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Boas, Franz Uri

Geb. 9.7.1858 in Minden, gest. 21.12.1942 in New York.

 

B. wuchs in Minden in einer relativ wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie auf, die dem liberalen Bürgertum zuzurechnen war.[1] Trotz schlechter Schulleistungen (in den klassischen Sprachen, aber auch in den naturwissenschaftlichen Fächern) hatte er schon als Kind beschlossen, Forscher zu werden, wobei ihn vor allem die (damals modische) Arktis faszinierte.[2] Nach dem Abitur 1877 in Minden studierte er in Heidelberg, Bonn und Kiel »Naturwissenschaften« (so ausdrücklich in seiner Vita): Physik, Mathematik und Geographie. 1881 promovierte er in Kiel mit der Dissertation »Beiträge zur Erkenntnis der Farbe des Wassers«,[3] in der er experimentell mit Hilfe eines selbstkonstruierten Apparates Polarisierungseffekte und die Absorption von Licht im Wasser untersucht. Den konzeptuellen Rahmen lieferte die Psychophysik,[4] die den naturwissenschaftlichen Gegenstand als Moment des Umgangs mit ihm in der materialen Praxis rekonstruierte.

Die Habilitation plante er in Berlin im Fach Geographie: Grundlage dazu sollte die Verwirklichung seines Kindheitstraums sein, ein Forschungsaufenthalt 1883-1884 bei den Eskimos auf den Baffin-Inseln.[5] Diese Inselgruppe zwischen Grönland und Labrador (heute Kanada) stand im Fokus der damals öffentlich verfolgten Suche nach einer Nordwestpassage vom Atlantik zum Pazifik, bei der mehrere Expeditionen scheiterten. Deutschland hatte dort eine Polar-Station eingerichtet, die B. für seine Reise mit einem Versorgungsschiff ansteuerte.[6] Auf diese Forschungsreise bereitete er sich systematisch vor, vor allem während seines Militärdienstes, den er im Anschluß an die Promotion in Minden ableistete. Die Kosten für den geplanten einjährigen Forschungsaufenthalt brachte er durch umfangreiche publizistische Tätigkeiten auf; vom Berliner Tageblatt erhielt er u.a. einen größeren Vorschuß auf später dort zu publizierende Berichte (neben der familiären Unterstützung und der durch die deutsche Polargesellschaft, die ihm die Überfahrt auf ihrem Versorgungsschiff gestattete und auch für die Unterkunft vor Ort sorgte). Die Vermittlung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur Öffentlichkeit war aber nicht nur aus der Not geboren: Sie charakterisiert sein ganzes umfangreiches Werk, wie die ausführliche 42 Seiten umfassende Bibliographie (1943, Q) zeigt. B. hatte geplant, den Winter mit dem zugefrorenen Meer zu nutzen, weil er die unter diesen Bedingungen möglichen großräumigen Wanderungen der Eskimos untersuchen wollte, als ihre Art, die geographischen Bedingungen anzueignen (also in Fortführung seines psychophysischen Forschungsprogramms). Die (Über-)Lebensbedingungen dort waren aber schwieriger als erwartet, und er konnte das Vorhaben nur sehr eingeschränkt, vor allem nur sehr viel kleinräumiger realisieren.[7]

Wichtiger als die kartographischen Ergebnisse, die als Habilitationsschrift im engeren Sinne dienten,[8] waren denn auch die ethnographischen Studien, die B. unternahm. B. entwickelte ein Verfahren der subjektiven Geographie, indem er seine eskimoischen Gewährsleute Karten zeichnen und annotieren ließ.[9] So belegte er auch seine Karten nicht wie sonst üblich mit willkürlichen Namen, sondern dokumentierte die Toponymie der Eskimos.[10] Sein Bemühen um die einheimischen Bezeichnungen nötigte ihn zur Analyse der Eskimo-Sprache, der er in der Analyse von Mythen, Bezeichnungen für kulturelle Praktiken und dgl. nachging. Daraus ging seine systematische Darstellung »The Central Eskimo« hervor.[11] Zur Vorbereitung hatte er sich schon etwas in die Sprache eingearbeitet, u. a. aufgrund der Arbeiten von H. J. Rink, mit dem er auch später noch einen intensiveren Kontakt hielt und gemeinsam publizierte.[12] Die Korrespondenz mit Rink macht deutlich, wie intensiv B. sich in eine Aufgabe hineinkniete, von der er schreibt: »Ich halte mich nicht für befähigt, das sprachliche Material genügend zu verwerten«; denn »meine Kenntnis der Eskimo-Sprache […] ist bei mir ungemein mangelhaft, manche(s) verstehe ich fast gar nicht« (Brief vom 28.4.1885).[13] Tatsächlich kann Rink viele Textstellen klären, indem er Parallelen aus dem ihm vertrauten Grönländischen, z.T. auch aus der Literatur zum Labradorischen beibringt, muß aber oft selbst passen. Bemerkenswert ist, daß er aus seinem langen Umgang mit den Inuit ein Problem sieht, das B. bei seinen Arbeiten übersehen hat und auch in seinen späteren Arbeiten eher verdrängt: Die spezifische Registergebundenheit der von ihm aufgenommenen zeremonialen Texte, die z.T. vermutlich auch für die Sprecher/Sänger selbst nicht transparent waren, in der Form auch den spezifischen Vortragsbedingungen angepaßt wurden, weshalb Rink versucht, metrische und melodische Annotationen vorzunehmen.[14]

B. wurde bei seinem Aufenthalt von Wilhelm Weike begleitet, einem etwa gleichaltrigen Hausdiener der Familie in Minden. Dieser schrieb für B. ein Tagebuch,[15] das für die Arbeitsbedingungen ausgesprochen aufschlußreich ist: Weike blieb auch unter den schwierigsten (Über)lebensbedingungen der Diener, der aber auch ohne große soziale Distanz direkten Kontakt zu den Inuit fand (insbesondere auch zu einer jungen Inuit-Frau) und sich offensichtlich relativ unbefangen mit ihnen verständigen konnte – anders als der distanzierte B. Dieser war auch vor Ort auf die Unterstützungen anderer angewiesen, die ihm bei der Interpretation der Beobachtungen als Experten dienten, insbesondere der dort seit längerem schon ansässige schottische Walfänger James S. Mutch (1848-1931), der offensichtlich recht gut Inuktitut gelernt hatte und für B. übersetzte, der aber auch selbst Beobachtungen angestellt und notiert hatte, die er B. zur Verfügung stellte, der sie in seine Darstellungen einarbeitete.[16]

Mit der Verlagerung seines Forschungsinteresses verband sich bei ihm eine systematische kritische Auseinandersetzung mit der damaligen Kulturtheorie.  Die im 19. Jahrhundert übliche positivistische Auffassung von kulturellen Erscheinungen als Epiphänomenen von naturwissenschaftlich zu analysierenden Prozessen war für ihn nicht als Erklärungsmuster tauglich, um die Kultur der Eskimos zu verstehen. Seinem Verständnis der Dinge standen vor allem die Stereotypen von den »primitiven Kulturen« gegenüber, die den rassistischen Diskurs des 19. Jhdts. prägten. Bei seinem Versuch, hier einen sicheren analytischen Boden zu finden, erhielt die Sprachanalyse eine Schlüsselstellung. Den Wandel in seiner Perspektive hat er später explizit formuliert: »Ich war mir der Wichtigkeit sprachlicher Studien während der ganzen Reise (zur Baffin-Insel, U.M.) nicht klar bewußt, da ich glaubte, die Studien der grönländischen und labradorischen Missionäre gäben ein genügendes Bild der Eskimosprache, und concentrirte meine Arbeit auf geographische und ethnologische Probleme«.[17] In seiner naturwissenschaftlichen Orientierung sah er die Möglichkeit, über eine methodisch kontrollierte Sprachanalyse an die Strukturen heranzukommen, die sich bewußten Deformationen (i. S. solcher Stereotypen) entziehen, weil sie sich hinter dem Rücken der Subjekte ausbilden. So entdeckte er die Sprachanalyse als Raum methodisch kontrollierter Kulturanalyse – im Gegensatz zu den üblicherweise in der Ethnologie vorrangig untersuchten »sekundären Reaktionen« auf kulturelle Erscheinungen.

In gewisser Weise kam er damit näher an das Ziel heran, das er schon als Schüler in seinem Bildungsgang formuliert hatte (für das Abitur niedergeschrieben, im Nachlaß überliefert), mit Alexander von Humboldt als großem Vorbild. Auf diesen bezieht er sich denn auch später in den wenigen Schriften, in denen er eine systematische Wissenschaftsreflexion zu Papier bringt: »Cosmography (im Text Verweis auf Alexander von Humboldt, U.M.), as we may call this science, considers every phenomenon as worthy of being studied for its own sake«.[18] In seinem Bildungsgang schreibt er ehrfürchtig, daß er es noch nicht geschafft habe, Humboldts »Kosmos« ganz zu lesen.[19] Bei seiner sprachanalytischen Arbeit wirkte dann aber Kleinschmidts Werk nach, mit dem er sich schon auf seinen Aufenthalt bei den Eskimos vorbereitet hatte.[20]

Nach seiner Rückkehr von der Baffin-Expedition erhielt er 1885 eine Stelle im Völkerkundemuseum in Berlin, auf der er mit Unterstützung von desser Leiter, dem Völkerkundler Adolf Bastian (1826 -1905) seine Habilitation in Geographie an der Friedrich-Wilhelm-Universität vorbereitete. Er beantragte sie 1886 kumulativ, indem er neben seiner bereits publizierten geographischen Arbeit zum Baffin-Land auch seine sprachlichen und ethnographischen Arbeiten zu den Eskimos vorlegte, bzw. als weitere Habilitationsschrift sein geplantes Buch über die Eskimos ankündigte (»de Eskimonibus«), das er 1888 in den USA publizierte. Der Antrag stieß allerdings auf den Widerstand des Fachvertreters Heinrich Kiepert (1818 - 1899), der als professioneller Kartograph mit einer philologischen Ausbildung (in Klassischer Philologie und auch der Orientalistik) in B. nur einen Reiseschriftsteller sah. Die ansonsten aber wohlwollende Fakultät fand als Kompromiß die Venia für "Physische Geographie", verlangte allerdings auch, daß die mündlichen Habilitationsleistungen nicht wie von B. vorgeschlagen nur arktisch-eskimoische Themen behandeln sollten. Im öffentlichen Vortrag trug B. entsprechend am 3.6.1886 »Über das Cañongebiet des Colorado« vor.

Aus seiner Arbeit am Völkerkundemuseum ergab sich B.s künftiger Forschungsschwerpunkt. Das Museum hatte eine Sammlung zu den Indianern der Nordwestküste Nordamerikas, zu denen es 1886 eine Ausstellung machte, zu der auch eine Gruppe von dazu nach Berlin verfrachteten Bella-Coola-Indianern gehörte. B. begann mit ihnen ethnographisch und jetzt auch explizit sprachwissenschaftlich zu arbeiten, als Vorbereitung seiner Feldforschung noch im gleichen Jahr in British Columbia, bei der er die gleichen Menschen wieder als Informanten nutzen konnte. In einer stupenden Arbeitsintensität publizierte er gleich ethnographische Überblicke, Textsammlungen, auch glossierte Texte, zuerst noch aus seinen Berliner Aufnahmen, dann aus der Feldforschung.[21] Diese Forschungen führte er mit Unterstützung der Britischen Anthropologischen Gesellschaft durch, die auch seine frühen Arbeiten publizierte.[22] Auf der Rückreise von dieser Expedition wurde ihm 1886 in New York in Verbindung mit einem von ihm dort eingereichten Aufsatz eine Mitarbeiterstelle an der Zeitschrift Science angeboten. Er blieb dort und arbeitete bei Science als Redakteur bis 1889, publizierte aber auch danach dort noch regelmäßig weiter.

Die wissenschaftsjournalistische Stelle in New York bedeutete für B. die entscheidende biographische Weichenstellung: er stellte gleich den Antrag auf Einwanderung in die USA (die Einbürgerung erfolgte 1892) , 1887 heirate er seine bis dahin heimliche Verlobte Marie Krackowizer, die in New York bei ihrer Familie lebte. Es folgte allerdings eine für ihn auch ökonomisch schwierige Zeit, in der er, wie auch später noch, durch seine z.T. dezidiert eingenommene »deutsche Position« auch mit fachinternen Konflikten zu kämpfen hatte, vor allem auch im Rahmen des Bureau of American Ethnology, in dessen Rahmen der zunächst arbeitete (s. Cole; auch Kroeber [Q] für Hinweise). 1890 erhielt er eine Stelle an der neuen Clark University in Worcester (Massachusetts), die (zusammen mit der Johns Hopkins Universität in Baltimore) eine Pionierrolle bei der Modernisierung der US-amerikanischen Universitäten nach deutschen Vorbild hatte. Dort baute er ein anthropometrisches Forschungsprogramm auf, das auch später noch Grundlage für seine Interventionen in die rassistische Einwanderungsdebatte bildete, indem er mit Schädelmessungen nachwies, daß die gängigen Stereotypen zu Rasse, Intelligenz, Leistung und dgl. physiologisch nicht zu begründen waren.[23] Als sich das ambitionierte Programm der Clark University als nicht realistisch erwies, verließ er mit einer Reihe weiterer Kollegen diese Universität und ging nach Chicago, wo er aber nur vorübergehende Beschäftigungen fand: 1882-1883 zur Vorbereitung der dortigen Weltausstellung[24], 1894-1895 am dortigen Field Museum.

Erst 1896 erhielt er eine feste Einstellung als Kurator am American Museum of Natural History in New York, die er bis 1905 innehatte. Seiner Entlassung ging ein Konflikt mit dem Präsidenten und wichtigsten Mäzen des Museums, Morris K. Jesup, voraus, den B. für ein Großprojekt hatte gewinnen können, die Erforschung der ethnologischen Gemeinsamkeiten der indigenen Völker Amerikas und denen auf der anderen Seite des Pazifiks. Nach Vorarbeiten seit 1897 wurde dieses Projekt unter B.s Leitung 1900 bis 1902 durchgeführt – die Publikation der Ergebnisse zog sich mit 11 Bänden bis 1930 hin, wurde aber nicht abgeschlossen, da die dazu nötigen Mittel nicht ausreichten (das war einer der zentralen Konfliktpunkte mit Jesup). B. selbst steuerte zu dem Projekt seine Untersuchungen an der Westküste bei; für die Forschung in Ostasien, vor allem in Sibirien, gewann er europäische Mitarbeiter, neben Russen (Bogoraz, Jochelson) vor allen Dingen Berthold Laufer.[25] B.s leitende Idee war es gewesen, nachzuweisen, daß die ethnographisch festzustellenden Gemeinsamkeiten durch eine Rückbesiedelung Sibiriens von Amerika aus zu erklären seien. Das ließ sich nicht belegen und dürfte dazu beigetragen haben, daß B. später eine heftige Abneigung gegen historische Rekonstruktionen in großen Zeiträumen hatte (siehe bei Sapir).

In diesen persönlich schwierigen Jahren entwickelte er seine wissenschaftliche Position und bemühte sich auch, sie wissenschaftstheoretisch zu formulieren (was er in späteren Arbeiten nicht mehr unternahm). Ausgangspunkt dafür ist die bei seinem Aufenthalt auf den Baffin-Inseln erfahrene Widerständigkeit einer Kultur (hier die der Inuit/Eskimos), die sich dem Forscher nur erschließt, wenn dieser sich auf sie einläßt und sie zu verstehen sucht (er spricht vom desire to understand the phenomena), statt in ihr nur die Bestätigung eines vorgefaßten Konzepts zu sehen.[26] Bezugspunkt ist ausdrücklich Alexander von Humboldts »Kosmographie«: Hinter der wissenschaftlichen Arbeit steht für ihn das »aesthetical desire to bring the confusion of form and species into a system« (ebd. S. 139). Dem entspricht, daß er der evolutionären Sichtweise der damaligen Ethnologie eine radikale Position gegenüberstellte, die nur mit einer anthropologischen Konstante operierte, die alle Menschen gleich sein läßt. Zu analysieren ist, was die Menschen unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen aus ihren grundsätzlich gleichen Anlagen machen – kulturell und eben auch sprachlich: »The human mind is so formed that it invents them (die sog. »universal ideas«, U.M.) spontaneously or accepts them whenever they are offered to it«.[27] Daraus folgt für ihn, daß »the comparative method […] has been remarkably barren of definite results, and I believe it will not become fruitful until we renounce the vain endeavour to construct a uniform systematic history of the evolution of culture«.[28] Systematisch rollt er die Aufgaben, die sich der ethnologischen Forschung in Amerika stellen, vor der Folie der theoretischen Diskussionen auf, die er aus seiner akademischen Ausbildung in Deutschland, vor allem auch aus der Berliner Zeit, verfügbar hatte: Für diese war die Spannung zwischen der Bestimmung der anthropologischen Ressourcen (die in ihrer rassischen Besonderung gerade auch im innerjüdischen Diskurs fokussiert wurden) und der Analyse von deren kulturellen Ausbau konstitutiv. Das machte seine besondere Position in der amerikanischen Diskussion aus. Mit diesen Prämissen entwickelte er dort ein Forschungsprogramm, mit wissenschaftlichen Möglichkeiten, die er auch bei einer akademisch erfolgreichen Laufbahn in Deutschland nicht gehabt hätte.[29]

Vor dieser Folie unternimmt er es, sein jetzt enger umschriebenes Feld der Ethnologie methodisch aufzurollen, nun in einer Frontstellung gegen »omnikomparatistische« Kulturtheorien, die beobachtbare Lebensformen einem homogenen Kulturbegriff subsumieren, der nur skalare Abstufungen enthält – trivialisiert und aus dem kritischen Berliner (deutschen) Diskussionskontext herausgelöst sah B. darin vor allem eine wissenschaftliche Legitimierung von Rassismus. Er entwickelt dagegen eine funktionalistische Analyse, die kulturelle Formen als Reaktion auf die Lebensumstände analysiert und insofern auch nur als situierte Kultur in einem lokalen Horizont zu analysieren erlaubt, ggf. bei einem bestimmten Stamm. Das Forschungsprogramm zielte nicht auf den Charakter der Indianer (im Gegensatz zu den Weißen), wie es damals in der Völkerkunde üblich war, sondern auf die Analyse der bestimmten sprachlichen kulturellen Formen, die die verschiedenen Indianerstämme in Nordamerika ausgebildet haben und ihnen ihr jeweils besonderes kulturelles Gepräge geben. Dem stellt er die Unmöglichkeit gegenüber, kulturelle Lebensformen eindeutig mit biologischen oder auch Umweltfaktoren zu korrelieren, und entwickelte ein radikal »induktives» Forschungsprogramm, das als anthropologische Konstante nur die Fähigkeit des Menschen in Rechnung stellt, auf gegebene Lebensbedingungen produktiv, und d. h. kulturbildend, zu reagieren.

In Auseinandersetzung mit der bis dahin vor allem von Amateuren betriebenen ethnologischen Forschung verlangt er deren Professionalisierung.[30] Da der sprachliche Zugang zur Kultur grundlegend ist, verlangte er vor allem eine sprachwissenschaftliche Ausbildung der Forscher. Die Konflikte mit der Szene der damals etablierten Volkskundler waren damit vorgezeichnet. Die Voraussetzungen für die Umsetzung seines Programms erhielt er 1899 mit einer Professur an der Columbia University in New York.[31] Er lehrte dort als ordentlicher Professor bis zu seiner Emeritierung 1937 – beauftragt mit dem Pflichtprogramm der Ausbildung, insbesondere auch Statistikkursen, offensichtlich ohne große Begeisterung und ohne großen Erfolg im Grundstudium, während er gleichzeitig zu einer Schlüsselfigur in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses von Sprachwissenschaftlern wurde, die sich mit den amerindischen Sprachen befaßten.

Zum Schwerpunkt seiner Arbeiten wurde jetzt eindeutig die sprachwissenschaftlich-ethnologische Untersuchung der Indianersprachen, zu denen er in rascher Folge grammatische Analysen und vor allen Dingen auch Textsammlungen vorlegte. Zunächst vor allem zu seinem bevorzugten Untersuchungsfeld an der pazifischen Westküste, und zwar gleich eine Fülle von nicht (eng) verwandten Sprachen: Tsimschian, Haida, athapaskische Sprachen (Tlingit, Tśet´saut), Wakashan-Sprachen (Bella Bella, Kwakiutl), Salisch-Sprachen (Chehalis, Shuswap), Chinook-Sprachen (Nieder-Chinook, Kathlamat), von denen ihn vor allem das südliche Kwakiutl lebenslang beschäftigte.[32] Dadurch wurde er die große Autorität in der sprachlichen Erforschung der nordamerikanischen Indianersprachen: In dem gegenwärtig autoritativem Handbuch I. Goddard (Hg.), »Languages«[33] wird die Forschungsgeschichte in zwei Phasen zerlegt: »The description of the native languages of North America before Boas« und »...Boas and after«. Die Grundlagen dazu legte er selbst mit seinem »Handbook of American Indian Languages«, von dem er 1911 den ersten Teil herausgab.[34] Für diesen verfaßte er selbst mehrere deskriptive Abrisse zu Sprachen der kanadischen Westküste: Tsimshian,[35] 283 – 422, Kwakiutl, 423 – 558, Chinook, 559 – 678, sowie auch den Abriß einer Sprache des mittleren Westens (gemeinsam mit J. R. Swanton): Siouisch (Dakota), 875 – 966. In dem systematischen Einleitungsteil (1 – 84) formulierte er ein rigoroses Programm für die deskriptive Arbeit zugleich mit einem Abriß der Sprachtypologie, der die bei diesen Sprachen anzutreffenden strukturalen Besonderheiten systematisch mit denen der klassischen Schulsprachen aber auch anders gebauten Sprachen anderswo in der Welt (insbesondere in Südafrika) vergleicht. Mit deutlicher Orientierung an der charakterisierenden Typologie Steinthals skizzierte er hier »The essential psychological characteristics of American Languages« (1911: 75) als Modell für die geplanten weiteren Darstellungen.

Seine Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur auf diesem Gebiet macht deutlich, in welcher Weise er seine naturwissenschaftliche Ausbildung einbringt: Nicht in einer naturalistischen Reduktion sprachlicher Erscheinung auf Naturhaftes (i. S. der damals modischen Variante eines „naturgesetzlichen“ Materialismus), sondern in einem methodisch rigoros kontrollierten Umgang mit den Daten, bei dem die phonetische Beschreibung einen entsprechend großen Platz einnimmt. Als naturwissenschaftlicher Außenseiter hatte er nicht mit den tradierten Begriffsschematismen der Profession zu kämpfen und konnte so z.B. die komplexen Silbenstrukturen von Sprachen wie dem Bella Coola (Salisch) analysieren, ohne sie auf das schulische Silbenmodell zu trimmen – aber aus dem gleichen Grunde hatte er Probleme, diese Analysen in (europäischen) sprachwissenschaftlichen Zeitschriften zu publizieren, deren Herausgeber ihn mit professionellem Misstrauen betrachteten.[36]

Das führte er immer wieder exemplarisch am Beispiel der Phonologie vor, indem er phonologische Strukturen als Selektion unter den nahezu unbegrenzten phonetischen Möglichkeiten aufzeigte.[37] Die Auseinandersetzung mit der phonetischen Beschreibung der Indianersprachen war ohnehin der kritische Punkt für seine sprachwissenschaftliche Wende gewesen: Die Beobachtung seiner eigenen inkonsistenten Notationen schon bei seiner ersten Eskimo-Studie war für ihn Anlaß dazu, eine methodische Kontrolle zu suchen, wobei wieder seine frühen psychophysikalischen Arbeiten mit der Annahme von Wahrnehmungsfiltern (»Schwellenwerten« der Wahrnehmung) den Rahmen bilden.[38] In einer solchen Konzeptualisierung waren eben auch Lautstrukturen nicht »objektiv« von einem physikalischen Verständnis der Laute her zu explizieren – und die »Schwellenwerte« für die Wahrnehmung ließen auch erwarten, daß deren Konsistenz nur relativ zu definieren ist. So ist für ihn eine phonologische Analyse notwendig, die ein »phonetisches System« derartigen Naturalisierungen gegenüber stellt, die vorgeblich Defizite oder auch Kuriositäten registrieren.[39]

Praktische Konsequenzen hatten seine methodischen Überlegungen bei den Vorgaben zu einer umfassenden Dokumentation der Indianersprachen.[40] Die theoretische Reflexion war bei B. auf seine praktischen Ziele ausgerichtet, ein amerikanisches Sprachmuseum zu etablieren: Sie diente ihm zur Abklärung eines praktischen Notationssystems, das einerseits der großen Bandbreite phonetischer Differenzierungen bei diesen Sprachen angemessen ist, andererseits aber auch nicht überkomplex sein darf, um für die meisten der Praktiker, die ja nur angelernte Sprachwissenschaftler waren, nutzbar zu sein (hier lag einer der Konflikte mit Sapir, s. bei diesem); nicht zuletzt durfte es typographisch keine Probleme bzw. keine großen Kosten verursachen.

Für seine Analyse der grammatischen Strukturen ist letztlich deren semantische Interpretation leitend, was ihn aber auch nötigt, sich von (nicht nur damals üblichen) »Weltbild«-Spekulationen abzugrenzen. Auch hier konnte er auf die Berliner Diskussion zurückgreifen, insbesondere auf H. Steinthal. Über diesen vermittelt sind auch die kognitiven Prämissen in B.s Sprachreflexion: Einerseits das aus der antiken Philosophie stammende Verständnis von Sprache als Voraussetzung für die Artikulation von Gedanken, andererseits davon zu unterscheiden die einzelsprachspezifischen Strukturen, in denen sprechen und denken gelernt wird, die mit diesem aber nicht gleichzusetzen sind. Diese Strukturen, also die der beobachtbaren Sprachen, sind im engeren Sinne Gegenstand der grammatischen Beschreibung, die den Eigensinn jeder Sprache zu wahren hat, also das, was bei Steinthal (im Anschluß an Humboldt) die innere Form jeder Sprache heißt – ein Terminus, den auch B. verwendet, um eine Strukturanalyse zu bezeichnen. Für ihn folgt gewissermaßen aus der Ökonomie einer kulturellen Praxis, die an symbolische Operationen gebunden ist, daß mit den Symbolisierungen Bündelungen kognitiver Zusammenhänge verbunden sind, die zweifellos kulturspezifische Orientierungen vorgeben. Aber diese sind für ihn keine Schranken der kulturellen Praxis, sondern allenfalls Habitualisierungen, die gegebenenfalls überwunden werden können. Seine naturwissenschaftliche Herangehensweise zeigt sich in der versuchten Umsetzung in einen praktischen, experimentellen Beweis: er schafft mit seinen indianischen Gewährsleuten Kontexte, in denen sie Ungewohntes sprachlich artikulieren müssen, unter Umständen auch in ihren sprichwörtlich konkretistischen Sprachen[41] kontextfreie Abstraktionen zu Klassen vornehmen müssen - wozu sie sich auch fähig erweisen.

Zu dieser Art von angewandter kultureller Experimentalwissenschaft gehört bei ihm insbesondere auch die Nutzung bzw. Ausbildung der Gewährsleute zu schriftkulturellen Praktiken, in denen er eine vom Beobachter unabhängige systematische Aufbereitung kultureller Strukturen sieht (in diesem Sinne stützte er sich besonders auf die damals schon von den Eskimos praktizierten schriftkulturellen Aktivitäten, s. S. 65).[42] Das Erschließen (bzw. die Nutzung) von indigenem Expertenwissen wurde so Teil des Forschungsdesigns. Dazu gehörte auch, daß B. persönlich eine oft lebenslange enge Beziehung zu seinen Gewährsleuten unterhielt, die dabei zu seinen Mitarbeitern wurden, wie vor allem sein Kwakiutl-Gewährsmann George Hunt.[43] Bei seinen Arbeiten zum Dakota war Ellen Deloria seine primäre Gewährsfrau, mit der er nicht nur gemeinsam eine Grammatik publizierte, sondern deren Urteil für ihn letztlich maßgeblich blieb – auch wenn dadurch scheinbare Inkonsistenzen in der Darstellung auftraten.[44] Praktisch war dieser kooperative Umgang mit seinen Gewährsleuten allerdings auch die Reaktion auf sein Leiden an der Feldforschung, an den unzuverlässigen Informanten, die betrunken waren, stanken und auch in anderer Hinsicht seinen Abscheu auslösten, genauso wie auch die Begrenztheit der Daten, die er durch Diktate von diesen gewann, s. durchgängig so in ausführlichen anekdotischen Beschreibungen in seinen Briefen und Tagebüchern. Der Respekt vor den untersuchten Kulturen verlängerte sich für B. nicht distributiv auf alle von deren Angehörigen.[45]

In dieser Weise ging er bei der Analyse der grammatischen Strukturen über die traditionell am Wortbegriff der klassischen Schulsprachen abgelesenen typologischen Kategorien hinaus: Auf einer allgemeinen Ebene so in der »Einleitung« zum Handbuch (1911), wo er sich mit der Schlegelschen Klassifikation[46] auseinandersetzte, konkreter dann in seinen Sprachbeschreibungen.[47] So löste er z. B. in der genannten Dakotagrammatik die Wortartenprobleme einerseits semantisch, andererseits syntaktisch auf. »Nominal« sind für ihn dort stativ zu interpretierende Ausdrücke (die mit morphologischen Markierungen in dynamische, also »verbale« überführt werden können), wobei die Flexibilität der Syntax durch das reiche Inventar an morphologischen Markierungen gegeben ist (stativ markierte Verbformen entsprechen so Adjektiven in den europäischen Sprachen). Dem steht die Markierung eines Satzes (in Hinblick auf die Interpretation als Äußerung) gegenüber, als Form, eine Proposition zu strukturieren. Dabei kann jeder noch so komplexe Ausdruck in diesem Sinne nominalisiert werden und als Argument eines Prädikats behandelt werden. Gerade weil in diesen Arbeiten keine spekulative Verallgemeinerung zu finden ist, sind sie für die aktuelle typologische Diskussion, bei der die Wortartenfrage nichts an Aktualität eingebüßt hat, so aufschlußreich.

Die typologisch zentrale Frage ist für ihn das sprachspezifische Verhältnis von Lexikalisierung gegenüber Grammatisierung, deren jeweils komplementär austariertes Verhältnis Sprachtypen definiert. Jenseits solcher typologischer Differenzen ist demgegenüber die syntaktische Struktur des Satzes grundlegend, mit den Grundfunktionen der referenziellen Benennung (»denomination«) und der Prädikation, die in den von ihm hier beschriebenen Sprachen nur sehr schwach an lexikalische Wortarten gebunden sind. Wo er Anhaltspunkte für eine Differenzierung in Nomen und Verb sieht, sind diese nicht durch onomasiologische Kriterien definiert (letztlich denen der didaktischen Elementargrammatik, die »Dingwörter« von »Tu- bzw. Zeitwörtern« unterscheidet), sondern durch syntaktische Beschränkungen: entweder direkt denen der morphologischen Struktur, wo er Anhaltspunkte im Tsimshian in Ableitungsmechanismen für denominale gegenüber deverbalen Formen sieht (»Handbook« 1911, S. 296) bzw. generell in kombinatorischen Beschränkungen der Syntax (etwa zum Kwakiutl, ebd. S. 443). Das typologische Grundproblem ist für ihn die Frage nach der grammatischen Möglichkeit, Wörter in der Satzstruktur zu isolieren (s. in diesem Sinne seine Diskussion des Chinook, ebd. S. 571 – 573, das Ansatzpunkte dazu nur in der Differenzierung der syntaktischen Funktionen, nicht aber der Wortbildung aufweist).

»[Grammar] determines those aspects of each experience that must be expressed“ schreibt er in seinem einflußreichen Beitrag »Language« zu dem von ihm herausgegebenen Band »General anthropology«.[48] Diese Orientierung ist gerade heute, angesichts der modischen Diskussion um die Grammatikalisierung, eine wichtige Kontrolle gegen die drohende Atomisierung von »Grammatikalisierungspfaden«, die den sprachtypologischen Horizont aus dem Blick verliert, der für B. im Vordergrund stand. Grammatisierte Strukturen verselbständigen sich gegenüber transparenten Deutungen, sie sind auch da obligatorisch, wo sie semantisch nicht motivierbar sind (B. selbst bringt als Beispiel, daß in Sprachen wie dem Deutschen Tempusmarkierungen auch da gemacht werden müssen, wo Zeitbestimmungen keinen Sinn machen wie z.B. bei Die Erde ist rund) – und auf der anderen Seite kann in allen Sprachen, unabhängig von der grammatisierten Struktur, alles ausgedrückt werden: Zeitbestimmungen können eben auch ausgedrückt werden, wenn kein Tempussystem grammatisiert ist (dann aber eben mit nichtgrammatischen, z.B. lexikalischen Mitteln).[49] Statt die kulturellen Schranken der sprachlichen Formatierung zu betonen, wie es bei der »Weltbild«-Diskussion üblich ist, die sich fälschlich oft sogar auf B. beruft, betont er vielmehr die kulturelle Orientierungsleistung der jeweiligen Sprachstrukturen. Das gilt bei ihm vor allem auch für die Namensysteme, die bei den »polysynthetischen« amerindischen Sprachen transparent sind, wie er seit seinen frühen Studien zum Eskimo wiederholt aufgezeigt hat, so z.B. auch in einem Werk zu den geographischen Namen der Kwakiutl-Indianer (mit entsprechendem kartographischen Teil).[50]

So antizipierte B. die derzeitige typologische Diskussion (in gewisser Weise auch das Prinzipien- und Parametermodell), wenn er die Struktur einer bestimmten Sprache als eine Selektion aus dem prinzipiell möglichen Formeninventar begreift. Gleiches gilt auch für die grammatischen Strukturen, die im weiteren Sinne kulturelle Erfahrungen »formatieren«. Dabei ist deutlich, daß B. weit entfernt von allen spekulativen Überlegungen zu einer »Universalgrammatik« ist. Für ihn steht das im Vordergrund, was den Menschen auszeichnet: Die Möglichkeit, nahezu unbegrenzt unterschiedliche kulturelle (sprachliche) Strukturen auszubilden, deren prinzipielle Gleichwertigkeit es zu akzeptieren gilt. Seiner mathematischen Schulung hat er es wohl zu verdanken, daß er gegen die bis heute endemische Konfusion bei der Diskussion um Universalien, etwa der Wortartenklassifikation, immun war. Nomen und Verb sind für ihn grammatische Kategorien, und als solche universal im Sinne der Mathematik (s. hier bei Husserl). Das ist bei ihm strikt getrennt von der Frage, in welcher Form diese grammatischen Kategorien die einzelsprachlichen Grammatiksysteme artikulieren. Sprachen wie das Kwakiutl artikulieren mit diesen Kategorien gerade eben nicht das Lexikon und auch nicht die Wortbildung der Wortstämme, wohl aber artikulieren sie die Wortformen mit einer komplexen Morphologie, die referierende Terme von prädizierenden relationalen Ausdrücken unterscheidet (s. deutlich schon bei seinen frühen Skizzen des Tsimshian, Kwakiutl und Chinook).[51]

Bei dem Versuch, die vielfältigen Gruppierungen dieser Sprachen in den Griff zu bekommen und Grundlagen für ihre Klassifizierung zu finden, erweiterte er seinen sprachlichen Horizont und untersuchte auch Sprachen in den anderen Regionen der USA: Im Osten (Irokesisch), im mittleren Westen (Dakota, Ponka), im Süden und Südwesten (Keresa) u.a., z.T. auch als Nebenprodukte seiner sonstigen anthropologischen Tätigkeiten, z.B. als Leiter einer archäologischen Expedition 1911/1912 in Mexiko.[52] Ohnehin wurde Mexiko (nicht nur mit seinen Sprachen) zu einem weiteren seiner Arbeitsschwerpunkte, wo er u.a. auch am Aufbau einer internationalen Universität beteiligt war, bis die revolutionären Auseinandersetzungen dort den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Arbeit ein Ende setzten. Eine wichtige Rolle spielte dabei seine (oft schwierige) Kooperation mit dort tätigen anderen Ethnologen, vor allem C. Nuttall.[53]

Die Klassifikationsprobleme der Indianersprachen ergaben sich durch die verwirrende Vielheit von Kleingruppen mit sprachlich fließenden Übergängen. Zunächst erprobte er das Klassifikationsschema der vergleichenden Sprachwissenschaft nach dem Modell der indoeuropäischen Sprachen auf der Grundlage einer lautgesetzlichen Rekonstruktion und rekonstruierte in diesem Sinne Großfamilien wie das Proto-Algonquin, das Proto-Uto-Aztekische u.a. In Konsequenz seiner frühen grundsätzlichen Überlegungen (s. o. zu seinem Aufsatz von 1896) kam er zu dem Ergebnis, daß das genetische Ausgliederungsmodell der indoeuropäischen Sprachwissenschaft dem Untersuchungsgegenstand der amerindischen Sprachen nicht angemessen ist. Sein Programm zur Jesup-Expedition war noch im Horizont historisch-genetischen Denkens definiert, das nach den vorgeschichtlichen Zusammenhängen zwischen den Sprachen und Kulturen Nordamerikas und Ostasiens suchte. Von solchen Fragestellungen, die mit beobachtbaren kulturellen Praxen nicht zu verbinden waren, löste er sich später radikal, z.T. auch in scharfer Frontstellung zu seinem Schüler Sapir, der gerade hier die Pointe sprachwissenschaftlicher Forschung sah (s. bei diesem). Für B. war offensichtlich, daß die Denkfiguren keinen Sinn machen, die in der romantischen Tradition der europäischen Sprachwissenschaft für die Rekonstruktionsansätze bestimmend waren (und es überwiegend auch heute noch sind): die Vorstellung von einer organischen Sprache, die in der Tradierung über die Generationen hinweg konstant bleibt oder sich gewissermaßen genetisch (in einem »Stammbaum«) differenziert. Dieses Denkmodell ist zu offensichtlich an retardierenden Formen der Sprachbewahrung abgelesen, die sich in einer staatsförmigen Organisation und vor allem dann auch in einer an das religiöse System gebundenen schriftlichen Überlieferung festmachen lassen. Derartige Randbedingungen fehlen bei Vergesellschaftungsformen, wie sie die kleinen Stammesverbände der eingeborenen Bevölkerung Amerikas zumeist charakterisieren, die sich als Gruppen von oft nur einigen hundert Menschen in großen Räumen bewegten und sich vor allem auch über den Raub von Frauen aus Nachbarstämmen reproduzierten. Das hat in Hinblick auf die sprachliche Sozialisation ihrer Kinder zwangsläufig eine »Hybridisierung« ihrer Sprachen (er verwendet den Terminus öfter) zur Folge, mit der die tradierten sprachlichen Verhältnisse schlagartig auf den Kopf gestellt werden konnten. Was für die vergleichende Sprachwissenschaft in Europa der Ausnahmefall war: Lehnbildungen, etwa kulturelle »Wanderwörter«, ist hier der Normalfall, wo sich nicht nur das Lexikon, sondern auch Lautsystem, Morphologie und Syntax im Sinne solcher osmotischer Verhältnisse änderten. Insbesondere der Wortschatz erweist sich dabei als relativ plastisch, so daß die Rekonstruktion von sprachlichen Verwandtschaftsverhältnissen eher auf grammatische Übereinstimmungen zu gründen ist als auf die etymologische Rekonstruktion des Lexikons, die den Kern der indo-europäischen Sprachwissenschaft bildet.

Insofern ist B. einer der Gründerväter der modernen Arealtypologie, deren Kategorien er nicht nur für die amerikanischen Verhältnisse entwickelte, sondern auch auf die europäischen Verhältnisse rückprojizierte, z.B. den europäischen Sprachbund.[54] Ironischerweise bestimmte er damit allerdings nicht die von ihm ansonsten maßgeblich angestoßene sprachwissenschaftliche Forschung zu den Indianersprachen in den USA, die über die deskriptive Arbeit hinaus in der Nachfolge von Sapir weitgehend von genetischen (rekonstruktiven) Fragen bestimmt wurde.[55] Noch sehr wenig aufgearbeitet sind seine Beobachtungen in diesem Zusammenhang, mit denen er typologische Schranken für Entlehnungsprozesse behandelt, etwa die große Durchlässigkeit für Fremdwortentlehnungen in den europäischen Sprachen (deutlich an dem großen Umfang des lateinischen Erbes im Wortschatz aller europäischen Sprachen), gegenüber der Blockierung gegen solche Wortentlehnungen in den amerindischen Sprachen, die aufgrund des syntaktischen Baus ihrer »Wörter« gezwungen sind, solche Lehnbegriffe mit eigenen morpho-syntaktischen Ressourcen zu replizieren.[56]

Bei seinen methodischen Überlegungen griff er auf europäische Traditionen zurück, insbesondere auf die in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. aufkommenden Ansätze von Diffusionstheoretikern, wobei für ihn vor allem die politische Geographie von Ratzel orientierend war;[57] er konnte sich in diesem Sinne aber auch auf die methodischen Vorgaben von Hugo Schuchardt stützen. Seine naturwissenschaftliche Haltung machte ihn gegenüber der Versuchung zur Romantisierung der Indianersprachen immun: Er untersuchte in gleicher Weise den Einfluß der Kolonialsprachen, etwa des Spanische, bei den mittelamerikanischen Sprachen.[58] Das schon erwähnte »Handbook of American Indian Languages« (1911) war das Ergebnis seiner Neuorientierung.

Andererseits folgte er, gerade weil er in methodischer Hinsicht Autodidakt war, in anderer Hinsicht selbstverständlich dem Modell der großen Philologien, das er für die »primitiven« Sprachen zur Geltung bringen wollte.[59] Insofern war für ihn die sprachwissenschaftliche Methode in gewisser Weise nur instrumentell bei der Erforschung von Kulturleistungen, weshalb er analog zu der üblichen philologischen Orientierung auf die großen Nationalliteraturen in der Bearbeitung und Dokumentation der »mündlichen Literatur« dieser Sprachgemeinschaften eine vorrangige Aufgabe sah, wie er es selbst in seinen großen Textsammlungen vorführte. Im Sinne seines kulturanalytischen Forschungsprogramms waren die beobachtbaren Sprachformen selbstverständlich nicht homogen: zur Analyse gehörte es, den darin unterschiedlich weit getriebenen Ausbau herauszupräparieren. Modellhaft war er das schon mit seiner Arbeit am Tsimshian angegangen, zu dem er eine ganze Reihe von Textsammlungen publiziert hatte, insbesondere den Band »Tsimshian texts«,[60] bevor er seine grammatische Rekonstruktion publizierte, s.o. zum ersten Band des Handbuchs (1911).

Nicht zuletzt in Reaktion auf die andere Ausrichtung der Forschung bei einigen seiner Schüler hat er später sein Forschungsprogramm systematisch vorgestellt, am ausführlichsten wohl in »Primitive Art«:[61] In einer eindrucksvollen Zusammenstellung von kulturellen Ausdrucksformen aus aller Welt unternahm er es, die dort wirksamen Strukturzwänge deutlich zu machen, durch die sich die Form verselbständigt, von gegenständlichen Darstellungen hin zu abstrakten Ornamenten, ausführlich so mit Beispielen vor allem der Kwakiutl (so in einer Synopse S. 202ff.), mit Parallelen, aber auch Hinweisen auf die dort anders gelagerten Verhältnisse im Sprachlichen, z.B. bei Metaphern (S. 322ff.), generell Formen der Dichtung, oft in der Bindung an musikalische Darbietungen. Das Gegenstück zu solchen Strukturbildungen sind die menschlichen (kognitiven) Fähigkeiten; insofern können diese überall in der Welt auftreten und sind nicht an Ethnien bzw. Rassen gebunden (z.B. S. 339) – sie sind insofern auch nicht genetisch zurückzuverfolgen, da sie zwar über die Generationen weitergegeben werden können, genauso aber im Kontakt zwischen Gemeinschaften;[62] s. auch seine Detailstudie »Metaphorical expressions in the language of the Kwakiutl Indians«.[63]

Die Radikalität, in der B. seine Position entwickelte, löste eine heftige Kontroverse aus, publizistisch ausgetragen vor allem von seinem ersten Doktoranden Kroeber.[64] Kroeber ging so weit, B. vorzuwerfen, daß er keinerlei Stilbegriff habe und blind für historische Fragestellungen sei, so in einer Rezension des Buchs von 1927[65] und ausführlicher noch in »History and Science in Anthropology«.[66] B. replizierte scharf in »History and Science in Anthropology: A Reply«.[67] In dieser Kontroverse wird B.s Wissenschaftsverständnis sehr deutlich: Für ihn liefert eine Rekonstruktion nach dem Modell der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft keinerlei neue kulturelle Daten, die eine kulturelle Interpretation (in diesem Sinne also eben auch eine Stilanalyse) herausforderten – sie sind nichts anderes als instrumentelle Techniken der Arbeit. Stil ist für B. eine spezifische Ausprägung kultureller Praxis unter den konkret zu analysierenden historischen Bedingungen. In diesem Sinne ist bei ihm auch die in seinen frühen Arbeiten benutzte Selbstbezeichnung als historisch zu verstehen: Im Anschluß an den ihm aus der Schule vertrauten griechischen Terminus historēo im Sinne von »beobachten, beschreiben« (wie insbes. bei Herodot).

B. operierte bei seinen Analysen durchweg mit anthropologischen Konstanten. Schon in seinen frühen Aufsätzen ist für ihn das Prinzip der Gestaltschließung als Formsetzung die grundlegende Ressource, mit der sich alle nicht-biologischen Ausprägungen bewerkstelligen lassen. Dieses Prinzip prägt auch die ungleichzeitigen Entwicklungsverläufe bei der Sprache, die in der kulturellen Praxis nicht verbraucht wird und insofern eine sehr viel größere Festigkeit hat, als die viel flüssigeren und für Kontakte durchlässigeren Ausprägungen kultureller Praxis sonst. Es sind diese analytischen Prämissen, mit denen B. an der wissenschaftstheoretischen Neubegründung der Geisteswissenschaften um die Jahrhundertwende partizipierte – die ihn zu einem der Gründerväter der strukturalen Sprachwissenschaft machten.

Der Horizont ist die funktionale Sicht der Kosmographie – der methodische Zugang, die formale Modellierung ist instrumentell für das Ziel des Verstehens des anderen. Sprache ist nicht in den formalen Modellierungen der Beschreibung zu fassen. Diese sind allerdings ein unverzichtbares Moment auf dem Weg dahin – nicht zuletzt im Kampf gegen die Amateurforscher. Hier waren die Fronten auch nicht nur methodisch definiert: Vielmehr werden die fachlichen Auseinandersetzungen durch gesellschaftliche Frontstellungen überschrieben, und nicht zuletzt: sie legitimieren politische Positionen im Feld rassistischer Konfrontationen. B. war sensibilisiert für den endemischen Rassismus gerade in den Kulturwissenschaften, den er nicht zuletzt hinter den paternalistischen Attitüden sah. Der Übergang zu Interventionen in die öffentliche Debatte ist bei ihm, der auch ein ausgiebiger Leserbriefschreiber für die großen Tageszeitungen war, fließend. 1911 publizierte er so eine umfassende Auseinandersetzung mit dem rassistischen Diskurs: »The Mind of primitive man«.[68] Hier formuliert er besonders in Kap. 8 »Race, Language and Culture« die Prämissen, die er in seinen früheren Aufsätzen schon entwickelt hatte (s. o.): Die genetischen Grundvoraussetzungen des Menschen bilden sich in unterschiedlichen Formen aus, wobei die rassischen (Körperbau u. dgl.) Formen andere Entwicklungsverläufe nehmen als sprachliche und kulturelle. Das zeigt sich eben auch in deren räumlich inkongruenter Verteilung, wobei auch Rasse, Sprache und Kultur keine holistischen Größen sind, sondern in ihren jeweiligen Bestandteilen auch dissoziierte Entwicklungsverläufe zeigen können, bei der Sprache insbesondere in den unabhängig variierenden Verhältnissen im Lexikon, in der Grammatik und in der Lautstruktur. Diese Entwicklungen verlaufen in arealen Bündelungen gewissermaßen quer zu den eventuellen Verknüpfungen zu den anderen Ausprägungen. Gegenteilige Auffassungen lassen sich, so B., immer als Vorurteile aufzeigen – und darin sah er nicht zuletzt das Ziel dieses Buches.

Gegen die Tradition von Wörtersammlungen (Glossaren) stellte er die Prämisse, daß eine Sprache da greifbar wird, wo sie von ihren Sprechern praktiziert wird – also in zusammenhängenden Äußerungen. Vorrangiges Ziel des Sprachmuseums war es daher, die verschiedenen Sprachen in Textsammlungen zu dokumentieren, für die die grammatischen Abrisse die Schlüssel bieten sollten – gegen die verballhornende Missionarstradition, die konstruierte Sätze übersetzen ließ, als Anhang zu Formeninventaren, die auf die Paradigmen der lateinischen Schulgrammatik gepfropft waren. Diese Darstellungsverfahren dienten in B.s Sicht nur dazu, einen Beleg für die vorgebliche Primitivität der Indianerkulturen zu fabrizieren. Vor allem hier lassen sich die Anregungen zurückverfolgen, die B. von seinem ersten Gewährsmann für grammatische Analysen, Samuel Kleinschmidt, erhalten hatte.[69] Auch in dieser Hinsicht war er wohl später seinen frühen Inuktitut-Aufzeichnungen gegenüber skeptisch geworden (s.o.).

Indirekt hat B. so das umgesetzt, was auch der andere Humboldt (Wilhelm) gefordert hatte: »die eigentliche Sprache […] kann nur in der verbundenen Rede wahrgenommen und geahndet (geahnt, U.M.) werden«.[70] Für Humboldt nicht anders als für B. war der grammatische Ausgangspunkt der Bau der Äußerungen, also die Syntax. Mit dieser (durchaus »europäischen«) Vorgabe war Sprachanalyse nur als Bestandteil einer umfassenden Kulturanalyse durchzuführen. In diesem Sinne begründete B. die spezifische Tradition der US-amerikanischen Sprachwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jhdts., die nicht nur formal im Rahmen der »Anthropologie« (im deutschen Kontext mit Ethnologie wiederzugeben) betrieben wurde, sondern bei der es für die amerikanischen Sprachwissenschaftler eine professionelle Selbstverständlichkeit war (und oft noch ist), neben der Sprachanalyse im engeren Sinne systematisch auch eine ethnologische Analyse zu betreiben, umfassende Textsammlungen zu publizieren und vor allen Dingen über einen langen Zeitraum, oft lebenslang, in einem engen Kontakt mit ihren Gewährsleuten zu arbeiten, die sie dabei nicht selten auch wissenschaftlich so ausbildeten, so daß diese selbst wissenschaftlich tätig werden konnten. In diesem Sinne begründete B. 1917 das für die neue Generation professioneller, d.h. nicht primär philologischer Sprachwissenschaftler paradigmatische International Journal of American Linguists.[71]

Methodologische Probleme der Feldforschung nehmen in seinem Werk einen zentralen Platz ein, wobei er zeigte, daß ein nicht-professionelles Vorgehen zur Denunziation der Erforschten führt, wie es sich in Stereotypen der Fachliteratur nachweisen läßt. Das gilt etwa für die Vorstellung eines phonetischen Naturalismus, der viele Beschreibungen leitet, der aber oft genug nur die Projektion von lautlichen Gewohnheiten des Beschreibenden kaschiert, s.o. zu seiner Proto-Phonologie. In der gleichen Weise kritisiert er die übliche Beschreibung so genannter »primitiver Sprachen«, bei der die Forscher von ihnen selbst konstruierte »primitive Sätze« übersetzen lassen, um dann zu konstatieren, daß die so erhobenen Daten eine »primitive Sprache« charakterisieren. Dem stellt er die Anforderung gegenüber, systematisch die Kultur in ihrem Zusammenhang zu erforschen und dabei die Sprachstrukturen von dem her zu bestimmen, was mit ihnen in einer solchen Kultur artikulierbar ist. Hier wurde B. zur Leitfigur für eine ganze Generation von Forschern, die sich mit ihrer Arbeit gewissermaßen stellvertretend für die im kapitalistischen Weltsystem unterdrückten Völker engagieren (vgl. analog, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, Steinitz).[72]

Zielsetzung der von B. versuchten arealen Gliederung der Indianersprachen ist die Rekonstruktion der Dynamiken, mit denen sich Sprachsysteme als kulturelle Strukturen stabilisieren. Sprachsysteme sind immer Systeme der Klassifikation von Erfahrungen; sie sind daher in ihrer inneren Form zu rekonstruieren (auch hier zeigt sich der Strukturalist B. in der europäischen, spezifisch deutschen sprachwissenschaftlichen Tradition).[73] Dabei kommt i. S. von B.s naturwissenschaftlicher Orientierung der Grammatik (neben der überschaubareren Phonologie) eine Schlüsselstellung zu: Das Lexikon ist bewußtseinsnäher und so eben auch durch »sekundäre Reaktionen« umzugestalten, während sich die Grammatik hinter dem Rücken einspielt, daher ist eben (s.o.) Grammatisierung der Schlüsselbegriff seiner Analyse.

 

In dieser Hinsicht bildete er den Gegenpol zu der von seinem Schüler Sapir eingeschlagenen Forschungsstrategie, was in den fachgeschichtlichen Darstellungen in Hinblick auf deren Dominanz in der jüngeren amerikanischen Forschungstradition meist verzerrt dargestellt wird. B.s Ziel war es, die von den beobachtbaren Gemeinschaften praktizierten kulturellen Formen zur Geltung zu bringen. Historische Rekonstruktionen, die damit inkongruent waren, waren für ihn bestenfalls intellektuell interessant – praktisch aber, in Hinblick auf die Forschungsdesiderate angesichts des drohenden Verschwindens dieser Kulturen, weitgehend abwegig.[74] Die methodisch kontrollierte Analyse auch der lautlichen Verhältnisse macht nicht den Unterschied zu Sapir aus, da sie für B. seit seinen ersten ethnographischen Arbeiten im Vordergrund stand (s.o.); problematisch war für ihn deren Verselbständigung gegenüber der Analyse der darin artikulierten sozialen Praxis, als Preis dafür, in ihnen Spuren von gegenwärtig nicht mehr greifbaren Verhältnissen zu lesen (s. dazu bei Sapir). B. hat sich Zeit seines Lebens mit der Ausgliederung der indianischen Sprachen beschäftigt, bei der für ihn aber die sprachlich formale Seite, die auch für ihn in ihren robusten Feldern der phonologischen und morphologischen Systemstrukturen selbstverständlich ein genetisches Fenster aufmachte, nur insoweit von Interesse war, wie sie mit anderen Aspekten der kulturellen Praxis, die sich in den dokumentierbaren Texten spiegeln, zu verknüpfen war, aber eben auch mit nicht-sprachlichen kulturellen Faktoren. Insofern hatten für ihn die osmotischen Verhältnisse jenseits der genetisch in der (Prä-) Rekonstruktion rückzuverfolgenden Linien Priorität in der Forschung.

In seiner letzten Veröffentlichung bringt er diese Forschungslinie nochmals auf den Punkt (»Language and Culture«):[75] Jede Sprache bietet mit ihren grammatischen Ressourcen die Möglichkeit, Neues auszudrücken, wobei das Lexikon als Sedimentierung traditioneller Erfahrung in gewisser Weise ein retardierender Block ist, der allerdings etymologisch zumeist für die Sprecher nicht mehr transparent ist. Da, wo es die Lebensumstände erfordern, werden die Sprecher immer neue Formen entwickeln können, auch wenn die Habitualisierung des Denkens für die sozial vorgegebenen Ausdrucksformen Handlungskonsequenzen haben kann (in dieser Hinsicht formuliert er allerdings sehr vorsichtig, daß solche Konsequenzen conceivable sind [dort S. 183] – sie bilden keine Schranken für das Handeln).

Dieses Credo hat er an die wissenschaftliche Gemeinschaft weitergegeben, die sich nach dem Ersten Weltkrieg als amerikanischer Deskriptivismus formierte. Er begründete 1924 die Linguistic Society of America mit, zu deren Präsident er 1928 gewählt wurde. In der sich international formierenden neuen Linguistik gehörte er von Anfang an zu den prominenten Figuren: auf dem ersten Intern. Ling. Kongress 1928 in den Haag wurde er in das »Comité International Permanent des Linguistes« (CIPL) gewählt, das die künftigen Kongresse vorbereiten sollte. In der deutschen wissenschaftlichen Diskussion war er durchaus prominent präsent, wurde hier aber der Völkerkunde zugerechnet, während er in der sprachwissenschaftlichen Diskussion nur marginal figurierte, etwa mit seinem Aufsatz in einer Meinhof-Festschrift »Die Ausdrücke für einige religiöse Begriffe der Kwakiutl Indianer«,[76] in dem er die Formanalyse eines lexikalischen Feldes vorführt.

Die Schlüsselrolle von B. in der US-Sprachwissenschaft auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg wird schon an der Tatsache deutlich, daß die Überarbeitung für den Druck seines magnum opus »Kwakiutl Grammar«[77] von Zellig Harris übernommen wurde, der eine maßgebliche Rolle bei der damaligen Etablierung des distributionalistischen Strukturalismus spielte. B. hatte in den letzten Jahren vor seinem Tod daran gearbeitet, dieses Werk als Produkt seiner 60jährigen Beschäftigung mit dem Kwakiutl für den Druck fertig zu machen, unterstützt von seiner Tochter.[78] Die Darstellung in dieser Grammatik ist ein Modell für eine typologisch reflektierte Analyse, mit der B. zeigt, wie die universalen Kategorien Term und Relation zwar die morphologische Struktur der Wortformen in Hinblick auf deren syntaktische Rolle als referenzielle gegenüber prädizierenden Ausdrücken bestimmen, nicht aber das Lexikon: es gibt keine sortale Zerlegung der Wurzeln, und auch nicht einmal der morphologischen Stämme der Wortformen. Hier führt er die Analyse der Grammatisierungen, die den Bau einer Sprache bestimmen, am detailliertesten durch – und wird so auch von der neueren grammatiktheoretischen Diskussion wieder entdeckt, etwa da, wo er den Ausdruck von temporalen Markierungen nicht mit einer Wortartenzerlegung nach Nomen und Verb korreliert, sondern diese sowohl beim Prädikat wie bei seinen Komplementen beschreibt (bes. S. 288-291).[79] Die distributionalistischen Entwicklungen im amerikanischen Strukturalismus spiegeln sich in dieser Arbeit nicht zuletzt auch in dem Bemühen, mit Frequenzanalysen Muster eines grammatischen Kerns gegenüber strukturellen Formen der Peripherie zu analysieren. Auch die Ausgliederungsfragen, die B. zeitlebens beschäftigten, kommen hier zu ihrem Recht: Durchgehend diskutiert er Vergleiche zu den Nachbarsprachen (Nootka, Chinook) genauso wie dialektale Differenzierungen im Kwakiutl, so insbesondere in Hinblick auf die Varietät, die ihn seit seinen frühesten Kontakten mit diesen Stämmen beschäftigte, die der Bella Bella.

Andererseits ist aber auch deutlich, wo die Schranken für sein letztlich naturwissenschaftlich bestimmtes Gegenstandsverständnis lagen: Seine Arbeit zielte auf die Extrapolation des jeweiligen Sprachsystems – die ethnographisch erschlossene Sprachpraxis seiner Gewährsleute war für ihn dabei nur instrumentell auf dem Weg zum Ziel. Probleme der stilistischen Variation, die gerade in den von ihm untersuchten amerindischen Sprachgemeinschaften eine zentrale Rolle spielen, erfuhr er vor allem als Erschwernis der deskriptiven Arbeit, obwohl er ihren systematischen Stellenwert gesehen hatte, s.o. zu seinen frühen Arbeiten zum Tsimshian. Faktisch verdrängte er in seinen späteren Arbeiten die Probleme der Registervariation, auf die ihn auch Rink schon bei seinen frühen Eskimo-Arbeiten verwiesen hatte, weil er direkt auf den sprachlichen Ausdruck für die kulturelle Praxis in zeremonialen Texten zugreifen wollte. Der in der sprachlichen (Register-)Variation ausgelebten Praxis (vor allem lustvollen Praktiken) konnte er wenig abgewinnen[80] – hier brachte erst die nächste Generation eine Neuorientierung, angestoßen vor allem von seinem Schüler Sapir, der nicht zufällig auch die Psychoanalyse als Bezugswissenschaft nahm, die B. zeitlebens entschieden ablehnte.

Die streng naturwissenschaftliche Haltung wird in seinen Arbeiten durch die Reaktion auf den endemischen gesellschaftlichen Rassismus überschrieben, die sich durch seine ganze Biographie zieht: schließlich hatte er ihn durch seine Herkunft aus einer jüdischen Familie direkt erfahren.[81] Der Vater ermahnte ihn schon als Schüler, daß er mit antisemitischen Angriffen, die er damals erfuhr, leben lernen müsse (Minden war damals Wahlkreis des antisemitisch agitierenden Stoecker); als Student, der in seiner Bonner Studienzeit in die schlagende Verbindung Alemannia eingetreten war, wehrte er sich mit für Beleidigungen vorgesehenen Mensuren gegen solche Angriffe, die zahlreiche Schmisse in seinem Gesicht als Spuren hinterlassen haben.[82] Sein persönliches und wissenschaftliches Vorbild war seit den Studienjahren Rudolf Virchow (1821-1902), der entschieden gegen den Antisemitismus in Deutschland anzugehen versuchte.[83]

Seine Ablehnung einer Übertragung des genetischen Ausgliederungsmodells der vergleichenden Sprachwissenschaft war bei B. nicht nur methodologisch definiert, sondern zugleich eine Frontstellung gegenüber fundamentalistischen Sichtweisen in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis schlechthin. So nahm er engagiert an den öffentlichen Auseinandersetzungen um rassistische Formierungen in der US-Gesellschaft teil, bei denen er durchaus das rassenkundliche Forschungsinstrumentarium handhabte, um die gängigen Stereotypen in Frage zu stellen. Diese Arbeiten überwiegen denn auch in dem von ihm selbst 1939 zusammengestellten Band seiner »Kleinen Schriften«, in deren Titel er denn auch nicht von ungefähr den Terminus Rasse benutzt, gegen den er sich in seinen Arbeiten sonst zugunsten deskriptiverer Termini wie Typus verwahrt.[84] So hat er z.B. in einer umfassenden Untersuchung über die Verteilung rassenkundlicher Merkmale bei den Einwanderern in die USA nachzuweisen versucht, daß die erblichen Faktoren hier den sozialen Einflüssen der Immigration nachgeordnet sind.[85] Nicht zufällig ist eine bei ihm in diesen Arbeiten immer wieder besonders untersuchte Gruppe die der jüdischen Einwanderer (bei ihm Hebrew-Immigrants). In den USA hat es eine kontroverse Diskussion über B.s politisch nicht korrekte Art gegeben, mit diesen Fragen umzugehen.[86]

Er hat eine große Zahl, vor allem auch an ein breiteres Publikum adressierter Werke verfaßt, in denen er eine Kulturtheorie als wissenschaftliches Gegenmittel gegen den endemischen Rassismus der modernen Gesellschaft entwickelt, so etwa sein schon erwähntes Buch von 1911 »The mind of primitive man«, wo er »rassische« Variablen (bei ihm strikt auf biologisch meßbare Elemente des Körperbaus beschränkt), sprachliche Strukturen und solche des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes als unabhängig voneinander aufweist. Die rassistischen diskursiven Formationen durchziehen als implizites Gegenargument das ganze Buch, von rassistischen Stereotypen über Juden bis hin zu den Fragen der Rassenhygiene,[87] die er scheinbar leidenschaftslos diskutiert, gewissermaßen diskursanalytisch rekonstruiert, insofern sie mit der Figur einer »Gefühlsgemeinschaft« im politischen Raum gespickt sind, die sich der objektiven Überprüfung entzieht. Der von ihm vordergründig befürworteten Rassenhygiene stellt er das Programm entgegen, daß die ökonomischen Randbedingungen zu ändern sind, unter denen Teile der Gesellschaft negative Strukturmuster entwickeln. Bemerkenswert ist, daß diese Stoßrichtung seiner Argumentation in der deutschen Übersetzung/Bearbeitung von 1914 noch deutlicher ist, die er um ein eigenes Kapitel »Das Rasseproblem im sozial-politischen Leben« ergänzt (dort S. 228-237). Schließlich hat er seine Argumentation pointiert nochmals 1932 publiziert: »Rasse und Kultur«.[88]

In diesem Sinne engagierte er sich in zahlreichen politischen Vereinigungen, in Komitees gegen den Rassismus, aber auch generell gegen endemische reaktionäre politische Bestrebungen wie z.B. in einem »Committee for Democracy and Intellectual Freedom«. Auf diese Weise hatte er sich auch in den USA Feinde gemacht. Als er 1919 öffentlich dagegen protestierte, daß die US-Regierung sozialwissenschaftliche Feldforschung für politische Ziele instrumentalisierte, wurde er deswegen von der American Anthropological Association ausgeschlossen, zu deren Gründer und Vorstand er gehörte.[89] Er wurde zunehmend besorgt durch die Entwicklungen in seiner Heimat, die er bei regelmäßigen Besuchen in Deutschland verfolgte. Dazu publizierte er zahlreiche Kampfschriften gegen den Rassismus und gegen die aufkommenden nationalsozialistischen bzw. faschistischen Bewegungen in Europa und war später Mitglied einer »Notgemeinschaft für deutsche und österreichische Wissenschaftler«. In diesem Sinne publizierte er auch auf deutsch (s.o. schon zu »Kultur und Rasse« 1914). Am 27.3.1933 schickte er einen Offenen Brief an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, den er versuchte, gegen den Nationalsozialismus in die Pflicht zu nehmen.[90] In diesem Brief formulierte er ein geradezu glühendes Bekenntnis zur deutschen Nation, zu der er auch in den schwierigen Zeiten des Ersten Weltkrieges immer gestanden habe.[91] Bemerkenswert ist, daß er zunächst vor allem die Unterdrückung der »freien Meinungsäußerung« anprangert, die »Willkür« denen gegenüber, deren »Gesinnung nicht mit der herrschenden Partei übereinstimmt«. Erst in zweiter Linie nennt er jeweils die antisemitische Repression und betont, daß er selbst deren Opfer wurde: »Ich bin jüdischer Abstammung, aber im Fühlen und Denken bin ich Deutscher«. Er hatte diesen Brief offensichtlich an eine große Zahl von ihm mehr oder weniger gut gekannten Kollegen verschickt, deren Reaktionen ebenfalls erhalten sind, die von zustimmend (z. B. von F. Tönnies) bis auch zu ablehnender Belehrung darüber reichen, daß er offensichtlich von den USA aus die Situation in Deutschland nicht beurteilen könne.

Er selbst wurde noch Opfer der rassistischen Verfolgung in Deutschland: Seine Werke wurden bei der Bücherverbrennung 1933 auf den Scheiterhaufen geworfen[92] und im gleichen Jahr wurde ihm von der Universität Kiel seine Promotion aberkannt. B. verstarb durch einen Herzinfarkt am 21.12.1942 in New York, während er auf einer Festveranstaltung zu Ehren eines französischen Emigranten, des Ethnologen P. Rivet, eine Rede hielt.[93]

Q: V in der Dissertation und in der Habilitationsakte (Archiv Humboldt-Universität Berlin); Stammerjohann 1996; DBE 2005; D. Cole, »F.B. – the early years, 1858-1906«, Vancouver: Douglas & Mcintyre 1999; N. F. Boas, »F. B., 1858-1942«, Connecticut: Mystic 2004;[94] eine Festschrift erschien 1906 zum 25. Jahrestag von B.s Promotion, hg. von B. Laufer, »Boas Anniversary Volume«, New York: Stechert; im American Anthropologist 45/1943, erschien ein Gedenkband zu B. mit einem biographischen Artikel von A. L. Kroeber (S. 5-26), sowie weiteren disziplinspezifischen Darstellungen seines Werks. Als Gedenkschrift zum 100. Jahrestag erschien 1958 der Band 24 des Intern. J. American Linguistics.

Die Bibliographie führt (bis 1943) 715 Publikationen auf; eine parallele Publikation erschien noch 1959: W. Goldschmidt (Hg.) »The Anthropology of F. B.« mit einem biographischen Beitrag von C. Kluckhohn/O. Pufer (S. 4-28), sowie disziplinspezifische Würdigungen. Einen systematischen Zugang zu B.s Forschungsprogramm bietet G. W. Stocking, »A Franz Boas Reader«, Chicago: Chicago UP 1974, der Auszüge aus den publizierten Arbeiten mit biographischen Dokumenten verbindet.

Weiter: G. W. Stocking (Hg.), »Volksgeist as Method and Ethic«, Madison: Univ. of Wisconsin Press 1996; R. Darnell, »And along came Boas«, Amsterdam: Benjamins 1998; V. Rodelkamp (Hg.), »F.B.: 1858-1942 – ein amerikanischer Anthropologe aus Minden«, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1994; M. Dürr u.a. (Hgg.), »F. B. Ethnologe, Anthropologe, Sprachwissenschaftler« [Ausstellungskatalog] Staatsbibliothek zu Berlin 1992; M. Mackert, »F.B.«, in: Strazny (2005): 145-147. Angesichts von B.s dominanter Position in der Ethnologie finden sich auch kritische Rezeptionen, geradezu ikonoklastisch von L. A. White, »The ethnography and ethnology of F.B.«, in: Bull. of the Texas Memorial Museum 6/1963: 1-76, der B.s fehlende teilnehmende Beobachtung als Grund sieht, seine Darstellungen für wertlos zu deklarieren; oder auch W. Müller, »Weltbild und Kult der Kwakiutl-Indianer«, Wiesbaden: Steiner 1955, der (orientiert an W. Schmidt) bei B. fehlende religionswissenschaftliche Kategorien moniert; jetzt auch H.-W. Schmuhl (Hg.), »Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe F.B. (1858-1942)«, Bielefeld: transcript 2009; F. Pöhl / B. Tilg (Hgg.), F.B. Kultur, Sprache, Rasse. Wege einer antirassistischen Anthrooologie. Wien: LIT 2. A. 2011;  L.  Müller-Wille (Hg.), The Franz Boas Enigma. Inuit, Arctic, and Sciences. Montréal (Kanada): Baraka Books 2014.Der Nachlaß von F. B. liegt in Philadelphia im Archiv der American Philosophical Society. Für die Einsicht in Materialien daraus und weitere Auskünfte danke ich Frau U. Bender-Wittmann (Minden).

 


[1] Die Biographie von B. stelle ich ausführlicher dar, da sie einen Bezugsrahmen für andere, weniger gut dokumentierte Lebensläufe bietet. Die Familiengeschichte ist in der Region bis ins 18. Jhd. zurückzuverfolgen. Der Familienname wurde mit der Einführung des französischen Rechts, das einen »bürgerlichen« Namen verlangte, 1808 geändert (vorher Feibes, Boas ist der Name einer Figur im alttestamentarischen Buch Ruth). Die Lebensformen blieben durch den jüdischen Ritus bestimmt, aber »aufgeklärt« assimiliert; so ist in den familieninternen Aufzeichnungen statt von der Bar Mitzvah, die B. mit 13 Jahren absolvierte, von der Konfirmation die Rede. Der Vater gehörte zu den Honoratioren der jüdischen Gemeinde in Minden (ca. 100 Personen); über zeremoniale Aktivitäten hinaus wurde die Religion in der Familie aber nicht praktiziert.

Der enge Zusammenhalt in der jüdischen Großfamilie bestand für B. lebenslang, wozu auch die Schlüsselrolle seines Onkels Abraham Jacobi (1830 - 1919) gehörte, der 1848-1851 dem Kommunistischen Bund angehörte, nach seiner Inhaftierung dann über England in die USA auswanderte und dort als Arzt Karriere machte. Er unterstützte B. lebenslang: er setzte in der Familie sein Studium durch und unterstützte ihn später auch in den USA materiell. Aufschlußreich für die Familienverhältnisse sind die autobiographischen Aufzeichnungen von B.s Schwester Antonie, die handschriftlich im Nachlaß überliefert sind. Die chronologische Darstellung dort bricht allerdings im Jahr 1848 ab, gibt daher für B. selbst nichts her.

[2] In einer Abschrift der Mutter ist ein ausführliches curriculum vitae überliefert, das B. für sein Abitur verfaßt hatte, in dem er seine Interessen und Lektürevorlieben darstellte.

[3] Kiel: Schmidt & Klaunig 1881.

[4] Zu diesem Forschungsprogramm (von G. T. Fechner [1801-1887] entwickelt) s. die Auswertung, Kap. 3.3.4.3. B. reflektierte die Psychophysik auch nach der Promotion noch in einigen Aufsätzen systematischer, z.B. »Über die Grundaufgabe der Psychophysik« (in: Pflüger's Archiv 28/1882: 566- 576).

[5] So formulierte er es explizit in seinem Habilitationsgesuch 1886: »cum jam a puerili aetate desiderio quodam has terras inspiciendi incensus fuissem«.

[6] B.s Interesse war wohl durch entsprechende Bücher artikuliert, vielleicht durch das in der »Bibliothek der Länder- und Völkerkunde zur Erweiterung der Kenntnis der Fremde« erschienene Werk über »Die Franklin Expeditionen und ihr Ausgang«, deutsch bearbeitet von Kiesewetter, 2. Aufl. Leipzig: Sparmer 1867. Zu der anekdotisch genauen Berichterstattung dort über die Probleme dieser Expedition gehören auch »eingehendere Beleuchtung der Indianerstämme, um im Vorliegenden die Eskimo’s, diese eigentlichen Menschen des Polarkreises, in den Vordergrund treten lassen zu können« (Vorwort). Im Anhang findet sich eine Karte der nordamerikanischen Polarländer, bei der die Konturen der Baffin-Inseln weiß gelassen sind – also genau die Region, die B. später kartographierte. Im Literaturüberblick in seiner späteren Habilitationsschrift gibt er derartige Quellen (selbstverständlich) nicht an. Abenteuernde Forschungsreisen waren damals ohnehin ein Modethema. Ein unmittelbares Vorbild für B. bot Heinrich W. Klutschak, »Als Eskimo unter Eskimos. Eine Schilderung der Erlebnisse der Schwatka’schen Franklin-Aufsuchungs-Expedition in den Jahren 1878-1880«, Wien: Hartleben 1881, der auf der gegenüberliegenden Küste der Baffin-Inseln gelebt hatte. Das gilt in jeder Hinsicht für die B.schen Reisevorbereitungen: Nach Klutschaks Beschreibung konnte er erwarten, daß die Verständigung mit den Eskimos keine Probleme bereitete, daß das dazu nötige Pidgin zugänglich sei, aber z.B. auch, daß diese erstaunliche Fähigkeiten hätten, geographische Karten zu zeichnen (S. 85), was B. denn auch in seiner eigenen Forschungspraxis nutzte. In einer Zusammenstellung von Berichten über die Eskimos, die er als Vorbereitung seiner Expedition anfertigte (»Über die Wohnsitze der Neitchillik-Eskimos«, in: Z. der Gesellschaft für Erdkunde 18/1883: 222-233), wertet er u.a. diesen Reisebericht aus, und verweist dort auch auf die von den Eskimos gezeichneten Karten.

[7] S. dazu L. Müller-Wille (Hg.), »Bei den Inuit in Baffinland 1883-1884: Tagebücher und Briefe«, Berlin: Schletzer 1994, wo die z.T. dramatischen Umstände und Schwierigkeiten sehr plastisch werden. Siehe dazu auch C. C. Knötsch, »F.B. bei den kanadischen Inuit im Jahre 1883-1884«, Bonn: Holos 1992.

[8] »Baffin-Land. Geographische Ergebnisse einer in den Jahren 1883 und 1884 ausgeführten Forschungsreise« (= Heft 80 in Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt, Erg.-Bd. 17/1885), Gotha: Perthes 1885.

[9] Einige davon sind bei Müller-Wille 1994, s. Anm. [7], abgedruckt, s. jetzt auch Müller-Wille 2014 (Q).

 

[10] Im Nachhinein wurde ein Gletscher auf den Baffin-Inseln Boas-Glacier genannt.

[11] Washington D.C. 1888 – im Nachdruck hg. mit einer Einleitung von H. B. Collins, Lincoln: Univ. Nebraska Pr. 1964 - das Buch enthält neben kulturanthropologischen Dokumenten (mit zahlreichen Abbildungen) auch ein detailliertes Glossar, S. 251ff. Zeitgenössisch avanzierte Boas damit sofort zu einer Autorität, s. etwa im Spiegel der französischen Forschung bei M. Mauss /H. Beuchat, Essai sur les variations saisonnières des sociétés eskimo. Etude de morphologie sociale, in: Année sociologique 9/1904 -1905.

B. spricht von Zentral-Eskimo i.S. einer geographischen Ausglierung mit dem grönländischen im Osten und dem alaskischen im Westen.

NB zur Bezeichnung Eskimo: dieser Terminus stammt aus den benachbarten Algonquin-Sprachen; die Selbstbezeichnung ist Inuk (Sg., Pl. Inuit), für die Sprache Inuktitut. Erst in den 1990er Jahren sind diese Temini auch in der wissenschaftlichen Dikussion üblich geworden (s. dazu Müller-Wille 2014, Q).

 

[12] Hinrich Johannes Rink (1819-1893) war wie B. Geograph, der ebenfalls in Kiel promoviert hatte (1844) – und insofern auch deutsch sprach und publizierte. Wie später B. hatte Rink seine Arbeiten zu Grönland systematisch ethnographisch unterfüttert und auch schon sprachliche Analysen geliefert. Siehe zu ihm Dansk Biographisk Lexikon 14: 125-128. In B.s Habilitationsschrift bearbeitete Rink das toponymische Verzeichnis, s. dort S. 90; außerdem H. Rink/F. Boas, »Eskimo tales and songs«, in: J. Amer. Folklore 2/1889: 123-131.

[13] Die Briefe an Rink liegen in dessen Nachlaß in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen (der ich für die Kopien danke); Rinks Briefe an B. sind in dem elektronisch erfaßten Nachlaß von B. in Philadelphia zugänglich. Rink hat allerdings offensichtlich nur die Briefe bewahrt, die sprachliche Materialien, z.T. ausführliche Texte, Wortlisten, Auszüge von schwierigen Textpassage u. dgl. enthalten; umgekehrt sind in Bs’ erhaltenen Briefen nicht die Ausarbeitungen von Rink überliefert, die sich in dessen Briefentwürfen abzeichnen und in die z.T. gemeinsamen Publikationen eingegangen sind. Aus Rinks z.T. ausführlichen Annotationen wird deutlich, daß B.s Schwierigkeiten allerdings keineswegs seinen ungenügenden Vorbereitungen zuzuschreiben sind: Rink selbst merkt fortlaufend an: »unverständlich«, »unbekannt«, »Bedeutung?« u. dgl. (er macht seine Anmerkungen auf Deutsch, wenn es sich um Entwürfe für ein Antwortschreiben an B. handelt, ansonsten notiert er in Dänisch). Aus der Korrespondenz wird deutlich, wie beeindruckt Rink von B.s Kenntnissen ist, die dieser sich nur in einem Jahr erworben hatte, wofür er selbst viele Jahre des Lebens in Grönland unter Eskimos gebraucht hat. So nimmt er B.s Materialien auch sofort als Quellen für seine eigenen Publikationen auf, vor allen Dingen für sein vergleichendes Lexikon der Eskimo-Mundarten, notiert an schwierigen Stellen auch: »B. vil sende Forklaring« (»B. wird eine Erklärung schicken«).

[14] Er bietet B. an, ihm Noten zu den Texten zu schicken, damit er diese mit seiner Frau, die offensichtlich auch im Inuktitut zu Hause war, gemeinsam singen und so vielleicht deuten kann.

[15] Inzwischen publiziert: L. Müller-Wille/B. Gieseking (Hgg.), »Bei Inuit und Walfängern auf Baffin-Land (1883-1884)«, Minden: Mindener Geschichtsverein (Beiträge Bd. 30) 2008.

[16] In einer späteren Publikation »The Eskimo of Baffin Land and Hudson Bay«, New York: American Museum of Natural History 1901, stellt B. von Mutch sowie anderen Gewährsleuten gesammelte Informationen und Texte zusammen. Mutch steuerte auch einen Beitrag zur Festschrift 1906 bei (s.u.).

[17] »Der Eskimo-Dialekt des Cumberland-Sundes«, in: Mitt. Anthropol. Ges. Wien 24/1894: 97-114, hier S. 97.

[18] »The Study of Geography«, in: Science, Suppl. vom 11.2.1887: 137-141.

[19] Dieser war 1845 – 1862 in fünf Bänden erschienen. Vollständiger Nachdruck Frankfurt: Eichborn 2004.

[20] S. Kleinschmidt, »Grammatik der grönländischen Sprache mit teilweisem Einschluß des Labradordialekts«; Berlin: Reimer 1851 (Repr. Hildesheim: Olms 1968). Diese war eine verblüffende Leistung – völlig inkongruent zu allen zeitgenössischen Arbeiten ist hier die Grammatik aus ihrer Funktionsweise in der Sprachpraxis extrapoliert (Kleinschmidt war als Sohn deutscher Missionare zweisprachig auf Grönland aufgewachsen). Erstaunlich klarsichtig bemüht sich K. auch, den andersartigen Bau der Sprache kontrastiv zum Deutschen herauszustellen: in der Grammatik ungemein modern die ergative Ausrichtung des Satzbaus, und eben in der Phonologie die anscheinende Inkonstanz der lautlichen Artikulation (S. 5-7). S. dazu E. Nowak, »Samuel Kleinschmidts ›Grammatik der grönländischen Sprache‹«, Hildesheim: Olms 1987 (die allerdings offensichtlich nicht wußte, wie intensiv B. sich damit auseinandergesetzt hatte, s. ebd. S. 34). Explizite Hinweise auf Kleinschmidt finden sich bei B. nur selten – er setzt diesen gewissermaßen voraus, s. etwa sein Hinweis auf »Kleinschmidt’s System« der Schreibung (1901: 5).

[21] Ein sprachanalytischer Abriß: »Bella-Coola Indianer«, in: Verhandlungen Berliner Ges. f. Anthropologie, Ethnologie u. Urgeschichte 18/1886. Glossierte Texte: »Sprachproben I – IV«, in: A. Graf v. d. Schulenburg (Hg.), »Die Sprache der Zimshian-Indianer in Nordwest-America«, Braunschweig 1886: 183-192 (Repr.: Wiesbaden: Sändig 1972). Ein sozialgeographischer Abriß: »Census and Reservations of the Kwakiutl Nation«, in: Bull. Amer. Geogr. Soc. 19/1887, der im übrigen ungebrochen die Probleme der »Zivilisierung« der Indianer beschreibt, sowie vor allem auch Sammlungen von umfangreichen Erzählungen, die er offensichtlich gleich in Übersetzungen aufgezeichnet hatte und die nur vereinzelt transkribierte Passagen enthalten, bei gesungenen Passagen auch mit musikalischer Notation: »Einige Mythen der Tlingit«, in: Z. Ges. f. Erdkunde 23/1888; »On certain songs and dances of the Kwakiutl of British Columbia«, in: J. Amer. Folklore 1/1888; Indianische Sagen von der nord-pacifischen Küste Amerikas, Berlin: Asher 1895 (repr. Bonn: Hols 1992 - mit einem auch biographisch ausführlichen Nachwort von M. Dpürr, S. 389-403). In gleicher Weise auch noch Texte aus seinem Baffin-Aufenthalt »Sagen der Eskimos von Baffin-Land«, in: Verhandlungen Berliner Ges. f. Anthropologie, Ethnologie u. Urgeschichte 20/1888, »Eskimo tales and songs«, in: J. Amer. Folklore 2/1889, bei denen noch Rink den sprachanalytischen Part übernehmen musste.

[22] British Association of Advancement of Science (BAAS). Für sie redigierte er 1889-1892 umfangreiche Berichte über die Indianer im heutigen West-Kanada. Bis 1931 war Kanada britisch.

[23] Er führte eine solche Untersuchung an Schulkindern durch, in Reaktion auf die damalige Befürchtung, daß die (neuen!) Immigranten mit einem rassisch anderen Typ als die alteingesessenen Immigranten (jetzt also Osteuropäer bzw. Menschen aus mediterranen Regionen) das intellektuelle Niveau der Schulen gefährdeten, s. Cole (Q) und Boas (Q) für Einzelheiten.

[24] World's Columbian Exposition, Chicago 1893.

[25] Die großformatigen Bände (je 500-800 Seiten) erschienen als »Memoirs of the American Museum of Natural History« in Leiden: Brill. B. selbst verfaßte für Bd. 1/1898 die Mythologie der Bella Coola und eine Abhandlung über Gesichtsbemalungen bei den Indianern der Nordwestküste; für Bd. 5/1909 eine Abhandlung über die Kwakiutl (in einem Band von Swanton zu den Haida), für Bd. 3/1905 und Bd. 10/1908 (gemeinsam mit G. Hunt) Kwakiutl-Texte. Laufer steuerte zu Band 4/1902 eine reich illustrierte Darstellung der dekorativen Kunst bei den Amur-Stämmen bei. Detailliert zu diesem Unternehmen L. Kendall/I. Krupnik (Hgg.) »Constructing cultures then and now: celebrating F.B. and the Jesup North Pacific Expedition«, Washington, D.C: Arctic Studies Center u.a. 2003. Zum Hintergrund auch Darnell (Q 1998): 145-146.

[26] »The Study of Geography«, in: Science Suppl 1887.

[27] In: »The limitations of the comparative method of anthropology«, in: Science NS 4 / 1886: S. 902.

[28] ebd. S. 908.

[29] S. Auswertung, Kap. 3.3.1.

[30] Zum wissenschaftspolitischen Kontext von B.s Programmatik Darnell (Q, 1998) und jetzt auch J. Holzer, »Linguistische Anthropologie«, Bielefeld: transcript 2005; vorher auch schon mit ausgesprochen kritischer Stoßrichtung gegen B. (und auch Sapir), dies., »Ishi – oder wie können Eingeborene erforscht werden?«, in: Sowi 4/2004: 21-31.

[31] Auch hier zeigte sich wieder die starke Einbindung in der Familie. Die Professur kam nur aufgrund der (auch finanziellen) Unterstützung seines Onkels Jacobi zustande (s. Cole, Q). Im übrigen hatten alle seine späteren Schüler an der Columbia einen vergleichbaren kulturellen Hintergrund wie er selbst (s. bei Sapir).

[32] B. benutzt für die Sprache den Namen des Stammes. In neueren Publikationen wird die Sprache i. d. R. als Kwakw’ala bezeichnet.

[33] Bd. 17 des »Handbook of North American Indians«, Washington/DC: Smithonian Institution 1996.

[34] Washington: Government Printing Office 1911. Die Folgebände erschienen Bd. 2/1922, Bd. 3/1938, Bd. 4/1941 (nachgedruckt London: Routledge/Thoemmes). Das Handbuch erschien im Auftrag des Bureau of American Ethnography, mit dem er von seiner New Yorker Professur aus wieder zusammenarbeitete. Zum Hintergrund dieses Unternehmens, das als Leitfaden mit Modellanalysen für die weitere professionalisierte ethnologische Forschung geplant war, s. Darnell (Q, 1998 und G. W. Stocking, »The Boas Plan for the Study of American Indian Languages«, in: D. Hymes (Hg.), »Studies in the history of Linguistics«, Bloomington etc.: Indiana UP 1974: 454-484.

[35] Also die Sprache der indianischen Gemeinschaft, der schon seine ersten Arbeiten gegolten haben, s.o.

[36] S. die Hinweise bei Ch. Hockett, »A manual Phonology«, (= Intern.. Journal of American Linguists 21 [4] ) 1955: 57: »this language (Bella Coola, U.M.) was the subject of a paper by Boas [...], which is said to have been rejected by the editor of a German philological journal on the ground that, as »everyone knows«, it is impossible to have words without vowels. Bella Coola proves that this nineteenth-century belief is false« (Ch. F. Hockett, a.a.O.: 57). Der Vorgang bleibt genauer zu recherchieren, s. z.B. B.s »Salishan Texts«, in: Proc. American Philos. Soc. 34/1895: 31ff. mit Wortformen wie alklx, sxl, Lqulxt u. dgl. Zu den deskriptiven Problemen s. etwa B. Bagemihl, »Syllable structure in Bella Coola«, in: Linguistic Inquiry 22/1991: 589-646.

NB: Ich übernehme die Schreibung von Boas bei seinen deutschsprachigen Texten: bei ihm Selisch, heute i.d.R. in der englischen Schreibweise: Salish (zeitgenössisch findet sich auch in amerikanischen Texten die Schreibung mit <e>).

[37] Hier hat sein enger Schüler Sapir die Analyse fortgeführt und die entsprechenden operationalen Verfahren entwickelt.

[38] Siehe dazu M. Mackert, »F. B.s Theory of phonetics«, in: Historiographia Linguistica 31/1994: 351-386.

[39] S. seinen Aufsatz »On Alternating sounds«, in: The American Anthropologist 2/1889: 47-53. Indirekt wird hier auch seine inzwischen gewachsene Skepsis gegenüber seinen eigenen Aufzeichnungen bei dem Baffin-Aufenthalt deutlich, die er ja weitgehend aus zweiter Hand gearbeitet hatte, gestützt bei der Wahrnehmung wohl nur auf seine musikalische Schulung. Es ist denn auch wohl nicht von ungefähr, daß er selbst später nicht mehr im sprachwissenschaftlichen Kontext auf seine Inuktitut-Materialien zurückkommt. Das Kapitel über »Eskimoisch« in Bd. 1 des Handbuches von 1911 übertrug er dem Dänen Thalbitzer.

[40] S. dazu M. Mackert, »F. B.s early Northwest Coast alphabet«, in: Historiographia Linguistica 36/1999: 273-294.

[41] In seinen vielen Veröffentlichungen, die auch fachlich sehr unterschiedlich vorinformierte Adressaten hatten, rangelte er mit geeigneten Formulierungen. So kann man durchaus auch bei ihm verfängliche Passagen finden, z. B. in der Einleitung zum Handbuch (1911) den Hinweis auf den Reichtum an Bezeichnungen für Schnee bei den Eskimos (allerdings ohne das Stereotyp von den angeblich über 40 Wörtern für Schnee ohne einen Oberbegriff und was dergl. hartnäckiger Mythen mehr sind). Zur Entwicklung in seiner Argumentation s. M. Mackert, »The roots of Franz Boas’ view of linguistic categories as a window to the human mind«, in: Historiographia Linguistica 20/1993: 331-351. Jedenfalls geht es nicht an, ihn ohne weiteres in eine Traditionslinie Boas-Sapir-Whorf zu stellen (s. dazu bei Sapir), wie es oft geschieht, s. z. B. auch in dem ansonsten sehr differenziert argumentierenden Band Dürr u. a. (Q, S. 34).

[42] Sein Schüler Sapir machte aus diesem Verfahren später eine systematisch genutzte Erhebungstechnik.

[43] Siehe dazu R. B. Rohner, »F. B. Ethnographer on the Northwest«, in J. Helm (Hg.) »Pioneers of american anthropology: the uses of biography«, Seattle: Univ. of Washington Press 1966: 213-222 (mit einem Interview der Tochter von Hunt), außerdem detailliert auch Cole (Q). Hunt erscheint auch in der Festschrift 1906 (Q) mit einem Beitrag (»The rival chiefs. A Kwakiutl story«, S. 108-136), den E. Sapir für die Publikation redaktionell bearbeitet hat.

[44] Mit E. Deloria, »Dakota grammar«, Washington: Government printing office 1941 (= Memoirs of the national academy of sciences, Bd. 23). Zu den angesprochenen Problemen der Wortausgliederung bzw. praktizierten Wortgliederung dort, s. R. Rankin u.a., »Synchronic and diachronic perspective on ›word‹ in Siouan«, in: R. Dixon / A. Aikhenvald (Hgg.), »Word. A cross-linguistic typology«, Cambridge: Cambridge UP 2002: 180-204.

[45]S. Rohner, »The Ethnography of F.B.«, Chicago-London: Chicago UP 1969. Die Diskussion darum, also die Güte von B.s Darstellung, war vorher schon aufgekommen, nachdem B.s Tochter Helene Yampolsky Auszüge aus diesen Briefen veröffentlicht hatte, in: Intern. J. of American Linguistics 24/1958: 312-320. Daß B. im Umgang mit den Menschen im Feld wenig sensibel war (im Gegensatz zum Respekt, den seinen Mitarbeitern erwies) wird in der Forschungsdiskussion immer wieder thematisiert, s. etwa F.Pöhl, F.B.: Feldforschung und Ethik, in: Pöhl / Tilg (2011: 55 - 76, Q).

 

[46] Mit der Schlegelschen Klassifikation in isolierende, agglutinierende, flektierende und polysynthetische (inkorporierende) Sprachen, s. (1911), S. 74.

[47] Schon seine frühen Arbeiten zeigen sein Bemühen, funktionale deskriptive Kategorien für die grammatische Analyse zu entwickeln, die sich von der Projektion von Übersetzungsäquivalenten aus den Schulsprachen löst, z. B. mit der herkömmlichen Nomen/Verb-Differenzierung, s. z. B. »The Vocabulary of the Chinook Language«, in: American Anthropologist 6/1893: 118-147.

[48] Washington, D.C.: United States Armed Forces Institute 1938 – als »War Department Education Manual«- Schulungsprojekt für eingezogene Soldaten verbreitet.

[49] Zu B.s Konzept der Grammatisierung, s. R. Jakobson, »Boas‘ view of grammatical meaning« (1959) in dem Gedächtnisband 1959 (S. 139-145), nachgedruckt in: »R.J. Selected Writings«, Den Haag: Mouton, Bd. 2/1971: 489-496.

[50] Vgl. auch Parallelen bei Hercus.

[51] Im »Handbook« (1911).

[52] S. den Forschungsüberblick über die nordamerikanischen Indianersprachen bzw. -familien bei M. Mithun, »The languages of North America«, Cambridge: Cambridge UP 1999, bei dem deutlich wird, wie oft B.s Arbeiten den Anfang einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Sprachen überhaupt darstellen, nachdem es dazu vorher meist nur Amateurarbeiten, vor allem von Missionaren gegeben hatte.

[53] S. R. Parmenter, »Glimpses of a friendship«, in: J. Helm (Hg., a.a.O.)1966: 83-148.

[54] In: »Handbook« 1911: 45-47. Zu einer entsprechenden Einschätzung von B. gewissermaßen als US-amerikanischen Gegensatz zu Trubetzkoj in der arealtypologischen (»Sprachbund«-)Tradition, s. etwa L. Campbell/T. Kaufmann/T. Smith-Stark, »Meso-America as a Linguistic Area, in: Lg. 62/1986: 520-570, bes. S. 513 (dort auch zur Frontstellung zur Sapir-Tradition).

[55] S. Campbell (1997). Neuere Arbeiten, die einen arealtypologischen Ansatz verfolgen, nehmen denn auch ausdrücklich bei B. ihren Ausgangspunkt, s. etwa C. Campbell u.a., Meso-America as a linguistic area, in: Language 62/ 1986: 530-570, bes. S. 531.

[56] S. »Handbook« 1911: 5. Eine kleine Studie über solche Entlehnungen widmete er später seinem verstorbenen romanistischen Kollegen Todd an der Columbia: »Spanish Elements in modern Nahuatl«, in: J.D. Fitz-Gerald/P. Taylor (Hgg.), »Todd memorial volume«, New York: Columbia UP 1920, Bd. 1: 85-89.

[57] Friedrich Ratzel (1844-1904) begründete die Sozialgeographie (Werke: »Anthropogeographie«, 2 Bde., 1882, 1891; »Politische Geographie«, 1897). B. benutzte den Begriff der »Anthropogeographie« auch als Oberbegriff für seine Habilitationsschrift.

[58] S. seine beiden einflußreichen Aufsätze »The Classification of American Languages«, in: American Anthropologist, NS 22/1920: 367-376, »The Classification of American Indian Languages««, in: Lg. 5/1929: 1-8.

[59] S. dazu die auch auf persönliche Beziehungen gegründete Analyse von Roman Jakobson »F. B’s approach to language«, in: Int. J. American Linguists 10/1944: 188-195.

[60] Washington: Government Printing Office 1902.

[61] Oslo: Aschehoug & Co.1927. B. behält den Terminus „primitiv" bei der Analyse von Formen des kulturellen Ausbaus bei - im Gegensatz zur rassistischen Wertung von Gemeinschaften.

 

[62] Hintergrund für seine Darstellung war die schon seit 1880 laufende Diskussion in der Ethnologie zu der »Entdeckung«, daß die »Wilden« eben doch auch eigene Kunstformen haben. Diese Diskussion war vor allem durch Kunstwerke aus Schwarzafrika ausgelöst worden, die in europäische Museen verfrachtet worden waren. Diese machten deutlich, daß der Formaspekt nicht einfach den Hochkulturen zuzuschreiben ist, daß vielmehr abstrakte/ornamentale Kunst gerade auch in solchen »primitiven« Ausprägungen greifbar wird, so daß umgekehrt aber auch Primitivität nicht auf anschauliche Mimikry zu reduzieren ist. In dieser Debatte bildete sich eine kulturrelativistische Argumentation heraus, die B. schon aus seiner Berliner Zeit kannte und später weiterführte, s. dazu insbes. A. Riegl, »Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik«, Berlin: Siemens 1893.

[63] In: FS J. Schrijnen 1929: 147-153.

[64] Alfred Louis Kroeber (1876-1960) hatte 1901 bei B. an der Columbia University promoviert. Später baute er in Kalifornien einen Westküsten-Gegenpol zur B.schen Ethnologie an der Ostküste auf, seit 1906 als Professor in Berkeley. Bei Kroeber arbeitete zeitweise auch Sapir (s. bei diesem).

[65] In: American Anthropologist 31/1929: 138-140.

[66] In: American Anthropologist 37/1935: 539-569. Ein Nachklang dieser Kontroverse findet sich in einer Buchveröffentlichung von Kroeber: »Style and civilisations«, Ithaka, N.Y.: Cornell University 1957 (Reprint 1973 Westport, Connecticut: Greenwood 1973), wo B. nur an einer einzigen Stelle Erwähnung findet, als jemand bei dem keinerlei kulturtheoretische Systematisierung zu finden ist (S. 87).

[67] In: American Anthropologist 38/1936: 137-141.

[68] New York: Macmillan 1911 – auf deutsch unter dem eindeutigeren Titel »Kultur und Rasse«, Leipzig: Veit 1914. Nach dem zweiten Weltkrieg erschien die deutsche Ausgabe unter dem euphemistischen Titel: »Das Geschöpf des 6. Tages«, Berlin: Colloquium 1955. Der Titel war zwar dem von B. verwendeten Motto des Buches aus Genesis I entnommen, aber B.s Stoßrichtung, die positiven Befunde eben auch der anthropologischen Rassenkunde zu nutzen, war damit ins Gegenteil verkehrt worden.

[69] Dieser hatte nicht umsonst seiner Grammatik 1851 einen Anhang beigegeben: »Vergleichung der deutschen satzbildung (so!) mit der grönländischen« (S. 171-182) – und sich vor allem auch um eine Begrifflichkeit bemüht, die die projektiven Fallstricke der Schulgrammatik vermeiden sollte (z.B. mit der Explikation der ergativen Ausrichtung des Inuktitut-Satzbaus). Diese steht der Rezeption dieses genialen Werks bis heute entgegen.

[70] »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus«, in: A. Flitner (Hg.), »Werke« (5 Bde), Stuttgart: Cotta 1960-1981, Bd. 5: 418. W. von Humboldts Diktum wird zumeist als einer seiner »tiefen« Gedanken verrätselt; es richtete sich aber sehr handfest gegen die damalige Grammatikschreibung, die sich auf eine Laut- und Formenlehre beschränkte und syntaktische Fragen nur im Anhang zur Formenlehre (als Hinweise zur Verwendung der Formen) behandelte.

[71] S. sein programmatisches Vorwort dazu zum 1. Band, wieder nachgedruckt in seinem Sammelband »Race, Language and Culture«, 1940: 199-210. Während B. durch die dominierende theoretische Ausrichtung des Faches in den letzten 50 Jahren eher in den Hintergrund geriet, wird er mit der erneuten Hinwendung auf Sprachdokumentation (vor allem in Hinblick auf die bedrohten Sprachen) wieder als zentraler fachgeschichtlicher Bezugspunkt entdeckt, s. z.B. T. Woodbury, »Defining documentary linguistics«, in: P. K. Austin (Hg.), »Language documentation and description«, Bd. 1/2003: 35-51, oder G. Haig u.a., »Introduction«, in: ds. (Hgg.), »Documenting endangered languages«, Berlin: de Gruyter 2011:1-16. Bei B.s programmatischen Äußerungen ist es oft irreführend, Zitate ohne ihren Kontext auszudeuten. B. nutzte in diesem Text von 1917 den Terminus Linguistics in der Frontstellung zu der herkömmlichen Philologie – wie er gegebenenfalls an anderer Stelle in der Auseinandersetzung mit den Amateurforschern der Ethnologie ausdrücklich auf die Philology als professionelle Sprachforschung verweist.

[72] M. Emmeneau nennt ihn in diesem Sinne den Guru der US-amerikanischen Sprachwissenschaft, den Guruparampara der US Lehrer-Schüler-Genealogie, s. »Franz Boas as a Linguist«, in: Mem. Amer. Anthrop. Assoc. 61/1943: 35-36.

[73] So ausdrücklich in seiner Einleitung zum ersten Band des Int., J. Amer. Lingustics 1917: »beyond a certain point, the genealogical question has no meaning« (repr. in seinem Sammelband [1940]: 202).

[74] Die Analyse der »inner form of each language« (Handbook 1911: 81) ist für ihn gleichbedeutend mit einer strukturalen Analyse im Gegensatz zur Übertragung des grammatischen Modells einer Modellsprache in der Tradition der Missionarsgrammatiken. Er übernimmt den Terminus zwar aus der Humboldt-Steinthal-Tradition, nutzt ihn aber als deskriptive analytische Figur – ohne jede überzeitliche, essentialistische Konnotation, die er im deutschen Kontext hat (s. o.).

[75] In: »Studies in the History of Culture« (FS W.G. Leland), Freeport: Books for Libraries Press 1942: 178-184.

[76] In: »FS Meinhof«, Hamburg: Friedrichsen 1927: 386-391.

[77] In: »Transactions of the American Philosophical Society«, N.S., Bd. 37/3, 1947: 203-377.

[78] Diese figuriert unter ihrem späteren Namen Helene Boas-Yampolsky als Herausgeberin.

[79] S. dazu jetzt den ausdrücklichen Hinweis auf B. bei Nordlinger/Sadler in: Lg. 80/2004: 776ff.

[80] S. in diesem Sinne übereinstimmend die Zeugnisse seiner SchülerInnen in dem Gedächtnisband 1959. Anders ist es bei Erscheinungen des Sprachwandels, etwa Differenzen zwischen verschiedenen Generationen, die er genau registrierte, z. B. »Note on some recent changes in the Kwakiutl Language«, in: Intern. J. Amer. Ling. 7/1932: 90-93.

[81] In seinem Habilitationsantrag von 1896 bekannte er sich zur »fidem mosaicam«. Die gegenteilige Ansicht, die Markus Verne mit biographischen Daten geltend zu machen versucht (»Promotion, Expedition, Habilitation, Emigration. Franz Boas und der schwierige Prozess ein wissenschaftliches Leben zu planen«, in: Paideuma 50/2004: 79-99), kann nicht überzeugen. Verne stützt sich vor allem auf Briefe, bei denen er die spezifische Konstellation mit den Adressaten nicht berücksichtigt, die B. eine bestimmte Stilisierung abverlangten: Dazu gehört insbesondere auch die pathetische Selbstinszenierung gegenüber seiner Verlobten, immerhin der Tochter eines österreichischen Revolutionärs, die ihm im gleichen pathetischen Stil schrieb, nicht weniger als die Korrespondenz mit seinem Onkel, dem Altkommunisten Jacobi. In diesem Kontext war ein u. U. wehleidig deutbarer Bezug auf die antisemitischen Auseinandersetzungen nicht am Platz. In einem Brief an seine Schwester Antonie vom 8.12.1930 schreibt er ausdrücklich vom »anti-Semitism during my university years« als Grund für seine Auswanderung in die USA (neben anderen praktischen Gründen), wo er in dieser Hinsicht ein »ideal country« erwartete, Rohner 1969, a.a.O.: 295.

[82] Siehe Cole (Q) für Einzelheiten. Auszüge aus dem Briefwechsel mit dem Vater bei Cole (Q): 58-61. Zu seiner Rolle als Verbindungsstudent s. R. Girtler, »F. B. Burschenschaftler und Schwiegersohn eines österreichischen Revolutionärs von 1848«, in: Anthropos 96/2001: 572-577. Immerhin weigerte sich diese Burschenschaft 1933, ihren Bundesbruder als Nicht-Arier auszuschließen und wurde daraufhin aufgelöst.

[83] Siehe dazu Cole (Q) und Klukhohn/Pufer (Q) 1959: 22-24. B. widmete Virchow mehrere kleinere Arbeiten.

[84] S. »Race, Language and Culture«, New York: 1940, Nachdruck New York: Free Press 1966.

[85] »The Changes in the bodily form of descendants of immigration«, in: American Anthropologist 14/1912: 530-562, nachgedruckt mit anderen entsprechenden Arbeiten als 1. Teil seines Sammelbandes »Race...«, op. cit. 1940: 3-195.

[86] S. dazu Vernon J. Williams, »Rethinking Race: F.B. and his Contemporaries«, Lexington/Ky: Kentucky UP 1996.

[87] S. hier auch bei Goldstein.

[88] Jena: Fischer 1932, seine Festrede zum 50jährigen Doktorjubiläum in Kiel 1931, die er aktuell auf die bedrohliche Situation in Deutschland gemünzt hat, u. a. mit Hinweisen auf H.F.K. Günther u.a.

[89] S. Darnell 1998 (Q): 261-264.

[90] Offener Brief an Seine Excellenz Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, Präsident des Deutschen Reiches, Berlin, Germany, New York 27. März 1933. Der Brief ist im Archiv Boas überliefert, er wurde vermutlich auch in der New Yorker Staats-Zeitung am 16.4.1933 abgedruckt (sie war mir nicht zugänglich). Abgedruckt ist der Brief bei Rodelkamp 1994 (Q): 92-95.

[91] Tatsächlich hat er eine Fülle von z.T. sehr ausführlichen Leserbriefen, vor allen Dingen an die New York Times verfaßt, in denen er die deutsche Sache vertrat: In Plädoyers gegen den Kriegseintritt der USA seit 1916 bis zu Klagen über die unzumutbaren Verhältnisse in der französischen Besatzungszone, bei der er nicht frei von rassistischen Obertönen ist, wenn er als besonders beklagenswert ins Feld führt, daß die Besatzer nicht nur Franzosen waren, und auch nicht nur Marokkaner, sondern »pure negro types« (New York Times 20.10.1923). Daneben findet sich allerdings eine Fülle von Briefen, in denen er unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Unterdrückung vor allem von Intellektuellen anprangert und zu Protesten aufruft.

[92] Eine Folge davon ist wohl auch, daß einige dieser Schriften auch im interuniversitären Leihverkehr nicht zugänglich sind. Allerdings konnte ein Beitrag von ihm 1936 noch in der Festschrift für Tönnies erscheinen: »Die Individualität primitiver Kulturen« in: »Reine und angewandte Soziologie«, Leipzig: Buske 1936: 263-267.

[93] S. die Darstellung in dessen Nachruf in: Intern. J. American Linguistics 24/1958: 251-252.

[94] N. F. B. ist ein Enkel von B., das Buch ist vor allem auch wegen der vielen Fotos aus dem Familienarchiv interessant.