Benjamin, Walter Bendix Schoenflies

Geb. 15.7.1892 in Berlin, gest. (Freitod) 26.9.1940 in den östlichen  Pyrenäen auf dem Weg nach Port-Bou (Spanien)

B. war »unabhängiger Forscher und Schriftstel­ler« (Selbstbe­zeichnung, s. VI: 220),[1] der seine jüng­ere Auf­merksamkeit der literaturwissenschaft­lichen Rezep­tion ver­dankt. Bei ihm gibt es aber Gründe, sein Werk als Beitrag zur Sprachforschung zu sehen (sogar noch mehr als bei den hier aufgenom­menen anderen Vertre­tern der Kritischen Theorie Korsch, Marcuse). In seinen Selbstdarstellungen, vor allem so in seinen Briefen, bezog er sich durchgängig auf seine Arbeiten als Sprachtheorie.

B. hatte nach dem Abitur 1912 in Berlin, Frei­burg/Br., Mün­chen und Bern mit dem Schwerpunkt Phi­losophie studiert. 1919 pro­movierte er in Bern mit einer Disser­tation zur philosophi­schen Ästhetik („Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, I: 7ff.); diese Arbeit führte er in gewis­ser Hinsicht mit litera­turgeschichtlicher Akzentuierung in seinem Hauptwerk »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (I: 203-430) fort, mit dem er 1925 vergeb­lich versuchte, in Frankfurt für germanistische Literaturwis­senschaft zu ha­bilitieren;[2]im Manuskript hatte er es schon 1916 niedergeschrieben und dann bis zum Druck 1928 fortlaufend bearbeitet.  B.s zum Esoterischen neigende Schreibe schien der Kommis­sion mit den Aufgaben ei­nes Hoch­schullehrers un­verträglich (s. dazu I: 868-902 und VI: 771-773, dort ein Beleg für die indi­rekte Mitwirkung von A. Gelb an diesem Verfah­ren). Die Aus­richtung auf Literaturwissenschaft, wie sie B. auch in sei­nen in diesem Zu­sammenhang verfaßten Lebensläu­fen heraus­stellt (s. Le­benslauf I-IV, VI: 215-222), war ein strategi­sches Zugeständ­nis: B. sah in einer germanisti­schen Habili­tation bzw. Dozenten­laufbahn die ein­zige Chance, sei­nen öko­nomischen Proble­men einigermaßen zu entkom­men.[3] Seine Be­mühungen um eine philosophische oder so­ziologische Ha­bilitation, die seinen breiteren Interes­sen entsprochen hätten, wa­ren zuvor ge­scheitert bzw. er­schienen ihm aus­sichtslos (bzw. fi­nanziell nicht durch­führbar). Damit mußte er aber auch die Reali­sierung sei­nes sprachtheoreti­schen Projektes zurückstel­len, das ihn seit seinem Studium be­schäftigte und das er zunächst aus­drücklich als Habilitations­schrift plante (s. die Vorarbeiten VI: 9 f., bes. 21-22).
 

Seine weitere Arbeit ist an seine prekäre Lebenssituation gebunden. Nachdem seine schriftstellerischen Bezüge aus Deutschland nach 1933 gekappt waren (zunächst erhielt er noch für Veröffentlichungen unter einem Pseudonym Honorare), war er auf Unterstützungen angewiesen. Solche erhielt er vor allem über Max Horkheimer (1895-1973) von dem Institut für Sozialforschung, das 1934 von Frankfurt nach New Yok exiliert worden war, und für dessen exilierte Zeitschrift B. systematisch angelegte Arbeiten übernahm (s.u.). Außerdem erhielt er zeitweise auch Zuwendungen von der Alliance Israélite in Frankreich.

Aus­gangspunkt für seine sprachtheoretischen Überlegungen sind die mystischen Sprachvorstellungen der re­ligiösen Überlieferung, bes. in der Ge­nesis (obwohl praktizieren­der Jude konnte B. kein He­bräisch und be­zieht sich auf späte, vor allem deut­sche Übersetzun­gen; allerdings benutzte er durchgängig Schlüsselbegriffe der hebräischen Bibelauslegung. Über seinen Freund Gershom (Gerhard) Scho­lem erhielt er auch Zu­gang zur jüdischen My­stik. [4] Nicht zuletzt vermittelt über diesen, der sich früh mit der zionistischen Bewegung identifiziert hatte und 1923 nach Palästina ausgewandert war,[5] machte er zwar mehrfach Anläufe, Hebräisch zu lernen, und er spielte auch mit dem Gedanken einer eigenen Emigration nach dort,[6] vor allem auch später, als die rassistische Verfolgung zunahm und ihn auch in Frankreich bedrohte. Dabei stellte er aber für sich nur fest, daß sein Leben in Europa verankert war (faktisch war bei ihm damit Frankreich gemeint) – als Intellektueller und auch als europäischer Jude. Dieses Spannungsfeld mit den Polen eines europäischen (deutschen) Juden gegenüber dem eines jüdischen Europäers (Deutschen) bestimmte durchgehend seine Überlegungen.

Seine sprachtheoretischen Überlegungen entfaltete B. entlang dessen, was Scholem explizit als theologische Basislinie von B.s „Metaphysik der Sprache“ ansprach.[7] Eine frühe Ausar­beitung »Über Sprache über­haupt und über die Sprache des Men­schen« (1916 – erst postum publiziert, II: 140-157) ist geradezu als Interpretation zu den entsprechenden Ab­schnitten der »Genesis« angelegt: In der Sprache (dem Benannt­sein) kommt das Wesen der Dinge zu sich, indem sie mit ihrem Namen angerufen werden. Insofern ist für B. im Namen die Grundstruktur der Sprache verankert. Allerdings gilt das so nur für die eine (»reine«) Spra­che der Schöpfung, an der der Mensch nur im Paradies partizipierte, wie es der biblische Mythos darstellt.

Empirischer Ge­genstand der Sprachreflexion ist die Viel­heit der Sprachen, in die B. melancho­lisch die Trauer über das nicht mehr reine Be­nanntsein der Dinge funda­mental einge­schrieben sieht (hier ist auch einer der Ausgangspunkte für sein »Trauerspielbuch«: Sprache hat ihre grundlegende Be­stimmung in der Klage, vgl. II: 138). Diese Denkfi­gur ist für B. Anlaß für weitgehende semiotische Überlegungen. Dazu be­schäftigte er sich auch mit der logischen Theorie der Namen bis hin zum lo­gischen Kalkül Russells (s. VI: 9-15), da ja Kal­külsprachen vorgeb­lich auch dazu dienen sollen, die Vielheit der natürli­chen Spra­chen (in Analogie zu B.s Rede von der »menschli­chen Sprache«) zu überwinden. Eine gewisse Schlüs­selrolle erhielt so für ihn das Ver­hältnis von Sprache zu Mathe­matik: einerseits gibt es eine Entsprechung  zwischen »reiner Sprache« und per Abstrak­tion »gereinigtem« mathemati­schen Kalkül, andererseits liegt die "reine Sprache", in der das We­sen der Dinge im Namen »zu sich kommt«, auf einer ganz anderen konzeptuellen Ebene als der mathema­tische Kalkül, der eine formale Ressource für die begriffliche Ar­beit ist und inso­fern nur einen approximativen Weg zur Erkennt­nis darstellt;[8] s. in diesem Sinne auch seine spä­teren Notizen zur Überarbeitung dieser frühen Schrift in VII: 785-791.

Seine Überlegungen sind recht assozia­tiv. Fol­gerichtig von seinen my­stischen Prämis­sen aus ist für ihn die Ge­nese des Ur­teils und damit der grundlegenden Sprachstruktur der Prädi­kation im Akt des Sün­denfalls zu sehen, der in der Anma­ßung eines Ur­teils (über Gut und Böse) besteht, also dem Heraustreten aus dem reinen Zu­stand des wesen­haft Nen­nens (s. IX: 154). Die theoreti­sche Fundierung der lo­gischen Kalküle (deren praktischer Sinn für ihn nicht zur De­batte steht!) ist ein konventionalisti­sches Sprach­verständnis, das das Wahr­heitsproblem als ein vorder­gründiges Abbild­verhältnis (re-)konstruiert und so die existenti­elle Grundbestimmung von Spra­che eskamo­tiert (vgl. II: 150). Re­flexion auf Sprache muß demge­genüber von dem ausgehen, was sich in Sprache zeigt, also auch gebrochen an der Vielheit der Sprachen. Diese stellt die Negation der einen, reinen Sprache dar. Der Weg der Wahrheit liegt in der Nega­tion dieser Negation, die als Spracharbeit an der Artikulation des Gemeinten praktisch wird, vor allem bei der Überset­zungsarbeit (II: 152). Systematisch hat B. das im Vorspann zu seiner eigenen Baudelaire-Übersetzung entwickelt (IV/1: 1 - 21). Mit der Übersetzung wird die kontingente Setzung einer sprachlichen Form in einer bestimmten Sprache transzendiert - aber nur, wenn die Übersetzung nicht vorgibt, sich an die Stelle des Originals zu setzen, sondern wie bei einer Interlinear-Übersetzung den Blick auf das Gemeinte freimacht. Dadurch wird die jeweilige textuelle Form als eine "Art des Meinens"  für das Gemeinte durchsichtig. Sie bleibt nicht einfach ein Zug im historisch kontingenten Verlauf sprachlicher "Mitteilungen", sondern sie artikuliert auf der einen Seite die "reine Sprache", auf der anderen bewahrt sie "Wert und Würde der Sprache", die mit der Fetischisierung der vorgefundenen (zufälligen) Form ignoriert werden (zwar nicht hier, aber in anderen Arbeiten seit der Mitte der 1920er Jahre benutzte B. das Marxsche Konzept der Fetischisierung,s.u.). Wenn auch nur in sehr abstrakter Form angesprochen umriß B. damit die Perspektive einer dynamischen Sprachanalyse, die Sprachen nicht als statische Größen behandelt. Grundlegend ist dabei der Sprachausbau, der mit jeder Übersetzung, die über die von einfachen Mitteilungen hinausgeht, aufgerufen wird, wie B. es als Aufgabe des Übersetzers formulierte: "er muss seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen" (IV/1: 20), statt die fremde Sprache auf die eigene zu kalibrieren. 

An diesen mystischen Prämissen hat B. sich in seinem Werk durchgehend abgearbeitet, vgl. z.B. in einem nachgelassenen Fragment aus den 1920er Jahren: Wahrheit ordnet sich »konstitutiv« zum Schweigen, Lüge zur Rede (VI: 64). Dazu gehört auch die Grundfigur seiner entsprechenden Überlegungen: Bedeutung wir jäh präsent (so in vielfachen Abwandlungen, häufig spricht er von blitzartig). Sie kann aber analytisch bearbeitet werden. Dazu unternahm er es, Deutungen sprachlicher Ausdrücke anhand ihrer Konsequen­zen in der Aus­einandersetzung mit em­pirischen Problemen aus­zutesten. Wichtig war dafür, daß er ge­rade von seinem Aus­gangspunkt bei der reli­giösen Über­lieferung für seine sprachtheoretischen Be­mühungen das besondere Verhältnis von Sprache und Schrift mitreflektierte. In diesem Sinne hatte er sich dazu in seinem Studium auch recht breit umge­tan – z.B. in München mit Studien zur Maya-Schrift (bzw. zur aztekischen Mythen-Überliefe­rung) bei dem Amerikanisten Leh­mann (s. Scholem 1975: 47).

In dieser Hinsicht war sein Studium bei Ernst Lewy in Berlin von entscheidender Bedeutung, wie er in einem späte­ren Lebens­lauf schrieb, der nicht mehr taktisch auf die sprach­wissenschaftliche Empfindlichkeit germanistischer Literaturwissenschaft­ler Rücksicht nahm (s. Le­benslauf VI von 1939/1940, VI: 225-228).[9] Lewy brachte ihn zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit Hum­boldt, von des­sen sprachtheoretischen Schrif­ten B. Mitte der 20er Jahre sogar einen Aus­wahlband vorbe­reitete (und dar­über auch mit Lewy Kontakt hatte, s. VI: 26 und 648-651). Lewys sprachtypo­logischen Überlegungen ermöglichten es ihm, die Ein­seitigkeit seiner Namentheorie anzugehen: das, was er zu­vor nur als Ver­fallserscheinung gefaßt hatte: die syn­taktische Struktur der Sprachen (des »Urteils«), sieht er jetzt als ihr Spezi­fikum. Am weitesten vor­angetrieben hat er seine sprach­theoretischen Überle­gungen in dieser Richtung in seinem Auf­satz »Die Aufgabe des Übersetzers« (1923 als Einlei­tung zu seinem Band mit Baudelaire-Übersetzungen er­schienen, IV: 9-28). Im An­schluß an Humboldt betont er hier die kulturelle Arbeit an Sprache in der Schrift/Literatur, die die sprach­lichen Poten­tiale entfal­tet: Damit ist ein Bezug auf an­deres, das in Spra­che Gemeinte, ge­geben, das eine Bewertung von Überset­zungen erlaubt; wo das nicht der Fall ist, bei der un­mittelbaren (mündlichen) Kommunikation, ist die sprach­liche Form an die soziale Besonderheit der Gemein­schaft gebunden, ist Übersetzung im strik­ten Sinne nicht mög­lich (IV: 20). Lewys Einfluß ist deutlich bei der Art, wie er hier die Ba­sis für die Übersetzbarkeit in Gemein­samkeiten der Sprachen sieht (verschiedene Sprachen als ver­schiedene Arten sich auszudrüc­ken, IV: 18) – wobei die typo­logischen Entsprechungen vor allem in der Syn­tax für den Über­setzer wichtig sind. Dabei wird für ihn aber bei der Übersetzung der Sprachausbau aufgerufen, wenn die Auseinandersetzung mit dem fremden Text den Übersetzer dazu zwingt, die strukturellen Festlegungen durch die eigene Srpache zu ändern.

Die Kontakte zu Lewy waren auch auf der persön­lichen Ebene zunächst sehr eng. Als er sein Zeitschriftenprojekt Angelus Novus plante, hatte er ihn auch als Mitarbei­ter vorgese­hen, der für deren ersten Band eine Dis­kursanalyse der Wilhelmini­schen Gesell­schaft beisteuern sollte (s. die Diskussion darum in II,1; zu dem geplanten Beitrag von Lewy II,3: 983-4). Lewy unterstützte auch B.s sprach­theoretisches Habilitations­projekt. Das spätere per­sönliche Zer­würfnis zwischen beiden (für das Scholem Lewys Frau die Schuld gibt!) fällt mit der von Scholem diagno­stizierten Wende in B.s Denken vom systemati­schen zum kommentie­renden zusammen.[10]

Einen ersten Abschluß fanden B.s sprachtheoretischen Überle­gungen in der geplanten Ha­bilitationsschrift. Als literaturwissenschaftliche Ar­beit bemühte sie sich, Grundstruk­turen des Barockdra­mas herauszu­arbeiten, in genauer Auseinander­setzung mit den Quel­len, gegen eine anachroni­stisch-normative Literaturgeschichts­schreibung ge­richtet, ge­nauso wie ge­gen eine histo­risch leere Form-(Gattungs-)Ana­lyse. In­direkt ver­suchte er mit dieser Arbeit, sein sprach­theoretisches Projekt umzusetzen: Die analy­tische Schlüssel­figur ist die Allego­rie, die B. als sprachliche Grundkatego­rie entwic­kelt: einerseits gegen eine konven­tionalistische Zeichentheo­rie, die Bezeich­nendes und Be­zeichnetes (sic bei B.) nur äußer­lich verknüp­ft, und bes. auch gegen ein kommu­nikativ reduziertes Sprachver­ständnis, andererseits aber auch als Bearbeitung seines mystischen Symbolverständnisses, bei dem Bedeutung unmittelbar („jäh“) präsent ist . An der Alle­gorie zeigt sich Sprache als Ausdruck: In ihr drückt sich (in ein­zelsprachspezifischer Weise) ein Inhalt aus, der nicht assozia­tiv mit den Zeichen ver­knüpft ist und daher nicht durch begriffli­che Schlußoperationen er­schlossen wer­den muß, son­dern der, wenn er er­faßt wird, allerdings »jäh« ge­geben ist (er wen­det sich explizit ge­gen eine Fundierung des Ver­stehens in einer Reproduktion ge­lernter sozialer Praxis, I: 219). Insofern ist die Allegorie eine Figur der Sprachpraxis, in einer Spannung zu ihrer konventionellen Fixierung, wie er es für die Barock-Dichter philologisch akribisch untersuchte. Allegorien stehen in einem Spannungsfeld zu ihrer symbolischen Fixierung, insbesondere, wenn diese an eine schriftliche Festlegung gebunden ist. Die Grundüberlegungen dazu hatte er in mehreren argumentativen Anläufen zu einer „mimetischen“ Rekonstruktion der Sprache entwickelt, s. „Über das mimetische Vermögen“ (II/3: 204 – 231) und die Fragmente dazu im Nachlaß (II/3: 950 – 960).

Das Einleitungskapitel des Trauerspielbuchs (das vor allem die Be­fremdung der Gutachter im Habilitationsverfah­ren provo­zierte), ent­wickelt diese mystische Sprachtheorie relativ ausführ­lich. Der Aus­druck (hier die Allego­rie) liegt auf der Linie seiner früh entwic­kelten »Namen­theorie«. Auf der anderen Seite steht, von ihm an den Texten genau diagnostiziert (eben auch mit sprachana­lytisch-formaler Genauig­keit: etwa zur Wortbil­dung I: 236, zur Formulie­rung der Titel, I: 376ff. u.a. mehr) die Stereotypisie­rung der Aus­drucksformen, de­ren Am­bivalenz er als Hiero­glyphen faßt (bes. I: 376-377): einer­seits als Er­starrung des Ausdrucks, die die analytischen Poten­tiale der Spra­che/Schrift ausschaltet (hier mit deutli­chen Anklän­gen an Humboldt, vor allem auch, was die explizite Anwendung dieser Überlegung auf die Schrift be­trifft), anderer­seits (bzw. gerade dadurch) eine Sa­kralisierung der Sprache be­wirkt (aus Briefen B.s wird deut­lich, daß er den Problemen der Schrift eigent­lich ein ganzes Schluß­kapitel hatte wid­men wol­len).

In einigen Passagen der Arbeit wird aber eine Ambi­valenz ge­genüber seiner mysti­schen Sprachauffassung deut­lich: soziale Struk­turen werden nicht durchweg aus­geklammert (er wirft ja gerade der damals herrschenden Litera­turgeschichtsschreibung ihre Igno­ranz gegenüber soziologi­schen Fragen, etwa der Wirkungs- bzw. Re­zeptionsforschung, vor). Sein Bezugshorizont hatte sich gegenüber den frühen Ar­beiten ent­scheidend durch die seit 1924 begonnene Ausein­andersetzung mit dem Marxismus geändert, bei der auch seine zeitweise sehr enge Beziehung zu der lettischen Marxistin Asja Lacis eine wichtige Rolle spielte,[11] und dann der Kontakt zu B. Brecht seit den späteren 1920er Jahren, den er u.a. auch in Dänemark besuchte und mit dessen "Versuchen" er sich systematisch auseinandersetzte. Die Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Marxismus der kommunistischen Parteien, deren Linie er für sich reklamierte, stand in einer Spannung zu seiner analytischen Praxis, wie vor allem Scholem wiederholt in seinen Briefen an ihn monierte. Aus anderer Richtung kritisierte Adorno den voluntaristischen Gebrauch, den B. von der marxistischen Begrifflichkeit machte, vor allem beim Fetisch, so in einer Reihe umfangreicher Briefe aus dem Jahr 1938.[12]

Die Neuausrichtung seiner Überlegungen hatte ihn in das Umfeld des Frank­furter Insti­tuts für Sozialforschung gebracht. Dabei fand er auch bei Horkheimer große Unterstüt­zung, der bei dem Habilitationsverfahren noch ent­schieden gegen seine Arbeit votiert hatte (s. VI: 772). Bei der Aneignung der mate­rialistischen Theorieansätze konnte seine Ab­wertung der sozialen Praxis, der Sprache als Mit­teilung, nicht unproblematisiert blei­ben – die Span­nung hat er auch deutlich gespürt (s. etwa eine Tage­bucheintragung auf seiner Moskau-Reise Ende 1926, VI: 331), aber er hat sie zunächst ausgeklammert und sich umso in­tensiver mit der sprachwissen­schaftlichen Forschung auseinanderge­setzt (einer der massiven Vorwürfe, die er an die Adresse der zeitgenössischen Sprachphilosophie rich­tet, ist es gerade, rein »spekulativ« ohne Bezug zur Sprachwis­senschaft den Gegenstand abzuhandeln, s. seine bissige Re­zension zu R. Hoenigswald [1937] 1939, III: 564-569).[13]

Entsprechend war es für B. selbstverständlich, sich auch für seine literaturwis­senschaftlichen Arbeiten mit den ein­schlägigen sprach­wiss. Ver­öffentlichungen aus­einanderzusetzen (s. seine Re­zensionen 1927-28 zu Han­kamer, VI: 59-61, Fiesel u.a. VI: 96-97). Er be­tonte aber auch hier wie­der die für eine hi­storische Analyse unerläßliche genaue, sprachwissen­schaftlich kontrollierte Beschreibung (s. seine sehr po­sitive Re­zension von Gumbels »Deutsche Sonderrenaissance in deutscher Prosa«, III: 375-377). Daher arbeitete er sich durch die sprachtheore­tisch und sprachsoziolo­gisch inten­dierte For­schungsliteratur hindurch. Ein Niederschlag davon ist sein erstaunlich infor­miertes Sammelre­ferat dazu.[14] Hier faßte er den Gegenstand syste­matisch-breit, also unter Einschluß der sprachpsy­chologischen For­schungen, soweit diese Konsti­tutionsfragen behan­deln. Gerade hier ist seine Ab­grenzung von seiner frü­her doch re­lativ naiv vertre­tenen »Ausdruckstheo­rie« beson­ders deut­lich: Ono­matopoetischen Spekula­tionen stellte er Ana­lysen von Gesten- und Signalstrukturen gegen­über und ar­gumentiert mit dem Primat des Werkzeugdenkens bei der Spra­chentwicklung (mit Vygotski gegen Pia­get, 262). Seine Rezep­tion der Forschung ist ohnehin breit: Delacroix (263), eine explizite Kri­tik des US-amerikani­schen Beha­viorismus (264 f.); in Bühlers Arbei­ten, bes. der »Sprach­theorie«, sieht er einen Angel­punkt für einen theoretischen Neuan­fang (S. 249, 259-261) – aus seinen Briefen wird deutlich, daß er von hier aus offensicht­lich vorhatte, seine eige­nen sprachtheore­tischen Überle­gungen nochmal aufzugreifen (s. VI: 674): Bühlers Feldtheo­rie und das Organonmodell werden von ihm sehr in­struktiv referiert. In Bühlers ‚Sprachtheorie‘ sah er einen Ansatzpunkt, um seine sprachtheoretischen Überlegungen weiter auszudifferenzieren, s. dazu seinen Brief an Scholem vom 26.12.1934 (Briefe II: 638).

Bei seinem poli­tisch-wer­tend inten­dierten Durchgang durch die Aufsätze zu »einer fort­schrittlichen Ge­sellschaftswissenschaft« (261) diskutierte er  me­thodische Ent­wicklungen in der Sprachwissen­schaft (vor allem die »Wörter und Sachen«-Richtung, und in Ver­bindung damit Weis­gerber, 256-257, 264, die neue Stili­stik, s. zu Bally, 253); die materialisti­schen Ansätze Marrs, die ge­sellschaftliche (»Klassen«) an die Stelle von naturhaften (»Ras­sen«) in der Analyse setzen; empi­rische Befunde der (Sozial-)Psy­chologie (außer Vy­gotski, Delacroix u.a. bes. noch H. Werner, 267 und K. Goldstein, 267) so­wie eben auch den Wie­ner Kreis: Sein Ver­such, das Anliegen von Carnaps »Logischer Syntax« darzu­stellen (258-259) sticht bemerkenswert von literaturwissenschaftlichen Be­rührungsängsten gegenüber Forma­lisierungen ab (vgl. die Parallele bei Korsch). Die­sen "fortschrittlichen" Ansätzen gegenüber steht die durch sie entwertete Reaktion: »Sprachmythologie« (sic!) bei Levy-Bruhl und Cassirer, und, von ihm recht aus­führlich besprochen, Schmidt-Rohrs »voluntari­stische Sprachphi­losophie«, die sie dienstbar für reak­tionäre Po­litik macht, wobei er den Antirassis­mus von Schmidt-Rohr durchaus anerken­nend re­gistriert (263-264). Wie ernst er den Vorwurf an Schmidt-Rohr meinte, auf zu dünner Ma­terialbasis über sprachsoziologi­sche Pro­bleme »Tiefsinni­ges« von sich zu ge­ben, zeigen seine posi­tiven Rezensio­nen von Ar­beiten, die sprach­politische Probleme auf der Basis ma­terialer Forschun­gen abhan­deln (auch wo er Einwände ge­gen die An­sichten der Verfasser hat, vgl. die Rezension zu Bru­not über die franzö­sische Sprachpolitik, III: 569-572). Merkwürdi­gerweise fehlt in diesem Sam­melreferat eine Aus­einandersetzung mit sei­nem frühe­ren sprachwissen­schaftlichen Be­zugspol Lewy (bzw. der sprachtypologi­schen Tradi­tion von Humboldt zu Finck) – viel­leicht jenseits der inzwischen eingetretenen Verwerfungen im persönlichen Bereich (s.o.) ein Indiz da­für, daß er hier noch nicht bis zu einer Kritik gekom­men war. Dieses nahezu positivistisch gearbeitete Referat steht einigermaßen quer zu seinem sonstigen Werk, und so hat er es selbst auch verortet.[15]

Das von ihm als sprachtheoretische Grundstruk­tur be­stimmte Problem der Mimesis  griff er immer wieder von neuem auf, [16] insbes. auch an­knüpfend an seinen sprachsozio­logischen Forschungs­überblick (auch hier wieder die Span­nung von Schrift zu gesproche­ner Sprache re­flektierend: Schrift­praxis erscheint ihm in ih­rer Materiali­tät noch funda­mentaler, näher an der umfas­senden mimeti­schen Fähigkeit zu sein als die gespro­chene Sprache, s. II: 955ff.).[17] Als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus benutzte er später dialektischen Bilder als Analysefigur, um die analytische Spannung zu bezeichnen zwischen dem sich jäh (s.o.) egebenden Eindruck und dem erst analytisch aus dem konzeptuellen Hof des so Gefaßten zu Extrapolierenden.[18].Diese Konzeption ent­wickelte er in Schriften wie »Das Kunstwerk im Zeit­alter der tech­nischen Reprodu­zierbarkeit« (1936, I: 431-508) und dann vor allem in seinen Vorarbeiten zu dem nicht abgeschlossenen (nachgelas­senen) »Passagenwerk« (V/1+2). Was er in zunächst nur in aphori­stischen Bemerkungen fi­xiert hatte: Daß Sprache in ihrer physischen Ma­terialität die un­mittelbare Partizipation an an­derem, nicht phy­sisch Präsen­tem erlaubt (vgl. etwa poin­tiert: »Die magi­sche Funk­tion des Al­phabets: der unsinnlichen Ähn­lichkeit den dau­erhaften semioti­schen Fond zu lie­fern, auf dem sie erscheinen kann«, im: Nachlaß, VII/2: 796), ent­faltete er hier zu ei­ner histori­schen Theo­rie, wie er es im Trauerspielbuch begonnen hatte.

Das Trauerspielbuch war durch einen literaturgeschichtlich fokussierten Blick auf das 17. – 18. Jhd. bestimmt gewesen. Dem stellte er im "Passagenwerk" einen auf die Moderne ausgerichteten Blick gegenüber, material festgemacht am 19. Jhd., das er in einem „dialektischen Bild“ faßte (bei ihm ein Schlüsselbegriff, den er durchgängig benutzte, z.B. V/1: 580 u.ö.). Gewissermaßen verdichtet ist die Moderne in Paris greifbar, das er sich als Flaneur erschlossen hatte (dabei eben vor allem auch die "Passagen" der Innenstadt) – so verfiel er im Text auch schon mal vom Modus des „man“ in den des „ich“ als Subjekt der Darstellung, z.B. V/1; 1041 vs. 1043).  Hier setzte er seine Marx-Lektüre um, besonders die analytische Figur des Fetischcharakters (bei Marx als Element der Warenform, bei B. als kulturanalytischer Grundbegriff). Die Wahrnehmung stellt sich mit ihren Erscheinungsformen jäh ein (durchgehend sprach er metaphorisch vom Blitz, Blitzhaften u.a.). Sie muß analytisch lesbar gemacht werden für die darin sedimentierte Geschichte des Wahrgenommen, weshalb er für Paris (bzw. die Passagen) extensiv sozial- und wirtschaftgeschichtliche Quellen heranzog und collagenhaft verarbeitete. Dabei ist das Fragmentiert-Rhapsodische der Darstellung nicht (nur) ihrem Status als Arbeitsnotizen geschuldet, sondern genuiner Ausdruck der Struktur des Dargestellten. Dieses spiegelt sich in momentanen Eindrücken, die nicht zu einem homogenen System zu fügen sind, sondern nur in den Konfigurationen von Montagen die Sinnhaftigkeit des Dargestellten zeigen.

Insofern löst das „Passagenwerk“ indirekt B.s Suche nach einer angemessenen Form der Repräsentation der sprachlichen Grundverhältnisse ein – gerade, weil es aus der Fiktion einer begrifflich stringent entwickelten (im Grenzfall axiomatischen) Entfaltung der Gedanken ausbricht. Die Art wie B. an diesem Unternehmen von 1927 bis in die letzten Jahre 1939/1940 vor seiner seinem Fluchtversuch aus dem besetzten Frankreich gearbeitet hat, zeigt sehr deutlich, daß er es mit dem Niedergeschriebenen noch nicht eingelöst fand. In gewisser Weise fertig waren nur Teile davon, insbesondere die Abschnitte über Baudelaire, der für ihn (auch als Flaneur in Paris) die Spannungen der Moderne verkörperte.[19]

Diese Überle­gungen hat B. in seinen literarischen Kritiken ausgebaut, wobei er Argumenta­tionsformen ei­ner histori­schen Pragma­tik skizzierte; so entwickelte er in seiner Less­kow-Stu­die »Der Er­zähler« (ca. 1936, II/2: 57) nicht nur ein soziales Verständnis der sprach­lichen kul­turellen Formen, ge­bunden an eine spezifische inter­essierte Interaktion der Be­teiligten (Erzähler wie Hö­rer/Leser), er thema­tisierte auch die literarische Progression als eine, die sich nicht in Wiederholungszwän­gen er­schöpft und insofern auch nicht über das Wieder­erkennen in tradierten Formen angemes­sen »benennbar« ist. Das Mimetische erscheint so als negati­ver Grenz­wert, wenn kollektive Erfah­rungen zwar ihren Aus­druck fin­den kön­nen, aber nicht vermittelbar sind, weil die kul­turelle Tradition keine Sprachform bereitstellt, um sie zu artiku­lieren.[20] Spra­che/Denken werden von B. hier in der Perspektive der praktischen Be­wältigung hi­storisch sich än­dernder Situationen ge­sehen. Damit wird die Frage­stellung aus dem My­thos ge­löst (s. auch die Ab­sage an einen simplen Par­allelismus von Sprechen und Denken in dem dazu­gehörigen Fragment »Kunst zu erzählen«, VI/1: 435).

Obwohl bei ihm nicht so formuliert, handelt es sich hier in Abkehr von seinen früheren mysti­schen Auf­fassungen um eine geneti­sche Theorie, die die symbo­lische Praxis als sozial fundierte und so auch erlernte faßt: Der Umgang mit anderen sedimentiert sich ge­wissermaßen als Verweisungs­zusammenhang in den dabei benutz­ten Din­gen (eben auch sprachli­chen Dingen), die dadurch au­ratisch werden, in denen das Abwesende jäh präsent werden kann (hier war für B. die Proustsche Rekon­struktion von Ge­dächtnisleistungen wichtig – B. hatte eine Übersetzung der Proustschen Werke seit 1925 unternommen, die nur z.T. veröf­fentlicht ist, s. II: 1044ff.). War aber in seinen frü­heren Ar­beiten die­ses jäh-Präsente (ideal im Namen gefaßt) für ihn das Zentrale, das in allen »konventionellen« semiotischen Zu­ordnungstheorien verloren geht, so ist es jetzt die histo­rische Tiefendimension der au­ratischen Sprachstruk­tur. Er hatte das an der Alle­gorie im Trau­erspielbuch schon explo­riert, war aber wohl in historisch-dile­ttierendem Abstand ambivalent geblieben bzgl. der »Hieroglyphisierung« bzw. »Sakralisierung« er­starrter Formen. Seine detail­lierte se­miotische Spurenlese in den späteren Arbei­ten zeigt ihm de­ren konstitutive Rolle bei einer menschlichen Praxis, die die Potentiale zur Gel­tung bringt (in dem Sinne wie eben nur beim Menschen das Wesen sprachlich ist): Darin besteht seine rhapsodi­sche Re­konstruktion der Großstadt-»Lektüre« (im »Passagenwerk«), aber auch seine Re­konstruktion der se­miotischen Struktu­ren im ontogeneti­schen Lernprozeß in einer Reihe von Ar­beiten zum Kinderspiel bzw. Spielzeug (vgl. z.B. III: 213ff., IV: 623ff., VII: 98ff., 105ff. u.ö.): Hier entwic­kelte er auch seine Überlegungen zur mimetischen Fähig­keit in einer anamnestischen Re­konstruktion der Kind­heit, am deutlich­sten (s. bes. VII: 791ff.).

Sehr explizit hat B. diese Überlegungen in einem Beitrag zu Karl Kraus dargestellt.[21] Dieser Artikel, der auch ausgesprochen schwungvoll abgefaßt ist, ist 1931 erschienen, aber, wie bei Scholem nachzulesen ist, hat B. sich damit in den Jahren vorher durchgehend auseinandergesetzt. Was Kraus programmatisch mit seiner „Fackel“ anging,[22]  sah B. auch als sein Projekt: gegen den öffentlich inszenierten Leerlauf der Sprache in Phrasen anzugehen und demgegenüber Sprache als Ressource zu erweisen, das Wesen des sprachlich Aufgerufenen zu zeigen. Im Kraus‘schen Sinne sprach Benjamin auch schon mal ironisch von Phrasen als der „Befreiung der Sprache“ von der Bindung an die Artikulation von Inhalten (dabei ist „Befreiung“ zu lesen wie beim Leerlauf eines Autos, wenn der Gang rausspringt und der Motor nicht mehr greift).

In dem Maße, wie B. sich auf eine mate­riale Analyse der Veränderun­gen der Produktionsweise einließ (seit Ende der 1920er Jahre mit dem dazu unternommenen Materialismusstu­dium, das sich auch im Kraus-Aufsatz spiegelt), ana­lysierte er das Aufkommen einer sekun­dären symboli­schen Praxis, der der Zugang über eine histori­sche »Verflüssigung« der sedimentierten Praxisformen versperrt bleibt. In der Konfron­tation mit dem Faschismus wird ihm das zum Schlüssel für dessen Analyse als moderner Er­scheinung (s. bes. das »Nachwort« zum »Kunst­werk«, I: 506-508). Hier findet sich jetzt der Bruch mit sei­ner frühen my­stisch-kontemplativen Aus­druckstheorie artiku­liert, wenn er fest­stellt, daß im Faschismus »die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen« (506). Es ist nicht von unge­fähr, daß eine ganze Reihe der jüngeren Arbeiten zur Sprache im Faschis­mus, die sich bemühen, von der faszi­nierten Spie­gelungstradition wegzukommen, wie sie etwa Klemperers »LTI« cha­rakterisiert, bei dieser B.schen Bestimmung ihren Ausgang neh­men.[23]

B. hat die Spannung in der Fundierungsproble­matik von Sprachwissen­schaft/Sprachtheorie so aufgenom­men, wie sie sich in den Debatten Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre stellte – seine häufige Bezugnahme auf eine ganze Reihe der span­nendsten Vertreter dieser Debatten ist nicht von ungefähr. Offensichtlich war er dabei und hatte vor, sein »poetisch« entworfenes Projekt einer (esoteri­schen) mysti­schen Sprach­theorie in Auseinander­setzung mit den Er­gebnissen der Fach­wissenschaft auszuar­beiten (merkwürdigerweise spiegelt sich das al­lerdings nicht in seinem »Verzeichnis der ge­lesenen Schrif­ten«, das er bis zu seiner Flucht 1940 fortlaufend auch aktualisiert hat; bis auf Cassirer und H. Werner fehlen dort die an­deren Autoren seiner Sammelre­zension von 1935 : s. VII: 437-476). B. ist zweifellos ein Sprachforscher mit einer theoretischen Ausrichtung, dessen Beitrag in der Sprach­wissenschaft so gut wie keine Berücksichtigung findet. Dabei hat er in seiner mate­rialen Auseinan­dersetzung mit kulturellen For­men der Moderne sprach­theoretisch-semiotische Prä­missen umge­setzt, die für die sprachwissenschaftli­che Forschung produk­tiv werden soll­ten. So figuriert er vor allem in der Literaturwissenschaft (da allerdings relativ zentral), obwohl die dabei herausgestellten Werke wie das oben schon genannte Trauerspielbuch (Ursprung des deutschen Trauerspiels, I/1: 205 - 430) seine sprachtheoretischen Leitfragen explizit herausstellen (s. dort vor allem die "erkenntiskritische Vorrede", I/1: 207 - 237, mit sehr weitreichende Überlegungen zur Symbolstruktur). Hier ist nicht nur für die Fachgeschichte eine Korrektur gefordert, zu der dieser Eintrag einen Anstoß geben kann. Es läßt sich kaum abschät­zen, welchen Verlust eben auch die Sprachwis­senschaft für die Abklärung ihrer Konstituti­onsproblematik erlit­ten hat, als B. sich 1940 im französi­schen Exil das Leben nahm, als er keine Hoff­nung mehr sah, der rassistischen Ver­folgung zu entkom­men. Er war in einem Lager bei Lourdes interniert gewesen, von wo aus er versuchte, illegal nach Spanien zu gelangen.
 

[Dieser Eintrag zu B. reproduziert Passagen aus meinem Aufsatz »Sprachwissenschaftliches im Werke Walter Benjamins«, in: K. Garber/ L. Rehm (Hgg.), »Global Benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992 (in Osnabrück)«, München: Fink 1999, Bd. 1: 282-297. Die Überarbeitung ist nur in Hinblick auf B.s Texte erfolgt, ohne die umfangreiche Sekundärliteratur einzuarbeiten. Daher habe ich es auch bei den Verweisen auf die ältere Werkausgabe, s. Anm. 1, belassen. Die umfangreiche Forschung zu B. spiegelt sich in der neuen (kritischen) Gesamtausgabe seiner Werke, hgg. von Chr. Gödde u. H. Lonitz, Frankfurt: Surkamp 2010 - 2018, 21 Bde.]

Q: IGL (B. Bergheim); DBE 2005; B. Witte, »W. B.«, Reinbek: Rowohlt 1985; knapp etwa van Reijen/Schmid-Noerr 1988: 30-37; als ältere Einfüh­rung mit Hin­weisen auf die Literatur N. Bolz / W. van Reijen, »W. B.«, Frank­furt; Cam­pus 1991 (zur Sprachauf­fassung bes. S. 41-54); G. Scholem, »W. B. – die Ge­schichte einer Freundschaft«, Frank­furt: Suhr­kamp 1975; im einzelnen s. den Apparat zu der Werk-Ausgabe (s. Anm. 1).  Die Akten des Osnabrücker Kongresses 1992 (1999), bei dem eine frühe Fassung dieses Textes vorgetragen wurde, bieten auch einen Überblick über die schon damals ungemein breite Rezeption von B.s Werk, bei der in der Regel aber die sprachliche Seite im engeren Sinne ausgeklammert bleibt.

 

[1] Alle Verweise, soweit nicht an­ders angegeben, auf die Werkausgabe nur mit Bandan­gabe: W. B., Gesammelte Schriften, hgg. von R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977 (2. A. 1989); außerdem auf die Briefe, hgg. von G. Scholem / T.W. Adorno, Frankfurt: Suhrkamp 1966 (2. A. 1993), 2 Bde.

[2] S. zu diesem Verfahren B. Lindner, »Habilitations­akte Benja­min«, in: ders. (Hg.), »Walter Benjamin im Kontext«, 2. Aufl. Kron­stein/Ts.: Athenäum 1978. 324-341, die zi­tierte Selbst­darstellung dort S. 330-331. Vorher hatte er schon 1919 vergeblich versucht, in Bern zu habilitieren, ebenso 1921/22 in Heidelberg.

[3] Ihre finanzielle Unterstützung hatten seine wohlhabenden Eltern mit seinem Studienabschluß beendet. B. spielte eine Zeit lang mit der Vorstellung einer buchhändlerischen Praxis, nachdem er mit einige Anitiquariatskäufen und Wiederverkäufen erfolgreich gewesen war. Zu den familiären Verhältnissen von B. gehört auch, daß Clara Stern seine Tante war. Mit deren Sohn Günther (1902-1992), der später unter seinem literarischen Pseudonym Günther Anders publizierte, hatte er in seinen Pariser Jahren auch engeren Kontakt.

[4] Gershom (vorher: Gerhard) Scholem (1897-1982), Judaist und Historiker, emigrierte 1923 nach Palästina und lehrte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Scholem hatte Ma­thematik studiert (er gehörte zu den we­nigen Hö­rern von Frege). Zionistische engangiert hatte er die Calija  nach Palestina (Zion) von vorherhein geplant, mit der Vorstellung dort als Mathematiklehrer tätig zu werden. In seinem Buch "Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft" (Frankfurt: Suhrkamp 1975) gab Scholem eine detaillierte Rekonstruktion auch von B.s intellektuellen Entwicklungen, einschließlich der "jüdischen" Ambivalenzen.

[5] Im Sinne der zionistischen Bewegung, die sich durch die Calija (wörtlich der "Aufstieg") ins "gelobte Land" Zion definierte.

[6] Für die er sogar einen Vorschuß kassierte, s. bei Scholem (1975: 245).

[7] B. selbst hat diesen Ausdruck auch genutzt (übernommen?), so z.B. einem Brief vom 30.1.1936 (Briefe II: 705).

[8] Das sind allerdings bei B. mehr assoziative Bemerkungen, bei denen Mathematik für eine Idealisierung von Wissen steht, nicht für mathematische Analyse, wie Scholem angemerkt hat (Scholem 1975: 65). 

[9] Scholem 1975: 134-137. In einem Brief an Hofmannsthal vom 2.8.1925 schrieb B.: "Die Beschäftigung mit Humboldt führt mich unmittelbar auf meine Studentenzeit, wo ich unter Anleitung eines menschlich höchst seltsamen und dem kontemplativen Ingeniums des späten Humboldt auf fast groteske Weise kongenialen Mannes die sprachwissenschaftlichen Schriften im Seminar las. (...) Es ist Ernst Lewy" (Briefe I: 400-401).

[10] Scholem 1975: 144. Zu dem engen Verhältnis zwischen beiden gehörte auch, daß B.  gemeinsam mit Scholem Lewy 1921 auf dem Dorf in Wechterswinkel (an der Rhön) besuchte, s. Briefe I: 268-269.

[11] Asja Lacis (1891-1979) war eine lettische Theatermacherin, die u.a. eng mit Brecht zusammenarbeitete. Von 1922 – 1932 war sie in Berlin, zeitweise (und dann danach) aber auch in Moskau, wo sie sich intensiv mit marxistischen Positionen auseinandersetzte. Sie hatte dort auch unter den repressiven „Säuberungen“ in den 1930er Jahren in der Sowjetunion zu leiden. Bs. enge Beziehung zu ihr spiegelt sich in der Widmung an sie, die er seiner Samlung von assoziativ gestrickten Überlegungen "Einbahnstraße" (1928) voranstellt, s. IV/1: 83.

[12] In diesen Briefen firmiert Theodor W. Adorno (1903-1969) als Wiesengrund. Ausführlich kommen diese Fragen auch im Briefwechsel mit Adornos Frau Margarete Kaplus (1902-1993) zur Sprache, die B. in diesen Briefen als Felizitas anspricht.

[13] Diese Rezension ist von Horkheimer nicht veröffentlicht worden, vielleicht weil ohne daß B. es wußte, Hoenigswald als selbst rassistisch Verfolgter in­zwischen auch emi­grieren mußte.

[14] In der Z. f. Sozialf. 4/1935: 248-268, s. III: 452-480.

[15] In einem Brief vom 30.1.1936 schrieb er dazu: „ es präjudiziert nichts über eine ‚Metaphysik‘ der Sprache. Und es ist von mir (…) so eingerichtet, daß es genau an die Stelle führt, wo meine eigene Sprachtheorie (…) einsetzt.“ (Briefe II: 705).

[16] Hier gibt es Paral­lelen zu Auerbach, mit dessen Ar­beiten B. nicht nur vertraut war ( s. sein Lektüreverzeich­nis, Nr. 1100, VII: 461), sondern es gab auch einen Briefwechsel zwischen beiden (hg. von K.H. Barck in: Z. f. Germanistik 1988/688-693).

[17] B. hatte sich gründlich mit den materialen Bedingungen von Schrift/Schreiben auseinander­gesetzt und um 1930 auch an einem For­schungsbericht zur Graphologie gearbeitet, von dem nur eine Zu­sammenfassung erhalten ist (II/1: 596-598). Gelegentlich hatte er sich sogar selbst graphologisch betätigt.

[18] Das wird im Briefwechsel mit Adorno sehr explizit, s. z.B. den Brief vom 31.5.1935.

[19] In der Werkausgabe sind die entsprechenden Passagen thematisch gebündelt abgedruckt: die systematischen (von B. „erkenntnistheoretisch“ überschriebenen) V/1: 570-611; zu Baudelaire V/1: 301-489; zum Flaneur V/1: 524-569.

[20] Das wird von B. hier explizit auf die Situation des Ersten Weltkrieges bezogen, aber die zeitge­nössischen Fa­schismusprobleme bil­den für ihn wohl die Folie.

[21] Abgedruckt in II/1: 334-367.

[22] Vgl. in der Vorrede zu Heft 1 / 1899 der Fackel: „Was hier geplant wird, ist nichts als eine Trockenlegung des Phrasensumpfes (…) dem dumpfen Ernst des Phrasenthums (…) den Credit zu schmälern“.

[23] Z.B. auch mein ei­gener Versuch, Maas 1984.