Fiesel, Eva
(geb. Lehmann)
Geb. 23.12.1891 in Rostock, gest. 27.5.1937 in New York.
Mit ihrem Vater, dem Juraprofessor Karl Lehmann (1858-1918), kam F. 1911 nach Göttingen, wo sie Geschichte und klassische Philologie, später auch vergleichende Sprachwissenschaft studierte. Im Ersten Weltkrieg tat sie Dienst als Hilfsschwester in Lazaretten; 1915 heiratete sie und nahm den Namen ihres Mannes an. Nach dem Krieg setzte sie ihr Studium in Rostock fort, wo sie 1920 mit einer Preisschrift der Universität über das Etruskische (s.u.) promovierte. 1924 ging sie mit ihrem Lehrer Gustav Herbig (1868-1925) nach München, wo sie wohl eine Habilitation in der Germanistik anstrebte (bei Fritz Strich, zu dem sie schon vorher entsprechenden Kontakt aufgenommen hatte, s. Häntzschel, Q) und 1931 als Nicht-Habilitierte einen Lehrauftrag für Etruskologie am Indogermanischen Seminar erhielt.[1] Ihren Lebensunterhalt (als geschiedene alleinerziehende Mutter einer Tochter!) verdiente sie mit Hilfskrafttätigkeiten an der Universität (u.a. bei den Juristen) sowie lexikologischen Aktivitäten zu Gegenständen des Klassischen Altertums; u.a. arbeitete sie auch gemeinsam mit M. P. Groth am Thesaurus Linguae Latinae. Außerdem erhielt sie ein Stipendium der Notgemeinschaft (Vorläufer der DFG), Anfang 1933 auch der Rockefeller Foundation.
1933 wurde der Lehrauftrag aus rassistischen Gründen aufgelöst (F. war wie ihre Eltern keine praktizierende Jüdin, sondern protestantisch), wogegen es immerhin zu einer Protestaktion von Studierenden am Seminar[2] und Fachkollegen (u.a. von Debrunner) kam. Ende 1933 emigrierte F. zunächst nach Italien, wo sie in Florenz weiter zum Etruskischen arbeitete,[3] Ende 1934 weiter in die USA; beides ermöglicht durch das Rockefeller-Stipendium.[4] Von 1934-1936 war sie Forschungsassistentin in Yale, 1936-1937 Gastprofessorin in Bryn Mawr. Als es sich als unmöglich erwies, F. wegen ihres Spezialgebietes auf eine feste Stelle in den USA zu vermitteln, spendeten auf Initiative von E. H. Sturtevant eine Reihe von Kollegen ein Grundkapital für eine persönliche Stiftungsprofessur in Bryn Mawr, das daraufhin von anderen Stiftungen (insbes. wieder der Rockefeller Foundation) im nötigen Umfang aufgestockt wurde.
Ihre von der Rostocker Universität preisgekrönte Dissertation »Das grammatische Geschlecht im Etruskischen«[5] untersucht in einer Fallstudie zu femininen Namen die für die sprachtypologische Zuordnung des Etruskischen kritische Frage, ob dieses über eine morphologische Genus-Kategorie verfügt. Im Gegensatz zu den in der oft reichlich dilettierenden Etruskologie damals üblichen ad-hoc Gleichungen aufgrund formaler Ähnlichkeiten mit lateinischen oder griechischen Formen wertete sie das zugängliche Corpus der Inschriften vollständig aus (die größeren Texte schieden für sie aus, weil nicht interpretierbar). Daraus wählte sie die einigermaßen gesicherten Formen mit anzunehmendem femininen Sexusbezug aus (Bezeichnungen für weibliche Gottheiten, Vornamen, Gentilnamen – und bei formaler Entsprechung einige Appellativa). Methodisch wichtig ist ihre Rekonstruktion der Inhomogenität des Corpus, vor allem in diachronischer Sicht: Genus-Motion findet sich in (vor allem späten) Lehnwörtern; während die älteren Formen durch deren Fehlen bestimmt sind. Daraus folgerte sie die Übernahme der grammatischen Genuskategorie aus der italischen Sprachumgebung bzw. generell im morphologischen Bereich eine graduelle Assimilation des (von ihr so typologisch als nicht-indoeuropäisch bestimmten) Etruskischen an die indoeuropäischen Sprachen in einer kulturell zunehmend integrierten Umgebung. Diese Arbeit zeigt deutlich ihre Motivation, sich der Etruskologie zu widmen, die sich auch in ihrem Nachruf auf ihren Lehrer Herbig spiegelt, [6] wo sie das Bild einer strengen, rein auf Formanalyse bezogenen Forschung entwirft.[7]
Die gleiche Richtung verfolgte sie in einer späteren Arbeit weiter: »Namen des griechischen Mythos im Etruskischen«,[8] bei der sie das Corpus um rückseitige Spiegelinschriften erweiterte, die durch die Verbindung mit mythologischen Darstellungen interpretierbar sind. Sie kann hier in der Adaptierung griechischer Lehnformen phonologische und morphologische Strukturen des Etruskischen rekonstruieren – und zugleich durch den Nachweis der Herkunft dieser Formen aus einem westgriechischen Dialekt (entsprechend auch zu der anzusetzenden Entstehung des etruskischen Alphabets) einen indirekten Beitrag zur griechischen Dialektologie leisten, wie Krahe in seiner lobenden Rezension betonte.[9] Obwohl es auch negative Besprechungen gab,[10] wurden ihre Arbeiten generell als gerade auch methodisch bahnbrechend für die Etruskologie gerühmt.[11]
In der internationalen Etruskologie etablierte sie sich mit ihrem Vortrag »Die Bedeutung der relativen Chronologie für die etruskische Sprachforschung« auf dem Kongreß in Florenz 1928.[12] Basierend auf den Ergebnissen ihrer Dissertation argumentierte sie gegen die globale Vergleichung von beliebigen etruskischen Formen mit solchen anderer Sprachen (im Sinne einer spekulativen Prärekonstruktion), die die methodisch nötige und mögliche interne Rekonstruktion etruskischer Entwicklungsgesetze relativ zu der sieben Jahrhunderte umfassenden Überlieferung überspringt. Das Protokoll vermerkt explizit den Erfolg ihrer Intervention: »i congressisti approvano senza eccezione che il Congresso esprima la sua adesione alla Communicazione« (S. 189).
Entsprechend ergingen auch Einladungen an sie, das Etruskische in Handbuchartikeln darzustellen, s. z.B. den Teil »Etruskisch« in dem Sammelwerk »Geschichte der indogermanischen Sprachwissenschaft«;[13] sie betreute zeitweise den etruskologischen Referateteil der »Indogermanischen Forschungen« (s. hier bei Debrunner). Ein Beispiel für ihre lexikologischen Arbeiten ist die gemeinsam mit M. P. Groth verfaßte Studie »Etruskisch TUPI und lateinisch TOFUS«,[14] die mit formal-etymologischen ebenso wie sachgeschichtlichen Argumenten die Wortgeschichte aufhellt, der auch dt. Tuff(-Stein) angehört. Zu ihren letzten Arbeiten in den USA gehören Entdeckungen bei der Entzifferung der Schrift.
Nicht in das Bild einer streng positivistischen Sprachwissenschaftlerin paßt ihr Buch »Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik«,[15] mit ausgiebigen Exkursen in die Literaturwissenschaft, wie es auch das Vorwort mit einem Dank an Fritz Strich zum Ausdruck bringt (dessen Lehrtätigkeit in München neben dem Weggang ihres Lehrers Herbig aus Rostock nach dort wohl schon einer der Gründe für ihren Umzug war, s.o.); es ist ein »geistesgeschichtlicher« Versuch zur Rekonstruktion der Sprachreflexion vom Ende des 18. Jhdts. bis zur Mitte des 19. Jhdts. in Deutschland. Mit einem großen Reichtum an Belegen (von Literaten wie Novalis über Philosophen wie Fichte bis zu Philologen wie Grimm) exploriert sie dort den Wandel im intellektuellen Diskurs über Sprache, der – wie sie deutlich macht – nicht zuletzt die Entwicklung der Philologie von Schlegel und Bopp über Pott und Grimm bis zum Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. strukturiert. Sie zeigt das an den Verschiebungen der Gewichtung zentraler Topoi, wie etwa dem von der Antinomie von subjektivem Inhalt (»innere Sprache«) und konventionalisiertem Ausdruck (»äußere Sprache«), der die mystischen und zivilisationskritischen Spekulationen der frühen (»transzendentalen«) Romantiker bestimmte – gegenüber der Entpoetisierung der Sprache der späten Entwicklungen, die den Ort der Reflexion nicht beim einzelnen Subjekt, sondern bei der Sprachgemeinschaft sahen, in der Historisierung der Reflexion auf die Nation bezogen, oder sogar wie beim Jungen Deutschland auf die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft (so etwa in der Auseinandersetzung mit der Volksbildung bei der Emphase auf der Hochsprache, z.B. in Abgrenzung vom Plattdeutschen bei Wienbarg, S. 237 ff).[16]
So sehr dieses Buch aus dem Rahmen ihres sonst »streng«-sprachwissenschaftlich-philologischen Œuvres herausfällt, so wichtig war es für F.s Selbstverständnis, die hier für sich selbst versuchte, ihr Verhältnis zu der positivistisch-junggrammatisch verkürzten akademischen Sprachwissenschaft abzuklären. F. pendelte offensichtlich zwischen den beiden Extrempolen der Sprachforschung: mit ihren etruskologischen Forschungen in einem Feld, das nur Formen hatte, die nicht deutbar waren (etruskische Texte können mangels Bilinguen nicht gelesen werden), während sie mit dieser Arbeit sprachtheoretische Reflexionen explorierte, die sich von der Bindung an die sprachliche Form freimachten. Dabei hatte sie sich an (literaturwissenschaftlichen) Arbeiten von Fritz Strich orientiert, ihr Habilitationsvorhaben aber offensichtlich aufgrund der Münchener Randbedingungen aufgegeben (s. dazu Häntzschel, Q) – und wohl auch daher bei dem Buch auf den üblichen wissenschaftlichen Apparat verzichtet. Anregungen zur Beschäftigung mit diesem Thema erhielt sie vielleicht aber schon von ihrem Lehrer Herbig, bei dem sie in München im Kolloquium auch sprachphilosophische Texte las (sie erwähnt dort explizit Cassirer). Umso mehr irritierte sie die (neben ansonsten eher wohlwollender Aufnahme in den Rezensionen) harsche Kritik von W. Benjamin in der Frankfurter Zeitung vom 26.2.1928, die wohl B.s eigener Ambivalenz einem solchen Unternehmen gegenüber geschuldet ist (s. bei diesem); vgl. aber auch die analoge Kritik als systematisch zu wenig durchgearbeitet von anderen Positionen aus wie bei Mautner [17] oder Meillet,[18] s. Häntzschel (Q) für die widersprüchliche Rezeption dieses Werks.
In den USA verstand sie sich durchaus als Sprachwissenschaftlerin, die in Bryn Mawr mit Unterstützung der Rockefeller Foundation das Graduiertenstudium mitaufbaute – und nach Berichten dabei »sehr glücklich« gewesen sein soll (so der Präsident von Bryn Mawr an die Stiftung mit der Mitteilung ihres Todes). Sie veröffentlichte noch kleinere etruskologische Arbeiten, mit denen sie Bestände US-amerikanischer Museen aufarbeitete. So ihre Untersuchung des Zeichens X (»X represents a Sibilant in Early Etruscan«).[19] Wie sie durch die graphische Variation in etruskischen Inschriften zeigt, kann dieses Zeichen nur noch einen Sibilanten bezeichnet haben (nicht ks wie in der westgriechisch-lateinischen Tradition); diesen Befund stellte sie dann in den Horizont der vergleichbaren Überlieferungsstränge »kleiner« italisch-mediterraner Sprachen. Sie beteiligte sich an der sprachwissenschaftlichen Öffentlichkeit (in dem zuletzt genannten Aufsatz dankt sie schon Sturtevant für Anregungen): so hielt sie auf dem Kongreß der Linguistic Society of America einen Vortrag über »The Chronology of Changes in Latin« (s. LSA Bulletin 1936, S. 20).
1937 verstarb sie nach einer kurzen Krankheit – ansonsten in einer Situation, in der sie dank wissenschaftlicher Freizügigkeit das erreicht hatte, was sie wollte: für, in und von ihrer Wissenschaft leben zu können.
Q: BHE; DBE 2005; Archiv Rockefeller Foundation; Nachruf von G. Devoto in: Studi Etruschi 11/1937: 555-558 (mit einer Bibliographie von M. P. Groth); H. Häntzschel, »Die Philologin E. F.«, in: Jb. der Schillergesellschaft 38/1994: 339-363 (gekürzt auch in: H. Häntzschel, in: H. Häntzschel/H. Bußmann (Hgg.) 1997: 242-247); C. Wilke: »Forschen, Lehren, Aufbegehren. 100 Jahre akademische Bildung von Frauen in Bayern«, (Begleitband zur Ausstellung), München: Herbert Utz 2003: 101-102.
[1] Im BHE wird sie fälschlich als Privatdozentin aufgeführt. Ich folge hier und im weiteren dem detailliert dokumentierten Artikel von H. Häntzschel (Q.).
[3] Ihre Münchner Hilfskraft Gabriele Schöpflich, später Hoenigswald, emigrierte gemeinsam mit ihr.
[4] Damit folgte sie ihrem Bruder Karl Lehmann(-Hartleben) (1894-1960), der 1933 als Professor für Archäologie in Münster aus rassistischen Gründen entlassen worden war. Seit 1935 hatte dieser eine Professur in New York.
[5] Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1922 (= Forschungen zur griechischen und lateinischen Grammatik H.7).
[6] In: Idg. Jb. 11/1926: 573-586. Gustav Herbig (geb. 1868) hatte bis zu seinem Tod 1925 die Münchener Professur für indogermanische Sprachwissenschaft inne.
[7] Dieses Bild paßt zu dem Befund einer seriellen Auswertung der Arbeiten der ersten Generation promovierter Sprachwissenschaftlerinnen, die fast alle von der strengen Abgrenzung gegenüber der »weichen« Geisteswissenschaft bestimmt waren, s. Maas (1991).
[8] Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1928.
[9] In: Idg. F. 49/1931: 142-143.
[10] S. etwa Ipsen in Idg. F./Anz. 43/1926: 17-18 zur Dissertation.
[11] So wiederholt etwa von Devoto, s. z.B. in Idg. F. 52/1934: 155-157.
[12] S. »Atti del primo congresso internazionale etrusco«, Florenz 1929: 187-189.
[13] Auch separat Berlin: de Gruyter 1931.
[14] In: Studi Etruschi 6/1932: 261-272.
[15] Tübingen: Mohr/Siebeck 1927.
[16] Die Überlegungen zur wissenschaftlichen Reartikulation romantischer Topoi, bes. des Organismus-Gedankens als regulativer Idee für die systematische Analyse der einzelsprachlichen Struktur und darauf gestützt der Sprachvergleichung, hat Ingeborg Seidel-Slotty im expliziten Bezug auf F. in ihrer Dissertation aufgenommen (s. dort).
[17] In: A. f. Stu. Neuerer Spr. 36/1928: 460-461.
[18] In: Bull. Soc. Ling. Paris 29/2/1929: 8-9.
[19] In: American J. of Ph. 57/1936: 261-270.