Sandmann, Manfred
Geb. 2.6.1906 in Rosenberg (Westpreußen), gest. 12.11.1980 in Berkeley/Kalifornien.
Nach dem Abitur 1924 im Zoppot (bei Danzig) begann er ein philologisches Studium zunächst in Danzig, dann in Jena und schließlich in Bonn, wo er 1929 promovierte. Danach war er von 1929 bis 1932 in Danzig im Schuldienst, ging aber 1933 mit einem Stipendium als Austauschstudent nach Spanien, wo er zugleich auch an einer deutschen Abteilung unterrichtete und später in Madrid am Historischen Institut bei dem dort führenden Hispanisten R. Menéndez Pidal als Assistent tätig war. Der Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs zwang ihn 1937 vorübergehend nach Deutschland zurückzukehren, wo er als rassistisch Verfolgter aber keine Anstellung fand.[1] Daher emigrierte er 1938 nach England, wo er zunächst einen Lehrauftrag an der Universität London hatte, dann von 1938 bis 1950 in Glasgow Französisch lehrte, zunächst auf einer Assistentenstelle, seit 1941 als Dozent. Dort, bzw. in Edinburgh, absolvierte er nochmals die akademischen Prüfungen (1945 M.A., 1949 D. Litt.). 1950-1960 war er Prof. für Moderne Sprachen in Kingston, Jamaika.[2] Von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1973 hatte er eine Professur für französische und romanische Philologie in Berkeley, der 1959 dort eine Gastprofessur vorausgegangen war. In dieser Zeit nahm er wiederholt Gastprofessuren in Westdeutschland wahr.
Seine Dissertation »Die Bezeichnungen der Meise in den romanischen Sprachen«[3] bei Meyer-Lübke folgt traditionellen onomasiologisch-etymologischen Fragestellungen. Das vor allem mundartlich (aber auch in Ortsnamen, bedingt durch die frühere Bedeutung des Meisenfanges) erhobene Material ist nach Etyma gegliedert, wobei vor allem der Gegensatz von romanischen Wörtern (Fortsetzer von PARRA u. dgl.) gegenüber germanischen (Verwandte von Meise wie frz. mésange) auf der einen Seite (»Evolutionsformen«) und spontanen Neubildungen (»Eruptionsformen«) auf der anderen Seite im Vordergrund steht.
S. hat sich auch später noch als Schüler Meyer-Lübkes bezeichnet (s. etwa vom ihm »Eine übersehene Äußerung Meyer-Lübkes zur u > ü Frage«).[4] Der Horizont seiner Arbeiten entspricht so auch den Diskussionen der 20er/30er Jahre: einerseits das Bemühen um eine allgemeine sprachtheoretische Reflexion, die mit psychologischen Prämissen sprachliche Konstanten (in heutiger Terminologie: »Universalien«) sucht und sich dabei von »logischen« Schematismen einer älteren Tradition abhebt, andererseits mit dem Versuch, die einzelsprachspezifischen Befunde kulturgeschichtlich zu interpretieren und so eine durchaus strukturell verstandene Beschreibung in den Dienst der Darstellung des »Genies« einer Sprache im Vosslerschen Sinne zu stellen.
Seit seinen englischen Jahren bemühte er sich zunehmend um eine theoretische Begründung sprachwissenschaftlicher Analysen, so zuerst systematisch in einem Aufsatz 1941: »On linguistic explanation«.[5] Hier bemüht er sich um eine Harmonisierung der strukturalistischen Methodenreflexion mit der junggrammatischen Analysetradition, vor allem der etymologischen Forschung.[6] Es handelt sich für ihn um eine Verschiebung der Perspektive, die durch die systematische Kontrolle (zwangsläufig in einem synchronen Feld) die Verhältnisse durchsichtiger macht – eben auch bei der diachronen Erklärung. Ergebnis dieser Neuorientierung war seine Glasgower Dissertation (1949) »Subject and Predicate«,[7] wo er im Rückgriff auf die neueren sprachphilosophischen Ansätze bei Husserl und funktionalistische Ansätze bei Bühler die grammatische Analyse als Artikulation des Denkens bestimmt, vermittelt über die genuin sprachliche Ebene der Repräsentation. Mit dieser Differenzierung des Verhältnisses von Sprache und Denken kommt er zu bemerkenswerten Klärungen in dem Feld, das bis heute zu Unklarheiten nicht nur in der muttersprachlichen Grammatikreflexion führt: Subjekt und Prädikat, Wortarten (Nomen und Verb) und dgl. mehr. Einen Querschnitt durch sein Œuvre bietet der (von ihm selbst zusammengestellte) Sammelband: »Expériences et critiques. Essais de linguistique générale et de philologie romane«.[8] Charakteristisch ist nicht nur das Spektrum der behandelten Gegenstände, zu dem (selbstverständlich!) literarische Themen (vor allem aus dem Bereich der altfranzösischen und altspanischen Epik) gehören, sondern auch die Dominanz von Etymologie/Wortgeschichte und Syntax/Stilistik. Hier sind die gängigen Themen der damaligen Diskussionen bis heute durchgehalten: die Frage der Grammatikalisierung/Entgrammatikalisierung als Grenzziehung von Syntax und Stilanalyse, der Rekurs auf die Intonation als integrativer Kraft der Äußerung als Grundbegriff der Syntax in Abgrenzung zu einem logischen Satz- (bzw. Urteils-) Begriff u. dgl.
In der Wahl seiner Autoritäten war S. außerordentlich offen bzw. eklektisch: Strukturalisten europäischer Orientierung (de Saussure, Bally, Hjelmslev u.a.) figurieren dort genauso wie die Amerikaner (insbes. Bloomfield), wie auch andere Traditionen (von Cassirer bis Weisgerber, Vossler bis Koschmieder und Otto...). In der Abgrenzung zum junggrammatischen Positivismus präsentierte sich S. emphatisch als modern (wofür bei ihm der Rekurs auf das Instrumentarium der Phonologie genauso steht wie die Sprachgeographie) – und so propagierte er in einem Gastvortrag 1967 in München emphatisch strukturale Verfahren[9] – wobei er (nicht ohne Grund) die syntaktischen Grundannahmen der Generativen Transformationsgrammatik darunter subsumiert (s. bes. a.a.O., S. 48). Er schätzte offensichtlich die späten Gastaufenthalte in Deutschland, bei denen er die Gelegenheit hatte, wieder deutsch zu sprechen und zu publizieren, s. auch seinen Aufsatz »Das Klangbild der französischen Sprache«,[10] in dem er eine charakterisierende lautliche Typologie skizziert, mit dem Ausgangspunkt bei der Prosodie, aber mit Blick auf die Konsequenzen für die so bestimmte Sprachpraxis (z. B. mit unterschiedlich präferierten Kalauern in den verschiedenen Sprachgemeinschaften, S. 30-31).
In seinen an breitem Material vorgeführten Explorationen zu grammatischen Kategorien wie Genus, Numerus, Tempus u.a. (meist kursorisch im Sprachvergleich erarbeitet) entwickelte er einen funktionalistischen Ansatz, der in der Unterscheidung von Form und Funktion das Problem der grammatischen Bedeutung als relativ eigenständige Größe herausarbeitet – und zwar gerade auch in Hinblick auf grammatische »Umkategorisierungen«, die für die Stilanalysen grundlegend sind. Eine gewisse Wirkung hat vor allem sein Aufsatz »Substantiv, Adjektiv-Adverb und Verb als sprachliche Formen. Bemerkungen zu einer Theorie der Wortarten« gehabt,[11] der für die neuere »funktionale« Grammatikdiskussion in Deutschland wichtig wurde, wie insbesondere sein Nachdruck in H. Moser (Hg.), »Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik«[12] zeigt.
In den Nachkriegsjahren griff er bei seinen Publikationen auf deutsch bzw. in Deutschland (häufig auch in Festschriftbeiträgen) systematisch mit einer Methodenkritik in die theoretisch reichlich unterbelichtete dortige Diskussion ein. Er behandelte die unterschiedlichen Felder der neueren strukturalen Sprachwissenschaft, z.B. die Phonologie in einer ausführlichen Besprechung zu Martinet (»Phonologie und traditionelle Sprachwissenschaft«),[13] wo er zugleich aber auch kritische Anmerkungen anbringt gegenüber einer zu schematischen Modellierung; bemerkenswerterweise führt er gegen Martinet auch Elise Richter ins Feld (deren systematisch analysierte Prosodie, S. 433). Im Vordergrund stehen bei ihm syntaktische Analysen, wobei er z.T. auch mit systematischen Forschungsüberblicken Fragen seiner englischen Dissertation wieder aufnimmt, so z.B. zum Problem der Koordination in: »Die Zusammenziehung einfacher S-P Fügungen«.[14]
Dabei kann er in großer Schärfe die theoretisch zurückgebliebene Handbuchliteratur kritisieren, so z.B. bei einem anderen Meyer-Lübke-Schüler, Gamillscheg, s. »Eine neue historische Syntax des Französischen«.[15] Er zeigt, daß Gamillscheg da, wo er brauchbare Analysen liefert, gewissermaßen struktural zu interpretieren ist (i. S. von Grammatikalisierungs-/Degrammatikalisierungsprozessen, S. 4), über den Details aber die Zusammenhänge nicht sieht, die nur eine methodisch-theoretisch geklärte Herangehensweise zugänglich macht (z.B. in einer detaillierten Re-Analyse der Markierungen von Objekten: (In-)Defintheit etc., S. 26ff.). In der Isolation von Beispielsätzen kann die Dynamik der Entwicklung, die in Hinblick auf Registerdifferenzierungen faßbar wird, nicht in den Blick kommen – hier verweist S. auf die von Gamillscheg weitgehend ignorierten Arbeiten Spitzers (z.B. S. 13), Lerchs (S. 16) und immer wieder auf Havers. Im Vordergrund standen bei ihm seit seinen frühen Arbeiten die Grenzbereiche von Syntax zu Stilistik, wie z.B. bei seiner Rezension von von Wartburg/P. Zumthor.[16] Seine Schüler haben ihn 1983 mit einer Gedenkschrift gewürdigt (»Le Gai Savoir«, Q), bei der allerdings auffällt, daß im engeren Sinne sprachwissenschaftliche Beiträge fehlen.[17]
Q: V; H. Christmann, »Zum Gedenken an Manfred Sandmann (1906-1980)« in: Z. rom. Ph. 102/1986: 721-728; Christmann/Hausmann 1989; Y. Malkiel, [Nachruf], in: Rom. Ph. 35/1982: 515-522; ds. u.a., in: »University of California: In Memoriam, 1985«: 357-359, Gedenkschrift: M. Cranston (Hg.), »Le Gai Savoir. Essays in linguistics, philology, and criticism, dedicated to the memory of M. S.«, Potomac: Studia Humanitatis 1983, mit Lebenslauf und Teilbibliographie. Die Würdigung von S. durch M. Cranston (S. 1-8) und C. L. Stanford (S. 9-16) gelten weniger der Person denn dem wissenschaftlichen Werk.
[1] Er lebte von Nachhilfestunden, s. seinen Brief an Vossler vom 15.3.1937, abgedruckt bei Hausmann 2000: 233. Zu seinem Selbstverständnis als rassistisch Verfolgter gehört auch, daß seine Witwe in einem Schreiben an die Bibliographia Judaica vom 7.9.1983 darauf bestand, daß S. dort nicht aufgeführt werde.
[2] Diese Stelle wurde ihm noch über das britische Hilfskomitee für vertriebene deutsche Wissenschaftler vermittelt, s. Bentwich 1953: 70 und 102. Nach Malkiel (Q) waren gesundheitliche Gründe für den Wechsel ausschlaggebend, da S. unter Asthma litt und das englische (schottische) Klima nur schwer ertrug.
[3] Bonn: Neuendorff 1929.
[4] In: S. Horl u.a. (Hgg.), »Homenaje a Rodolfo Grossmann. Festschrift zu seinem 85. Geburtstag«, Frankfurt/M.: Lang 1977: 449ff.
[5] In: Mod. Lg. Rev. 36/1941: 195-212.
[7] Publiziert 1954: Edinburgh UP.
[8] Paris: Klincksieck 1973.
[9] Der Vortrag ist nachgedruckt in dem erwähnten Sammelband 1973: 35-48.
[10] In: Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 7, München 1976.
[11] In: Idg. F. 57/1940: 81-112. Im übrigen ein Beleg für die relative Offenheit der damaligen Indogermanischen Forschungen gegenüber der internationalen Diskussion: einem Emigranten gegenüber, bes. aber auch thematisch, da S. sich dort explizit mit strukturalen Ansätzen (der Prager Schule, Saussure-Bally, Bloomfield, Hjelmslev etc.) auseinandersetzt – und »personae non gratae« zu seinen Standardreferenzen gehören (von Bühler bis Vossler).
[12] Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965: 186-216.
[13] In: Z. rom. Ph. 74/1958: 431-440.
[14] In: »Sprache und Geschichte. FS H. Meyer«, München: Finck 1971: 427-442.
[15] In: Rom. F. 76/1964: 1-43.
[16] In: Arch. Ling. 2/1950: 81-89.
[17] S. auch die Besprechung dieser Gedenkschrift in Verbindung mit einem Nachruf in Christmann 1986 (Q).