): Die Grundlagen des Volkstums sind rassischer Natur - aber ob ein Volk diese Grundlagen politisch realisiert, ist eine Frage auch des Umgangs mit den sprachlichen Verhältnissen, bei denen nicht zuletzt auch der Sprachwissenschaft genuin eine politische Führungsrolle zukommt (die sie in Deutschland leider noch nicht hat, bes. S. 270). Dabei gilt es, den historisch gewordenen Mischungsverhältnissen Rechnung zu tragen (und so nicht ohne Reflex seiner eigenen Ahnenprobleme, auch der rassischen Mischung des dt. Volkes, s. den Hinweis auf »jüdisches Blut«, S. 267). Aber in der Sprache (eng gekoppelt an andere kulturelle Formen) manifestieren sich die rassischen (hier: nordischen) Potentiale, die es politisch zu realisieren gilt, durch eine rassenbewußte Politik, die (und hier sind die Homologien zur Weltkriegsvorbereitung mehr als deutlich) darauf bauen kann, daß »wir schwerere Dinge als andere Völker ertragen können« - und auch werden müssen beim Kampf um das »ewige Leben des deutschen Volkes«, seinen Aufstieg aus tiefster Not »wieder zum Licht« (alle S. 271) - und ebenfalls nicht von ungefähr: der Gegenpart sind die Slawen, bestimmt durch die »Auslöschung ihres nordischen Rasseanteils«, wodurch auch »ihr seelisch-strukturelles Bild gewandelt worden ist« (S. 267).
Auf fachlichem Gebiet machte ihm die wachsende Konkurrenz von W. Krause zu schaffen, der sich seit seiner Berufung 1937 als Nachfolger seines Lehrers E. Hermann in Göttingen dort ebenfalls um eine Monopolstellung in der politisch opportunen Runenforschung bemühte. Krause hatte A.s Arbeiten zunächst recht positiv aufgenommen, wurde dann aber zunehmend zu einem fachintern exponierten Gegenspieler, der heftige Verrisse publizierte (und institutionell wohl auch intrigierte),[12] vor allem nachdem er selbst in Konflikt mit dem Amt Rosenberg geraten war, und (auf der Basis seiner Sinnbilddeutungen der Runen und altgermanischen Spekulationen über die Entwicklung) Anschluß und Förderung beim »Ahnenerbe« der SS suchte und fand.[13]
Die breite Front der Gegner, die vor allen Dingen immer wieder den Vorwurf seiner nicht-arischen Abstammung erhoben, gegen den er sich heftig verwahrte, brachte ihn schließlich sofort bei Kriegsbeginn 1939 dazu, sich zur Wehrmacht zu melden, wo er (bis Kriegsende) von der Front aus mit bemerkenswerter Energie seine Forschungen (und Publikationen!) weiter betrieb. Die Position „im Feld“, die er deklamatorisch in seinen Schriften immer wieder beschwor,[14] ließ vor allem auch ein Parteigerichtsverfahren gegen ihn ruhen. Sie verhalf ihm tatsächlich zur Konsolidierung seiner Position: Im Oktober 1939 wurde er zum Dozenten neuer Art ernannt (er lehrte bereits als Dozent seit 1937), seit 1940 erhielt er Landesmittel für sein Runeninstitut in Gießen; schließlich stimmte 1942 das Amt Rosenberg seiner Ernennung zum a.o. Professor in Gießen zu, verbunden mit seiner Leitung des Seminars für indogermanische Sprachwissenschaft.
Politische Widerstände waren dadurch allerdings nicht völlig beseitigt. A. konnte seiner Arbeit zwar schließlich sogar eine öffentliche Breitenwirkung verschaffen, indem er 1940 eine Wandtafel »Runenschrift und Sinnbilder« für schulische und außerschulische (in der HJ) »Bildungsarbeit« in einem Schulverlag veröffentlichte; er mobilisierte damit aber seine Gegner, die die Verbreitung der Tafel über den NS-Lehrerbund zu unterbinden suchten (s. die interne Stellungnahme des NSLB, »weltanschaulich bedenklich«, BA Koblenz NS 12/207).
Diese Konstellation schloß ebenfalls aus, daß A. einen seinen Ansprüchen angemessenen Lehrstuhl bekommen konnte, worum er sich heftig bemühte (Hunger 1984: 54) - was dann nach dem Krieg dazu führte, daß er 1957 rückwirkend als »Wiedergutmachung« zum 5.4.1940 in Gießen zum ordentlichen Professor ernannt wurde.
Nach dem Krieg hatte er zunächst 1947-51 an der Universität Köln einen Lehrauftrag für Schriftgeschichte. Seit 1951 war er in Bonn in der Bundesbildstelle des Informations- und Presseamtes der Bundesregierung tätig, später auch als Präsident der internationalen Vereinigung für Dokumentation (FID), s. Nachruf (Q). Auf seinem sprachwissenschaftlichen Fachgebiet hat er nur noch wenig publiziert - allerdings seine autorative Position gewahrt: In Stammlers »Grundriß« schrieb er das Kapitel über die Runen,[15] in der Hauptsache mit Verweisen auf seine eigenen Arbeiten - und nur mit gelegentlicher Nennung seines Gegenspielers Krause (Sp. 1862), ohne bibliographischen Verweis (selbst die von ihm pauschal abqualifizierte Sinnbild- bzw. Begriffsschriftdeutung knüpft er an den Namen Schneider, Sp. 1851-52). In den letzten Jahren beschäftigte er sich auch mit den Flurnamen seiner Heimat Bad Honnef, wo er wohl auch die meiste Zeit seines Lebens in der elterlichen Villa verbracht hatte (s. Q).
Q: Hungerland 1957; Hunger 1984; Kürschner 1961. Nachruf von I. Dahlberg in: Information und Informationswissenschaft & Praxis 58/2007: 313-315, sowie die umfangreiche Zusammenstellung der zugänglichen Unterlagen über A in G. Simon „Chronologie Arntz, Helmut“: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrArntz.pdf (Jan. 2009).
[1] Heidelberg: Winter 1933.
[2] Bemerkenswert ist im Vorwort und auch in der Vita der Verweis auf »Lehrer«, die in diesem Katalog vorkommen: in Köln vor allem Spitzer und Scheftelowitz, in Gießen J. Lewy und Walter.
[3] S. die Erinnerungen von Mona Wollheim »Gießen zu Beginn der dreißiger Jahre«, in Hessische Heimat 3 v. 5.2.1972: 15.
[4] »Das Ogom«, in: B. z. Gesch. dt. Spr. u. Lit. 59/1935: 321-413. Allerdings schreibt er schon in der Vita zu seiner Dissertation, daß er beabsichtige zu habilitieren.
[5] Halle/S.: Niemeyer.
[6] Beurteilungen wie die von E. Haugen: »is to be eschewed« (»The Scandinavian languages«, London: Faber and Faber 1976: 131) fallen aus der Reihe und sind vermutlich eher politisch bedingt.
[7] S. dazu die Arbeit von Hunger, 1984.
[8] Eine von A.s. Großmüttern soll jüdisch gewesen sein.
[9] S. dazu Heiber 1991: 229.
[10] 2 Bde., Heidelberg: Winter 1936.
[11] In: Z. Dt. Bildung 13/1937: 265-274 - nach einem Vortrag auf einer »Dozentenakademie«.
[12] Das Verhältnis von Krause zu A. spiegelt in Nuce die wissenschaftspolitischen Konstellationen »im Reich« mit der fortlaufenden Politisierung. Die wissenschaftliche Konkurrenzsituation war zunächst von einer gewissen Wertschätzung geprägt: In seiner Rezension des A.schen »Handbuchs« (Anz. f. dt. Altertum u. dt. Lit. 55/1936: 1-6) begrüßt K. es, denn »damit schaltet sich Deutschland in den Wettkampf um die Erforschung der Runen zum ersten Mal ein« und lobt es als »ein im allgemeinen zuverlässiges Nachschlagewerk«. Die Einzelkritik zielt aber hier schon auf die nach Meinung von K. unzureichend gewürdigten Leistungen von K. - und gipfelt in einem (allerdings auch dokumentierten!) Plagiatsvorwurf (S. 3-4). Diese Kritik verschärft sich im Verlauf der späteren Jahre, der sachliche Rahmen (vgl. etwa K.s und A.s. Beiträge zur Festschrift Neckel »Beiträge zur Runenkunde und nordischen Philologie«, hg. von K. Helm, Leipzig 1938) tritt nach der institutionellen Konkurrenz (und dem Gerangel um Unterstützung: K. hatte seit 1938 seinerseits in Göttingen ein »Institut für Runenkunde« eingerichtet) aber zunehmend in außerwissenschaftliche Bahnen. Während K. gegen A. in internen Schreiben geradezu intrigierte (s. Hinweise bei Hunger 1984), ignorierte er dessen Arbeiten in Publikationen für ein breiteres, vor allem politisches Publikum einfach (vgl. etwa »Die Herkunft der Runen«, in: Jb. d. Auslandsamtes d. dt. Dozentenschaft, Leipzig 1943: 102-10), wo er sich auch zunehmend auf die sinnbildhafte Deutung von politisch aufgeladenen Runen-Zeichen verlegte (als Sieg-/Kampf-Rune, das Hakenkreuz als Sonnen- und S-Rune usw.).
[13] Krause arbeitete trotz seiner frühen und öffentlich geäußerten Kritik an dem SS-Runenforscher Weigel eng mit der von diesem geleiteten »Forschungsstelle Externsteine« bei Detmold zusammen; s. auch in der Einleitung, Kap. 5.
[14] Sein »Kriegseinsatz« hielt sich allerdings wohl in Grenzen: er war in einer Nachrichtenabteilung aktiv, zeitweise in Paris auch in einer Propagandaabteilung.
[15] Bd. 3., 4. Aufl. 1979, Sp. 1849-1870.