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Laufer, Berthold

Geb. 11.10.1874 in Köln, gest. 13.9.1934 in Chicago (Freitod).

 

L. stammte aus einer wohlhabenden Kölner Kaufmannsfamilie mit einem jüdischen Hintergrund (Walravens, Q), von dem schon bei den Eltern nicht geklärt ist, wie weit ihm noch eine religiöse Praxis entsprach; L. selbst hatte keine religiöse Bindung. Das elterliche Vermögen erlaubte ihm eine freie Entfaltung seiner Interessen: noch später in den USA sicherte es sein Leben, bis er 1908 eine feste Stelle mit Einkommen erhielt.

Nach dem Abitur 1893 in Köln studierte L. zunächst in Berlin Jura und Nationalökonomie, daneben aber auch Literatur- und Kunstgeschichte sowie orientalische Sprachen. Diese wurden dann zu seinem Studienschwerpunkt, für den er nach Leipzig wechselte. Von 1896 bis 1897 leistete er seinen Wehrdienst in Köln und promovierte danach 1897 in Leipzig mit einer Dissertation zum Tibetischen (s.u.). Bereits vor der Promotion publizierte er Beiträge mit völkerkundlichen Glossen vor allem in Kölner Tageszeitungen, wobei er seine enormen Sprachkenntnisse nutzte. Dabei waren jüdische Themen häufig, z.B. »Juden und Huzulen«,[1] wo er die Situation von Juden in einer bemerkenswert toleranten regionalen Gemeinschaft in der Ukraine (in der Karpartenregion) darstellt. Auch später sind jüdische Fragen in Verbindung mit allgemeinen Problemen des Rassismus für ihn ein wiederkehrendes Thema, wobei deutlich wird, daß seine Begeisterung für Ostasien auch eine Art Flucht vor dem erfahrenen Rassismus in Europa war. Wiederholt hat er sich so auch mit jüdischen Gemeinschaften in China und ihrer historisch anscheinend problemlosen Integration in die Gesellschaft befaßt, vgl. z.B. »A Chinese-Hebrew manuscript. A new source for the history of the Chinese jews«.[2]

Sein erster Forschungsschwerpunkt war das Tibetische, wobei die Faszination des Exotischen auch schon seine Dissertation bestimmt: »Klu ḅum bsdus pai sñiṅ po«,[3] die den Text mit einer Übersetzung und ausführlichen Kommentaren ediert, vor allem auch zur sprachlichen Form. Im Vorwort vermerkt er selbstbewußt: »die Wörterbücher haben mich mehr als einmal im Stich gelassen […] [aber] Lücken sind jedenfalls in der Übersetzung keine geblieben« (4*). Mit Vorliebe bearbeitete er obskure kleinere Texte aus dem tibetisch-mongolischen Kulturkreis, z.B. »Die Bru-ža Sprache und die historische Stellung des Padmasambhava«,[4] wo er die zum Teil etwas mystifizierenden Spuren einer ansonsten unbekannten Sprache in den Hinweisen in diesem tibetischen Text verfolgt, bei dem er eine dardische Sprache (also indo-iranisch) vermutet. In diesem Feld etablierte er sich bald als Autorität, wie insbesondere auch ein Auswahlband mit seinen Übersetzungen bei einem populärwissenschaftlichen Verlag 1922 zeigte.[5]

Seine Situation änderte sich 1898, als er über seinen Lehrer Grube vermittelt von Boas für die Jesup-Pazifik-Expedition engagiert wurde, der dafür einen Spezialisten für die sibirischen Sprachen suchte.[6] L. machte 1898-1899 umfangreiche ethnographische und Sprachaufnahmen in der Amur-Region und auf Sachalin, wo er paläosibirische Sprachen (Gilyak, Nivx), tungusische Sprachen und Ainu dokumentierte. Allerdings hat er die entsprechende Publikation nicht mehr fertiggestellt.[7] L.s Beitrag zu der Expeditionspublikation ist »The decorative Art of the Amur tribes« gewidmet (in Band 4/1902 der Gesamtpublikation, s. dazu bei Boas). Ergebnisse dieser Arbeiten fließen allerdings in eine ganze Reihe von Aufsätzen ein, die L. dazu veröffentlichte, z.B. »Die angeblichen Urvölker von Yezo und Sachalin« (1901),[8] mit einer heftigen Polemik gegen die üblichen rassistischen Projektionen, vor allen Dingen auch Ursprungsspekulationen über diese Völker; dazu gehört auch eine Reihe von sprachlich formalen Arbeiten, etwa »The vigesimal and decimal systems in the Ainu numerals« (1917),[9] wo er detailliert eine protophonologische Analyse der lautlichen Verhältnisse vorlegt, Kontraste von phonetischer Variation unterscheidet und in diesem Sinne »the spirit and laws of the language from within« (1105) analysiert.

Auf diese Arbeit geht insbesondere auch seine enge Verbindung zu Sapir zurück, der hoffte, mit L.s Hilfe seine Vorstellungen von einer transpazifischen sprachlichen Einheit belegen zu können, als Prärekonstruktion des von ihm angenommenen Na-Dene-Phylums und der sino-tibetischen Sprachen, vor allem auch auf der Basis der gemeinsamen Eigenschaft als Tonsprachen. Publiziert hat L. dazu nichts. Die entsprechenden Unterlagen liegen vermutlich noch in seinem Nachlaß.[10]

Nach Ablauf seines Vertrags bei der Expedition kehrte er 1900-1901 wieder nach Köln zurück (vermutlich zu seiner Familie - auch später, jedenfalls bis zum Weltkrieg, fuhr er wiederholt dorthin). 1901-1904 nahm er, wiederum vermittelt über Boas, an einer weiteren dreijährigen US-amerikanischen Expedition in China teil, die diesmal vor allen Dingen modernen Gegenständen, bis hin zu den Anfängen der Industrialisierung in China, galt. Er nutzte das vor allem auch zu umfangreichen Buchaufkäufen. Von 1905 bis 1907 erhielt L. bei Boas an der Columbia-University einen Lehrauftrag, der aber kein Erfolg war und ihm offensichtlich nur zeigte, daß eine universitäre Karriere für ihn nicht in Frage kam.[11] 1906 fungierte er als Hg. für eine Boas-FS.[12] Seit 1904 hatte er eine Stelle beim American Museum of Natural History in New York, aber erst 1908 erhielt er eine feste Stelle am Naturkundlichen Museum in Chicago, dessen asiatische Abteilung er betreute. Für dieses Museum unternahm er weitere Expeditionen: 1908-1910 nach Tibet und China, 1923 wiederum nach China. Trotz wiederholter Versuche gelang es ihm allerdings nicht, in Tibet einzureisen, sodaß sich seine Kontakte zu Tibetern auf China beschränkten. Diese Expeditionen lieferten umfangreiche Sammlungen, die er auch in seinen wissenschaftlichen Publikationen auswertete, zunehmend mit dem Schwerpunkt bei kunstgeschichtlichen Fragen. Dabei verfestigte sich seine Position am Chicagoer Museum, wo er seit 1915 Kurator war.

L. war ein ungeheuer produktiver Schreiber (Walravens listet in KS I, 1 490 Titel auf), mit einem breiten thematischen Spektrum, das in etwa auch die Vielfalt des in einem völkerkundlichen bzw. kulturhistorischen Museum in Vitrinen Ausgestellten spiegelt. Oft handelt es sich um Erläuterungen bzw. Hintergrundartikel zu den Exponaten, wobei auch die von ihm dabei behandelten sprachlichen Fragen geradezu weltumspannend sind: Sumerisch steht neben Ainu, Etruskisch neben Tungusisch, Tocharisch neben Sanskrit, im Schwerpunkt aber immer wieder China und Tibet, wodurch er sich als sinologische Autorität in den USA etablierte. Eine besondere Vorliebe hatte er für dekorative Kunstgegenstände, vor allem chinesische Jade-Plastiken.[13]

Sprachfragen konnte er dabei zum Teil sehr detailliert nachgehen, systematisch aber dienten sie ihm vor allen Dingen zum Nachweis, daß sich sprachliche Strukturen immer im Kulturkontakt stabilisierten; schwerpunktmäßig zeigte er dazu beim Tibetischen Einflüsse des Indischen bzw. Iranischen auf der einen Seite, auf der anderen Seite Einflüsse des Tibetischen im Mongolischen. Hier hat er auch sehr grundlegende Probleme behandelt, z.B. solche, die sich mit der phonetischen Interpretation der tibetischen Schrift befassen, die er auf der Basis von mehrsprachigen Doubletten im Sanskrit und im Chinesischen untersuchte, s. »Über das va zur. Ein Beitrag zur Phonetik der tibetischen Sprache« (1898),[14] verbunden immer mit einer Würdigung der einheimischen Grammatikertradition, gegen deren verbreitete eurozentrische Abwertung, s. »Studien zur Sprachwissenschaft der Tibeter. Zamatog« (1898),[15] oder auch als Zurückweisung jüngerer phantastischer Erklärungen der Herkunft der tibetischen Schrift in »Origin of Tibetan writing« (1918).[16]

Mit Boas argumentierte er so gegen die Projektion kulturgeschichtlich-evolutionärer Phantasien, auch zum Beispiel gegen die verbreiteten Vorstellungen von einem piktographischen Ursprung der chinesischen Schrift, die für ihn von Anfang an eine symbolische Funktion hat, wobei einige Zeichen nur sekundär bildlich motiviert wurden, s. »A theory of the origin of Chinese writing« (1907).[17] Bei den auf das Chinesische bezogenen Arbeiten spielten immer auch die Mandžu-Quellen eine zentrale Rolle, die für ihn auf eine fast symbiotische kulturelle Beziehung zum Chinesischen verweisen, s. seine »Skizze der manjurischen Literatur« (1908).[18] Wo es der Gegenstand erfordert, führte er auch sehr explizit strukturale Analysen durch, mit denen er die Projektion schulgrammatischer Konzepte angriff, z.B. in »The prefix A- in the Indo-Chinese languages« (1915),[19] wo er in einem großen arealen Raum (insbesondere auch im Vergleich mit den austroasiatischen Sprachen) Fragen der Wortbildung analysiert, und in diesem Fall eine expressive Bildung etymologisch ansetzt, gegen die gängigen Ansätze, die nach dem Modell der Schulsprachen mit Wortarten operieren, die für ihn bei diesen Sprachen nicht anzusetzen sind.

Auch bei seinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten stehen Kulturkontakte im Vordergrund, in denen er z.B. Wanderwörtern im ostasiatischen Raum nachgeht, wie bei der Etymologie von Schamane, in dem er ein solches Wanderwort im gesamten sibirischen Raum, einschließlich der Turksprachen, identifiziert: »Origin of the word Shaman« (1917).[20] Mehrfach hat er solche Beziehungen in diesem Raum auch in Zahlwörtern untersucht, z.B. »Jurči and Mongol numerals« (1921).[21]

L. war in den letzten Jahren krank und hatte auch häufig Depressionen; 1934 wurde er an einem Tumor operiert. Kurz darauf stürzte er sich am 13.9.1934 von dem Appartement-Hotel, in dem er wohnte, zu Tode.[22]

Q: V; NDB; DBE 2005; Nachrufe: W. Clark (u.a.), in: J. Amer. Oriental Soc. 55/1934: 349-362; J. Schubert, in: Artibus Asiae 4/1930-1932: 265-270 u. 5/1935: 83; K. S. Latourette, in: National Academy of Sciences of the United States of America Biographical Memoirs 18/1936: 43-68 (mit Bibliographie: 57-68); A. M. Hummel, in: American Anthropologist 38/1936: 101-111. H. Walravens (Hg.), »Kleine Schriften«, Bd. I, 1 (1976): 10*-12*, H. Field, in: KS II, 1: 20*-27*, Bibliographie in KS I, 1: 29*-80*; B. Bronson, »B. L.«, in: Fieldiana: Anthropology (Field Museum of Natural History, Chicago) , NS 36/ 2003:117-126.



[1] In: Israelisches Gemeindeblatt 8/1895, nachgedruckt in: »Kleine Schriften« II, 2: 1611-1612, L.s. Arbeiten werden im Folgenden nach den »Kleinen Schriften« als KS zitiert (H. Walravens, »Kleine Schriften von B. L«, Wiesbaden: Steiner, Bd. I, 1 1976; I, 2 1976; II, 1 1979; II, 2 1979; III 1985. Zur abgebrochenen Fortsetzung dieses umfangreichen Nachdruckunternehmens siehe das Vorwort zu Band III: 1).

[2] In: Amer. J. Semitic Languages and Literatures 46/1930: 189-197.

[3] Der erste Teil davon war die Leipziger Dissertation, erweitert publiziert in: Mémoires de la Société Finno-Ougrienne 11/1898 Helsinki.

[4] KS I, 2: 1225-1270.

[5] »Milaraspa: tibetische Texte«, Hagen i. W.: Folkwang 1922. In dieses Arbeitsfeld gehört auch eine Zusammenarbeit mit seinem Bruder Heinrich, der als Mediziner über die tibetische Medizin promovierte, wobei L. die von ihm genutzten Quellen für ihn übersetzte (s. Walravens, KS I, 1: 32*-33*, Nr. 41).

[6] S. dazu den Briefwechsel zwischen L. und Grube 1896-1897 in KS II. Bei Grube hatte L. sich u.a. intensiv mit dem Gilyak beschäftigt, siehe dazu seinen darauf bezogenen Beitrag (1898) in KS I, 1: 263-267.

[7] Siehe dazu K. Inoue, »Franz Boas and an ›unfinished Jesup‹ on Sakhalin Island: Shedding new light on Berthold Laufer and Bronislaw Pilsudski«, in L. Kendall u.a. (Hgg.), »Constructing cultures then and now: celebrating Franz Boas and the Jesup North Pacific Expedition«, Washington/D.C.: Smithonian Institute 2003: 135-164. I.s Behauptung, daß L. Piłsudskis Arbeiten nicht berücksichtigt hätte, werden durch die späteren Aufsätze von L. widerlegt.

[8] KS I, 1: 366-375.

[9] KS II, 2: 1089-1105.

[10] Die Auswertung dieses Nachlasses ist vor allem dadurch erschwert, daß er seine handschriftlichen Notizen in einer idiosynkratischen Kurzschrift verfaßt hat.

[11] S. seine Selbstaussagen in Briefen aus dieser Zeit, dokumentiert in KS II.

[12] »Boas anniversary volume: anthropological papers ; written in honor of Franz Boas ; presented to him on the 25. anniversary of his doctorate, 9. Aug. 1906«, New York: Stechert.

[13] Auch in der von ihm hg. Boas-FS (s.o.) war er mit einem kunstgeschichtlichen Beitrag vertreten: »The Bird-Chariot in China and Europe« (S. 410-424), in dem er der großräumigen Verbreitung eines Typs von Spielzeug (oder auch sakralen Gegenstands) nachgeht, von Ostasien bis zum Vorderen Orient und Europa.

[14] KS I, 1: 61-122.

[15] KS I, 1: 280-355.

[16] KS II, 2: 1181-1193.

[17] KS I, 2: 1022-1027.

[18] KS I, 2: 1295-1364. Hier hatte er wohl auch eine relativ enge Zusammenarbeit mit Zach, mit dem er z.B. eine große Bibliographie zur mandžurischen Literatur plante, s. die Hinweise bei ihm in KS I, 1: 49*.

[19] KS II, 2: 970-993.

[20] KS II, 2: 1140-1150. Gegen die auch heute noch in vielen etymologischen Wörterbüchern angebotene Kling-Klang-Etymologie aus einem indoarischen Wort. Ein solches kommt für ihn schon aus kulturellen und arealen Gesichtspunkten als Quelle nicht in Frage.

[21] KS II, 2: 1325-1328.

[22] Wohl nicht zuletzt aus Versicherungsgründen blieb die Frage, ob es ein Unfall oder Freitod war, strittig, s. die Meldung der Chicago-Daily-Tribune vom 15.9.1934 (»Open verdict found in death of scientist« ); weitere Zeitungsberichte dazu bei KS II, 1: 16*-19*.

Zuletzt aktualisiert am Montag, 29. Juli 2013 um 12:53 Uhr