Erkes, August Eduard
(früher: Agostino Edoardo Erkes)
Geb. 23.7.1891 in Genua (der Geburtsname war italianisiert: Agostino Edoardo; der Vater war »Kaufmann und Schriftsteller«), gest. 2.4.1958 in Leipzig.
E. studierte zunächst in Bonn im Hauptfach Geologie und Geographie; in diesem Kontext macht er 1910 eine »Forschungsexpedition« nach Island mit, über die er gemeinsam mit seinem Vater 1911 in Dresden einen geographischen Bericht publizierte. Seit 1911 studierte er in Leipzig Sinologie, Allgemeine Sprachwissenschaft, Kulturgeschichte und Völkerkunde. 1912 machte er eine private Studienreise nach China und Japan. Seit 1913 war er in der asiatischen Abteilung des Museums für Völkerkunde in Leipzig tätig (seit 1921 dort Kustos). Er promovierte 1914 und habilitierte 1917 in Leipzig bei dem Sinologen O. Conrady. Beide Qualifikationsschriften bringen mehr textinterpretierende und kulturgeschichtlich als philologisch erläuternde Übersetzungen altchinesischer Texte: die Dissertation »Das Zurückrufen der Seele (Chao-Hun) des Sung-Yüh. Text, Übersetzung und Erläuterungen«[1] – analysiert eine Totenklage aus dem 3. Jhd. v.d.Z., die E. vor allem auf die darin enthaltenen politischen Anspielungen; die Habilitationsschrift »Das Weltbild des Huai-Nan-Tze«,[2] eine Kosmologie aus dem 2. Jhd. v.d.Z. Mit Conrady, seinem späteren Schwiegervater, publizierte er auch gemeinsam; später betreute er dessen Nachlaß, z.B. »A. C., Das älteste Dokument zur chinesischen Kulturgeschichte T'ien-Wen, Die ›Himmelsfragen‹ des K'üh Yüan, abgeschlossen und hg. von E. E«.[3] 1928 wurde er zum a.o. Professor in Leipzig ernannt.
Aus politischen Gründen wurde er 1933 entlassen[4] und verlor auch seine Stelle am Völkerkundemuseum. Er lebte von unterschiedlichen Tätigkeiten weiterhin in Leipzig (seit 1943 dienstverpflichtet bei einem Leipziger Verlag). Trotz Publikationsverbot konnte er nach 1935 weiterhin publizieren.[5] Seine wissenschaftliche Leistung war wohl von Anfang an sehr umstritten.[6] 1925 war ein erster Antrag auf seine Ernennung zum a.o. Prof. aufgrund negativer auswärtiger Gutachten abgelehnt worden (wobei fachliche Gründe von politischen schwer zu trennen sind, s. Lambrecht, Q). Enge Verbindungen hatte er zu Bruno Schindler, mit dem er früh gemeinsam publiziert hat, z. B. »Zur Geschichte der europäischen Sinologie«,[7] bemerkenswert durch die harsche Kritik der internationalen Sinologie, die deutschen philologisch-sprachwissenschaftlichen Standards vorgeblich nicht standhält (v. d. Gabelentz wird auf S. 112 prominent herausgestellt) – oder, wie im Falle der USA, aus deutschen Emigranten besteht. 1936 stand E. in den Londoner Listen. Nach dem Krieg wurde er sofort wieder wissenschaftlich und publizistisch in Leipzig aktiv (zuerst in einem Zeitungsbeitrag in Leipzig am 24.5.1946). Nach der Wiedereröffnung der Universität hatte er dort wieder die sinologische Professur inne (seit 1947 als Direktor des ostasiatischen Seminars; zugleich war er wieder leitend im Völkerkundemuseum tätig). 1948 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Am 2.4.1958 ist er in Leipzig gestorben.
Er hat seit seiner Dissertation eine ganze Reihe philologischer Beiträge veröffentlicht, zumeist aber in Verbindung mit kulturgeschichtlichen und im weitesten Sinne landeskundlichen Themen. Schwerpunkte waren dabei der Taoismus und Lao-tse, neben allgemein historischen Arbeiten. Der systematischste sprachwissenschaftliche Beitrag ist wohl sein Ergänzungsband zur Neuveröffentlichung der Grammatik von Georg von der Gabelentz,[8] der auch allgemeine sprachtheoretische Bemerkungen enthält. Auf von der Gabelentz beruft er sich immer wieder für seine Sprachauffassung, die gegen die Verselbständigung der Formbetrachtung in der Schleicher-junggrammatischen Tradition Sprache im Zusammenhang mit der kulturellen Praxis zu analysieren versucht, die sich in ihr sedimentiert hat (er spricht von einer »dynamischen Sprachbetrachtung«).
In diesem Sinne hat er auf der Grundlage der Gabelentzschen Vorarbeiten das Leipziger Unternehmen zu einer chinesischen Paläographie aufgebaut, der er in den letzten Jahren seine Hauptarbeitskraft widmete (s. dazu seine Würdigung »Georg von der Gabelentz«[9] und als Beispiel für seine schriftetymologischen Rekonstruktionen »Die Profanisierung sakraler Zeichen in der chinesischen Schrift«);[10] s. dazu auch seine kulturgeschichtliche Argumentation zur frühen chinesischen Schrift- (bzw. Schreib-)Kultur, die das hohe Alter der chinesischen Literatur (über die materielle hinaus) plausibel machen soll: »The use of writing in Ancient China«.[11] Die dominierende kulturgeschichtliche Ausrichtung seiner Arbeiten beschreibt er in dem genannten Aufsatz über v. d. Gabelentz explizit als Frontstellung zur junggrammatisch-sprachwissenschaftlichen Haltung in seiner Studienzeit.[12]
Daneben entwickelte er eine umfangreiche populärwissenschaftliche Aktivität in Verbindung mit seinem politischen Engagement (1919 war er in die SPD eingetreten): außer daß er an der Leipziger Volkshochschule lehrte, hielt er auch Vorträge auf Parteiveranstaltungen. Die Grundpositionen des marxistischen Zentrums vertrat er engagiert auf zahlreichen Gebieten, insbesondere auch in einer materialistischen Sprachtheorie im Anschluß an Engels und Kautsky, s. etwa »Die altchinesischen Farbbezeichnungen. Ein Beitrag zur materialistischen Geschichtsauffassung«[13] – im gleichen Sinne berief er sich später auf Stalin (s. etwa den Aufsatz über v. d. Gabelentz 1954, bes. S. 390). Von dieser Position aus verfaßte er zahlreiche »aufklärerische« Werke, u.a. eine atheistische Streitschrift (1924), sowie vor allem zahlreiche Beiträge in Tageszeitungen gegen den Rassismus/Antisemitismus, wobei er die Konstruktionen des wissenschaftlichen Rassismus in der Sprachwissenschaft aufspießte, s. bes. seine Artikelserie »Rassentheorien und Sozialismus«[14] oder vorher »Rasse und Judentum«,[15] wo er gegen jede Spielart des Fundamentalismus (»angeborener Rassencharakter«, »angeborene Ideen« u. dgl.) angeht und kulturelle Manifestationen als Produkt der sozialen Praxis und insofern als veränderbar definiert. An die Adresse der »nordischen Germanentümler« betont er die kulturelle Leistung von ethnischen Mischungen, bes. den Beitrag der Juden zur europäischen Kultur, und die weltgeschichtlich überragende Leistung Chinas! Zu China verfaßte er daneben zahlreiche populärwissenschaftliche Darstellungen. Nach 1945 führte er sein politisches Engagement fort – jetzt als Mitglied der SED, für die er auch kulturpolitische Aufgaben übernahm. Dazu gehörte auch, daß er unmittelbar nach dem Krieg das sinologische Institut an der Berliner Humboldt-Universität bis zur Wiederbesetzung der Professur dort verwaltete (s. Finsterbusch, Q). Auch in den letzten Jahren veröffentlichte er populärwissenschaftliche Arbeiten zu China, zuletzt noch einen Reisebericht zu seiner letzten China-Reise 1954-1955. Auch bei seiner offenen Bewunderung für das China Mao-Tse-Tungs hielt er seine Idealisierung des konfuzianischen Chinas gegen eine dogmatische Sicht des »Historischen Materialismus« durch.
Q: V; LdS: unplaced; F. Gruner, »E. E. (1891-1958)«, in: Namhafte Hochschullehrer der Karl-Marx-Universität Leipzig, H. 1/1982 (Leipzig: Universität): 81-90. Eine FS für E. ist in Leipzig geplant gewesen, aber nicht erschienen, s. Wiss. Z. Karl Marx Univ. Leipzig 9/1959-1960, Ges. Spr.wiss. R., H. 4, dort S. 661-665 sein Schriftenverzeichnis.
Nachrufe: K. Finsterbusch, in: Artibus Asiae 21 (2)/1958: 167-170; R. Schwarzer, in: Jb. d. Museums f. Völkerkunde zu Leipzig 33/1981: 4-9. Hanisch 2001: 15; Leibfried 2003: 84ff., 100ff., 146-153, 170-181; Parak 2004; Lambrecht 2006: 65-67; Hinweise von H. Walravens.
[1] Leipzig: Drugulin 1914.
[2] In: Ostasiat. Z. 5/1916: 27-80.
[3] Leipzig: Asia Major 1931.
[4] Nach § 4 des Beamtengesetzes, s. Gerstengarbe 1994: 29.
[5] Regelmäßig in Artibus Asiae , die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Leipzig, sondern in Ascona erschien, später dann in New York; außerdem in den in Leiden erscheinenden T'oung pao und in China in den Min-hsien-yüe-k'an.
[6] Kritische Stellungnahmen gab es auch aus China, s. Wallravens in: Elvert / Nielsen-Sikora (2008: 523), der Zach hinter einem solchen polemischen Werk vermutet.
In: Ostasiat. Z. 5/1916: 105-15.
[7] »Chinesische Grammatik. Nachtrag zur Chinesischen Grammatik von G. v. d. G.«, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1956.
[8] In: Wiss. Z. Karl Marx Univ. Leipzig 3/1954, Ges. Spr.wiss. R., H. 4: 385-392, bes. S. 388a.
[9] ebd. S. 413-415.
[10] In: J. of the Amer. Orient. Soc. 61/1941: 127-130.
[11] In den fachgeschichtlichen Überblicken wird E. auch nur mit seinen literatur- und kulturgeschichtlichen Arbeiten registriert, s. etwa Franke 1968.
[12] In: O. Jenssen (Hg.), »Der lebendige Marxismus. FS K. Kautsky«, Jena: Thüringer Verlagsanstalt 1924: 333-343.
[13] In: Feuilleton der Leipziger Volksz. vom 23.2.; 3.3.; 5.3. und 10.3. 1923.
[14] In: Freiheit Nr.154 vom 3.6.1921.