Birnbaum, Salomo (Solomon, Shloyme) Asher
Geb. 24.12.1891 in Wien, gest. 28.12.1989 in Toronto.
Nach der Schulzeit in Czernowitz (heute Ukraine) seit 1910 Studium der Architektur an der Universität Wien, nebenher aber schon orientalistische Studien; 1915-1918 Kriegsdienst in der Österreich-Ungarischen Armee (als Leutnant verwundet und mit Auszeichnungen). Nach dem Krieg Studium der Orientalistik in Wien und Zürich, Berlin und Würzburg, wobei er auch vergleichende Sprachwissenschaftler wie Kretschmer hörte. 1921 promovierte er in Würzburg bei Streck mit einer Dissertation (»Das hebräische und aramäische Element in der jiddischen Sprache«),[1] die er in den Grundzügen bereits 1918 im Lazarett verfaßt hatte. Von 1922-1933 war er Dozent für Jiddisch in Hamburg,[2] von wo aus er aber auch am JIVO in Wilna mitarbeitete.[3]
In Hamburg hat B. zweimal vergeblich versucht zu habilitieren: 1926 reichte er eine Arbeit über »Die moderne hebräische Poesie« ein, die er 1927 nach z.T. negativer Begutachtung wieder zurücknahm. 1929 beantragte er erneut die Habilitation mit einer Arbeit »Die nordjüdischen Kursivschriften«. Diesmal waren die Gutachten zunächst positiv (aus einem breiten fachlichen wie politischen Spektrum, u.a. C. Borchling, C. Meinhof, aber auch E. Cassirer); aber nach weiteren negativen Voten zog B. 1930 erneut den Habilitationsantrag zurück.[4]
1933 emigrierte er nach England, wo er zunächst mit großen materiellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und erst ab 1936, dann bis 1957 an verschiedenen Universitäten (London, Cambridge) wieder tätig war; 1970 Weitermigration nach Kanada, wo seine Kinder lebten. 1984 datiert er dort das Vorwort zur 4. (Neu-) Auflage seiner »Grammatik« (s.u.).
Er hat ein ungemein umfangreiches publizistisches Werk verfaßt: neben zahlreichen Aufsätzen allein 33 selbständige Schriften (wenn auch meist kleineren Umfangs). Die Thematik reicht von hebräischer Paläographie (insbes. auch zu den Schriftrollen vom Toten Meer) bis zur jiddischen Sprache und Literatur (darunter auch Schriften in jiddischer Sprache).
B. kam aus einem zionistischen Elternhaus; der Vater Nathan B. war prominenter zionistischer Politiker und Journalist.[5] In seinem Werk setzte B. in gewisser Weise die zionistische Position seines Vaters sprachwissenschaftlich um: gegen die Reduktion des Jüdischen auf eine konfessionelle Option geht es für ihn um eine ethnische Identität, deren konstitutiver Ausdruck auch in der Sprache zu finden sein sollte – für B. war das das Jiddische. Dieses mußte er allerdings selbst auch erst während seiner Schulzeit lernen: im Elternhaus war auf deutsch aufgewachsen, korrespondierte dann aber schon als Jugendlicher mit seinem Vater auf Jiddisch. Er begann auch gleich auf Jiddisch zu publizieren, u.a. mit literarischen Übersetzungen (auch aus dem Jiddischen in [Hoch-]Deutsche). 1912 begann er, systematisch wissenschaftlich zum Jiddischen zu arbeiten (so im Vorwort zu seiner großen Gesamtdarstellung »Yiddish. A Survey and Grammar«);[6]bereits 1915 stellte er seine »Grammatik« im Manuskript fertig, die dann 1918 gedruckt wurde (s.u.).
In seinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten betont er den Anteil des Hebräischen am Jiddischen, demgegenüber die deutschen Mundarten vor allem die dialektalen »Färbungen« des aschkenasischen Jiddisch prägen, so vor allem in seiner Dissertation, s. auch seine »Übersicht über den jiddischen Vokalismus«.[7] Für ihn ist dabei das Aramäische in der Praxis der Juden (gebunden vor allem an Gemarah [Talmud] und Kabbalah) eine gemeinsame Fortsetzung der alten hebräisch-jüdischen Sprachentwicklung, in die er so das Jiddische (bei ihm auch »Jüdischdeutsche«) stellt. Damit partizipierte er an einem breiten »völkischen« Diskurs, der die von heute her (nach Auschwitz) irritierenden auch persönlichen Verbindungen der frühen Jahre erklärt, angefangen bei seinem Hamburger Förderer, dem deutschnationalen Conrad Borchling bis hin zu den sprachpolitischen Aktivisten der Deutschen Akademie in München, H. Kloss und F. Thierfelder. Als dort Anfang der 1930er Jahre in großem Stil eine Neustrukturierung des sprachpolitischen Arbeitsfeldes geplant war (s. hier auch bei Schmidt-Rohr), verfaßte er einen »Programmentwurf für die ›Jiddische Abteilung des Nahsprachen-Instituts‹«, das dafür geplant war – in dem er sich offensichtlich auch in leitender Funktion sah.[8]
Insofern entwickelte er seine Argumentation auch im Format der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, orientiert an den junggrammatischen Arbeiten in der Tradition von Sievers, und stellte z.B. im phonetisch-lautgeschichtlichen Teil der Dissertation bzw. des Aufsatzes von (1923) die Verhältnisse sehr systematisch dar. Das so ermittelte Bild ergänzt er um Bereiche der Morphologie und Wortbildung sowie Syntax, wobei er ausführlich auch Lehnbildungen (mit etymologisch deutschem oder auch slawischem Material) diskutiert, die in seinem Sinne den semitischen Anteil vergrößern. Besonders berücksichtigt er dabei dialektale Differenzierungen im Jiddischen (u- versus o-Dialekte). Seine Position ist entsprechend auch angegriffen worden.[9] In mehreren detaillierten Einzelstudien hat er sie aber weiter vertreten und ausgebaut, s. z.B. »Zur Geschichte der u-Laute im Jiddischen«, 1934 auf jiddisch publiziert.[10]
Seine frühe einführende bzw. Überblicksdarstellung, die 1918 eine Pionierleistung war, ist wieder nachgedruckt: »Grammatik der jiddischen Sprache. Mit einem Wörterbuch und Lesestücken«.[11] Sie zeichnet sich im Kontext der frühen jiddistischen Arbeiten vor allem durch eine konsequent deskriptive (synchrone) Darstellung aus, in der sich wohl auch B.s eigene Lernsituation als Nicht-Muttersprachler spiegelt. Seine dort skizzierte Einteilung der ostjiddischen Mundarten ist bis heute für die jiddistische Dialektologie grundlegend geblieben,[12] s. auch seinen jüngeren Abriß der »externen« Sprachgeschichte sowohl des aschkenasischen (»deutschen«) wie zarfatischen (»französischen«) Jiddisch: »Die jiddische Sprache. Ein kurzer Überblick und Texte aus acht Jahrhunderten«[13] (mit umfassender Bibliographie). Gegen die Betonung des slawischen Einflusses stellt er die kulturellen Gemeinsamkeiten mit den zarfatischen Juden, für die insbes. die Verhältnisse im Rheinland eine Schleuse bildeten. Damit nahm er eine explizite Gegenposition zu sprachwissenschaftlich nicht fundierten Versuchen ein, das Jiddische (bzw. in seinem Sinne: das Jüdische in Deutschland/Europa) zum Orient zu stellen, um die Abgrenzung vom Deutschen zu verstärken (was in Reaktion auf die Shoah auch heute noch vertreten wird). Eine erweiterte Bearbeitung ist das o.g. englische Handbuch »Yiddish« (1979).
In zahlreichen philologischen Arbeiten zur literarischen Überlieferung (so etwa in seinem Beitrag zur Festschrift für Max Weinreich),[14] vor allem aber in oft polemischen Artikeln vertritt er immer wieder die These vom Jiddischen als einer eigenen Sprache, die nicht nur die graphische Repräsentation aus dem Hebräischen bezieht, sondern »sprachsoziologisch« eine jüdische Sprache ist[15] – und schreibt so gewissermaßen die Position seines Vaters fort, jetzt sprachwissenschaftlich-philologisch untermauert. In diesem Sinne hat er auch zu den sprachpflegerischen Bemühungen um das Jiddische Stellung bezogen, wo er eine explizite Gegenposition zu der stark normierenden Position des YIVO vor allem in Bezug auf die Orthographie eingenommen hat (s. hier bei Schaechter, M. Weinreich): für ihn ging es darum, in der Schreibung möglichst durchlässig für die dialektale Variation zu bleiben, wobei er sich anders als das YIVO an den südlichen (u-)Mundarten als Leitvarietät orientierte. Mit diesen Arbeiten blieb er isoliert – und hat in ihnen auch keine einheitliche Linie gefunden (s. Timm in den Kleinen Schriften, Bd. I zu den dort abgedruckten Arbeiten). Ausgehend von seinen geographisch umfassenden Studien zu den hebräischen Schriften bei den weit gestreuten jüdischen Gemeinschaften hat er später auch sprachwissenschaftliche Studien zu orientalischen jüdischen Gemeinschaften vorgelegt: so bes. auch zum Judenarabischen in Marokko (bei ihm in einer hebraisierten Form des arabischen Maghrib - Maaravic)[16] und zum Jüdisch-Bucharischen.
Seine Arbeiten zur hebräischen Paläographie sind unbestritten grundlegend für die neuere Forschung: sein magnum opus, »The Hebrew Script«, ist nach wie vor ein Referenzwerk,[17] das erst seit 1965 eine detailliertere Fortsetzung in einem großen französisch-israelischen Gemeinschaftsunternehmen (von M. Beit-Arié u.a.) gefunden hat (s. die Einleitung zu seinen Kleinen Schriften, Bd. II). Dabei ist dieses Werk die Überarbeitung der o.g. beabsichtigten Hamburger Habilitationsschrift von 1929. Zu seinem dominierenden Arbeitsfeld war die hebräischen Paläographie und Kodikologie durch einen entsprechenden Lehrauftrag an der Londoner School of Oriental and African Languages geworden. In dem großen Werk von (1954-1957) dokumentiert er die regional, funktional und chronologisch verschiedenen hebräischen Schriften (vor allem auch die kursiven!) der 3000-jährigen Überlieferung und bereitet sie mit »Leitalphabeten« für die paläographische Bestimmung auf. Vor dem Hintergrund dieser Forschung hat er maßgeblich zur Datierung der Schriftrollen von Qumran beigetragen. Sein Versuch, so deskriptiv ausgemachte Schriftfamilien kulturgeschichtlich zu fundieren, ist für die Schriftforschung auch grundsätzlich methodisch wichtig. Gerade auch auf dieser materialgestützten Basis interpretierte er Übereinstimmungen bei den aschkenasischen und zarfatischen Juden als Indiz für die romanische Heimat/Bindung der Mehrheit der »deutschen« Juden - gegen die Annahme einer östlichen Herkunft, s.o.
Diese große Arbeit bildet gewissermaßen den systematischen Abschluß seiner früh begonnenen Versuche, ein paläographisches Kriterienraster zur Bestimmung der frühen (zumeist undatierten) jiddischen Handschriften zu entwickeln, s. seine Bemerkungen in: »Das älteste datierte Schriftstück in jiddischer Sprache«;[18] oder auch »Umschrift des ältesten datierten jiddischen Schriftstücks«.[19] Als Autorität auf diesem Gebiet war er in den letzten Jahren an den meisten einschlägigen Untersuchungen beteiligt, so auch bei der Hg. der Cambridge Handschriften.[20]
B. gilt als Nestor der Jiddistik, wie der ihm gewidmete Band von Röll 1981 zeigt, der im Vorfeld des B. 1986 verliehenen Ehrendoktorats der Univ. Trier erschien. 1995 wurde in Hamburg die Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für Jiddisch gegründet. Zugänglich ist sein Werk jetzt vor allem durch die Herausgabe seiner Kleinen Schriften durch Erika Timm, die dabei die Unterstützung der beiden Söhne hatte (s. Q): hier werden einige der Arbeiten auch mit redaktionellen Korrekturen von B. selbst abgedruckt, daneben auch unveröffentlichte (B. selbst hatte die Zusammenstellung noch vorgenommen).
Q: LdS: unplaced; BHE; DBE 2005; E/J 2006; autobiographische Hinweise s.o.; Nekrolog von W. Röll/E. Timm, in: Mitt. Jiddistik (Univ. Trier) 3/1990: 16-22; P. Freimark, in: Berichte und Meinungen aus der Universität Hamburg 21/1990: 58; S. Hiley in: D.-B. Kerler (Hg.), »History of Yiddish Studies«, Chur etc.: Harwood 1991: 3-13; E. Timm (Hg.), »Ein Leben für die Wissenschaft. Wissenschaftliche Aufsätze aus sechs Jahrzehnten von S. A. B.«, Berlin: de Gruyter 2011. (Bd. I: Linguistik, Bd. II: Paläographie), oben zitiert als Kleine Schriften. Darin auch eine Würdigung von B.s Leben und Werk, Bd. I: xi-xxvii. Hinweise von E. Timm.
[1] Kirchhain/L.: Zahn u. Baendel 1922.
[2] Zugleich die erste akademische Stelle für dieses Gebiet überhaupt – spiritus rector war hier der deutschnationale Conrad Borchling, s.u.!
[3] S. bei Uriel Weinreich, der B.s frühe Beiträge in »The Field of Yiddish«, 1954, im Vorwort würdigt.
[4] Zu den fachlichen und etc. politischen Hintergründen s. Freimark 1991: 129-133.
[5] Als Gegner von Herzl vertrat er die Position des Kampfes für jüdische kulturelle und d.h. nationale Autonomie in der Diaspora; seine Argumentation partizipierte aber an den Unklarheiten der Nationalitätendiskussion im 19. Jhd.: Das Judentum war für ihn, gerade angesichts der öffentlichen sprachlichen und kulturellen Verschiedenheiten außer religiös vor allem rassisch fundiert - erst eine zu schaffende nationalpolitische Lösung könnte auf sprachlich-kulturellem Gebiet den volkhaften Ausbau dieser Grundlage ermöglichen (mit dem Hebräischen als Grundlage), s. dazu J. Doron, Jüdischer Nationalismus bei Nathan Birnbaum, in Grab 1984: 199-230.
[6] Toronto: Toronto Univ. Press 1979. Dort schreibt er, daß er erst etwa 1912 Jiddisch lernte, als er es gewissermaßen als Gegenstand wissenschaftlichen Arbeitens entdeckte (so im Vorwort).
[7] In: Z. f. dt. Mundarten 1923: 122-140.
[8] Überschrieben ist der Entwurf mit »Die Stellung der jiddischen Sprache« (in: Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums 5/1930: 355-364). Dort stellte er die Eigenständigkeit des Jiddischen heraus, das sich schon im Mittelalter vom »deutschen Sprachkörper« getrennt habe und insofern als eigene Sprache zu behandeln ist. Er versuchte hier, den Terminus der Nahsprache gegenüber dem Kloss'schen der Nebensprache ins Spiel zu bringen, der für ihn diskriminierend war. Entgegen seiner Selbsteinschätzung hatte er damit allerdings keinen Erfolg: Kloss hat ihn nicht aufgenommen (er, wie übrigens auch ein Verweis auf B., fehlt in dessen magnum opus »Grundfragen der Ethnopolitik im 20. Jahrhundert«, Wien: Braumüller 1969). B. bezieht sich auch später noch ungebrochen auf diesen Ansatz, so in seinem Rückblick 1986 in seiner Rede zur Ehrenpromotion in Trier (s.u.) »Institutum Ascenezicum«, wieder abgedruckt in den Kleinen Schriften (2011), s.u., Bd. I: 297-304. Zu Kloss und Thierfelder bzw. dem wissenschaftspolitischen Umfeld, s. die Überblicksdarstellung im Anhang zu Bd. II (Einleitung zur Ausgabe 1996).
[9] So z.B. eine S.F. gezeichnete Rezension in der Z. f. dt. Mundarten 1923: 141-144, die von der Dissertation allein den deskriptiven Teil gelten läßt.
[11] Zuerst Wien/Leipzig: Hartleben 1918; jetzt wieder Hamburg: Buske 41984.
[12] S. etwa M. Herzog, Channels of systematic extinction in Yiddish dialects, in FS M. Weinreich 1964: 93-107.
[13] Hamburg: Buske 41974.
[14] Den Haag: Mouton 1964, über jiddische Psalmenübersetzungen vom 15. Jhd. bis 1900.
[15] S. etwa »Two problems of Yiddish linguistics«, in: Uriel Weinreich (Hg.), The Field of Yiddish, New York; Linguistic Circle of NY 1954: 63-72, sowie vor allem das erwähnte Handbuch von 1979. Für eine analytische Auseinandersetzung mit der Frage einer spezifisch jüdischen Sprache, s. bei Rabin (der in seinen entsprechenden Arbeiten nicht auf B. eingeht).
[16] In den Kleinen Schriften finden sich Auszüge aus einem langen nachgelassenen Manuskript, in dem B. die Texte in L. Brunot / E. Malka (Hgg.), »Textes judéo-arabes de Fès« (Rabat: Ecole du Livre 1939) in Hinblick auf Besonderheiten einer darin greifbaren jüdischen Sprache auswertet (»The Maaravic and Maghrebinian of Fez: A linguistic comparison«, S. 381-390). Eine systematische Edition dieser umfangreichen Arbeit (nach den editorischen Anmerkungen dort 100 Ms.-Seiten, verfaßt ca. 1947) wäre sicher lohnend, die dann allerdings mit der neueren Forschung abzugleichen wäre, insbes. S. Lévy, »Parlers arabes des Juifs du Maroc. Histoire, sociolinguistique et géographie dialectale«, Zaragoza: Istituto de estudios islámicos y del oriente próximo 2009.
[17] 2 Bde., Leiden: Brill 1971, zuerst 1954-1957.
[18] In: B. z. Gesch. dt. Spr. u. Lit.56/1932: 11-22, bes. S. 11.
[19] In Theutonista 8/1931-1932 – zu einem nach seinen Worten allein paläographisch interessanten Text, der in hebräischer Schrift deutsch verfaßt ist, S. 198.
[20] S. P. Ganz u.a. (Hgg.), »Dukus Horant«, Tübingen: Niemeyer 1964.