Bühler, Karl
Geb. 27.5.1879 in Meckesheim bei Heidelberg, gest. 24.10.1963 in Los Angeles.
Nach dem Abitur 1898 in Tauberbischofsheim studierte B. Medizin und Psychologie in Freiburg/Br., wobei er das Studium zunächst auch im Fach Mathematik aufgenommen hatte. Das Medizinstudium schloß er 1903 mit dem Staatsexamen ab und war seitdem als praktizierender Arzt tätig. 1904 promovierte er zweifach: zum Doktor med. in Freiburg mit einer Dissertation zum Sehen (also schon mit einer psychologischen Orientierung) und zum Dr. phil. in Straßburg mit einer Dissertation über den schottischen Philosophen Henry Home [Lord Kames, 18. Jhd.], die dessen "erkenntnistheoretischen" Grundsätzen gilt. [1] Seitdem orientierte er sich auf die psychologische Forschung, u.a. 1904/05 mit einem Studienaufenthalt in Berlin bei Stumpf, an dessen Institut damals eine gestalttheoretische Neuorientierung entwickelt wurde, die für B.s weitere Forschungen grundlegend wurden. Oswald Külpe (1862 - 1915) holte ihn 1905 an sein psychologisches Institut in Würzburg, wo er 1906 eine Assistentenstelle erhielt, auf der er 1907 mit »Tatsachen und Probleme einer Psychologie der Denkvorgänge« habilitierte. [2] Seine methodischen Grundlagen, die sich vor allem auf Introspektion stützten: auf die Art wie kognitive Strukturen in ihrer kategorialen Besonderheit entdeckt werden, stand quer zu der etablierten disziplinären Methodik, die sie auf meßbare Befunde zu reduzieren versuchte, die mit instrumentellen Verfahren gewonnen wurden. Entsprechend scharf reagierte Wundt auf diesen Ansatz.
Die daraus resultierende publizistische Kontroverse machte B. zu einem prominenten Vertreter der »Würzburger Schule« der Denkpsychologie. [3] In der Folge entwickelte sich eine nahezu symbiotische Zusammenarbeit mit Külpe, mit dem B. 1909 nach Bonn ging, dann 1913 nach München, wo B. zum a.o. Professor ernannt wurde. [4] In Bonn vollzogen Külpe und B. eine sprachanalytische Wende, die die kategoriale Besonderheit des Sprachlichen in den Blick nahm (in Abgrenzung zu kommunikativen und expressiven Verhaltensformen, die sich auch bei höheren Tieren finden), gefaßt als Funktion der Darstellung von Sachverhalten. Külpe hat diese Sichtweise vor allem in Auseinandersetzung mit den ontologischen Prämissen der Sprachphilosophie entwickelt, die Sprachstrukturen letztlich als denotative Abbildungen sah. Demgegenüber stellte er das Besondere der Sprache in deren symbolischen Ressourcen heraus, die es erlauben, sich von den gegenständlichen Vorgaben zu lösen. Er entwickelte das recht differenziert in seiner Logikvorlesung, wo er die argumentativen Ressourcen der Sprache als Möglichkeit zur Modellierung von Sachverhalten herausstellt, die deren ansonsten verdeckte Strukturen transparent macht. [5] B. hat diesen Ansatz in seinem späteren Werk systematisch weiterentwickelt, vor allem so in seiner "Sprachtheorie" (1934), s.u.
Auch während des Weltkrieges setzte B. nach seiner Einberufung als Stabsarzt seine wissenschaftliche Tätigkeit und auch die Lehre fort. Als Külpe am 31.12.1915 in Folge einer Typhus-Erkrankung verstorben war, mit der er sich in einem Lazarett infiziert hatte, wurde B. von seinem Kriegseinsatz an der Westfront zurückgerufen, um die Leitung des Münchener Instituts zu übernehmen, zugleich mit dem ärztlichen Dienst in einem Münchener Lazarett, bei dem er vor allem kopfverletzte Soldaten betreute und dadurch systematisch mit Aphasie-Problemen befaßt war (s. die Parallele bei Goldstein). Am Universitätsinstitut übernahm er mit anderen Aufgaben von Külpe auch die Betreuung von dessen DoktorandInnen, darunter Charlotte Malachowski, die damals am Münchener Institut studierte. Er verliebte sich in sie, und 1916 heirateten sie. Mit ihr unternahm er seitdem gemeinsame Studien bes. zur kindlichen (Sprach-)Entwicklung (besonders so später in Wien, s. hier bei Charlotte Bühler).
1918 wurde B Ordinarius an der TH Dresden. 1922 ging er nach Wien. Der Aufbau eines großen Forschungsinstituts war dort aber nur möglich, weil er zugleich Lehrverpflichtungen für die Lehrerausbildung übernahm, was mit der Überlassung von Räumen im Gebäude der Schulaufsicht kompensiert wurde. [6] Zu dieser Verbindung mit der der sozialdemokratisch betriebenen Schulreform bzw. Lehrerausbildung gehörte für ihn wohl auch, daß er einen Wahlaufruf "Kundgebung des geistigen Wiens" für die Sozialdemokratie unterschrieb, was ihm von der politischen Rechten (aber auch von konservativen Gegenspielern in der Universität) vorgeworfen wurde und bei der späteren faschistischen "Säuberung" nach dem "Anschluß" eine wichtige Rolle spielte. Aus der (vertraglich festgelegten) Bindung an Aufgaben der Schule (und auch der Vorschulerziehung) resultierte auch die empirische Ausrichtung der Forschungen am Institut (für die so gewissermaßen qua Amt der Zugang zum Forschungsfeld sichergestellt war). Der Ausbau des Forschungsinstituts wurde vor allem durch das Einwerben von internationalen Forschungsmitteln möglich. B. baute enge Verbindungen zu den USA auf, wo sowohl er wie seine Frau Charlotte 1927/28 und wieder 1929/30 zu Gastprofessuren und Vorträgen waren. Das brachte ihm (und vor allem auch Charlotte B.) von 1924-1936 eine große, auf 10 Jahre bewilligte Förderung durch die Rockefeller Stiftung ein, dazu auch zahlreiche (nicht nur US-amerikanische) Stipendiaten. Rufe an US-amerikanische Universitäten lehnte B. allerdings ab.
In Wien war B. von Anfang an politischen Angriffen der Rechten, insbes. auch von Seiten faschistischer Studenten ausgesetzt. Er war in vieler Hinsicht exponiert: durch seine Aktivitäten in der "roten" Lehrerausbildung, durch sein wiederholtes öffentliches Eintreten für bürgerliche Freiheiten, [7] vor allem aber auch als »Philosemit«, weil er mit der (nicht praktizierenden) Jüdin Charlotte B. verheiratet war. 1933 war B. aus Protest gegen den antisemitischen Kurs der Deutschen Gesellschaft für Psychologie aus deren Vorstand zurückgetreten (er blieb aber wie auch seine Frau Mitglied: beide wurden noch am 1.1.1937 als Mitglieder geführt, s. Bericht des 15. Kongresses 1936). [8] Mit dem Faschisierungsprozeß in Österreich verschärfte sich B.s Situation, wobei opportunistische Intrigen karrieresüchtiger Kollegen ihren Teil beigetragen haben mögen. Hinzu kam, daß einige Mitarbeiter aus dem B.schen Institut wie Paul F. Lazarsfeld und vor allem Marie (Albu-) Jahoda zu sozialistischen Kreisen gehörten und auch illegal tätig waren. Jedenfalls wurde B. gleich nach dem »Anschluß« (13.3.1938) von der Gestapo interniert: vom 23.3. bis 7.5.1938 war er in Haft, wo in verschiedener Weise Druck auf ihn ausgeübt wurde, vor allem mit dem Ziel der Scheidung von seiner jüdisch stigmatisierten Frau. [9] Durch norwegische Intervention (Charlotte B. war damals dort) konnte B. zu einer Gastprofessur nach Oslo ausreisen. [10] Formal wurde diese Periode durch seine rückwirkende Pensionierung am 21.11.1938 abgeschlossen.
Nach der Emigration konnte B. fachlich nicht mehr Fuß fassen – die Haft hatte ihn zunächst wohl auch zu einem gebrochenen Menschen gemacht. [11] Als B. nach einer Erholungspause in Norwegen 1938 in die USA immigrierte, gelang ihm der Einstieg in die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht mehr – ein von ihm zuletzt auf Drängen seiner Frau Charlotte angenommener Ruf an die Fordham University in New York ließ sich nicht mehr verwirklichen, weil er als Katholik, der mit einer Protestantin verheiratet war, an einer katholischen Universität nicht tragbar erschien; [12] ob dabei auch seine Stigmatisierung als vormaliger Inhaftierter eine Rolle spielte, ist unklar. [13] B. selbst fand in den USA nur noch klinische Jobs: 1939 am St. Scholastica College, Duluth in Minnesota; 1940-1945 in St. Paul, Minnesota, seit 1945 in Los Angeles als frei praktizierender Arzt mit Lehrtätigkeit in der Medizin an der University of Southern California. Nur im (katholischen!) St. Thomas College in St. Paul konnte er in seinen Lehrveranstaltungen zur Allgemeinen Psychologie auch sprachtheoretische Fragen aufnehmen - vor offensichtlich breiter interessierten Studenten, die sich in den Kriegsjahren aus dort eingerichteten Kursen für Navy-Kadetten rekrutierten: erhaltene Nachriften von diesen zeigen, daß er damit durchaus Anklang fand. Offensichtlich konnte der dabei auch an seine militärpsychologischen Arbeiten am Ende und anch dem ersten Weltkrieg anknüpfen (u.a. mit Tests zur Belastungsfähigkeit bei Fliegern u.dgl., vgl. dazu auch bei Selz), s. die Nachschriften im Nachlaß (s. Q). In diesem Kontext entstand ein Manuskript (122 Bl.) zu einem »Pocket book on practical semantics« (im Nachlaß, Q, datiert 1942), in dem sich seine weit gespannten "semiotischen" Überlegungen, von der Zeichentheorie bis zur Fragen der Kunst, niedergeschlagen haben.
Neben seiner ärztlichen Tätigkeit versuchte er durchaus auch seine Forschung neu zu organisieren, ausgerichtet auf schon früh von ihm angegangenen Fragen im Grenzbereich von Biologie/Verhaltensforschung (s.u. dem Schlüsselbegriff der Steuerung in seinen frühen Arbeiten); diese nahm er jetzt im Stil neuerer kybernetischer Modellierungen wieder auf. Dabei versuchte er sich ohne Erfolg auch mit einem größeren Forschungsprojekt »Seven Years of Traffic-Safety on High-Ways: Safety Quotients and Safety Profiles«. Der umfangreiche Nachlaß von annähernd 5000 Seitien enthält eine ganze Reihe von Manuskripten mit Forschungsskizzen und Exzerpten aus der Forschungsliteratur, die seine sprachtheoretischen Überlegungen in einen breiteren anthropologischen Horizont stellen: zum Aufbau von Orientierungsystemen bei Tieren (Hausfliegen, Bienen, Krebsen u.a.) und der Potenzierung dieser Systeme durch die Nutzung medialer, also symbolischer Ressourcen (Kompaß, Karten u. dgl. beim Menschen, zugleich mit der biologisch-körperlichen Fundierung der Systeme: zeitliche Gliederung fundiert im Rhythmus der Atmung, des Pulses, der Periodiserung des Stoffwechsels, der Befriedigung von Hunger / Durst u.a. mehr. [14] Eine detaillierte Inventarisierung und kursorische Auswertung des an der Univ. Graz archivierten Nachlasses (s. Q) findet sich bei Daniela G. Camhy. [15] Demnach stammt der größte Teil dieses hand- oder maschinenschriftlichen Nachlasses (meist undatiert) wohl noch aus der Zeit vor der Emigration, enthält Vortragsentwürfe, Exzerpte und Notizen, die offensichtlich in die von ihm als Synthese verfaßte »Sprachtheorie« eingegangen sind. Spätere Arbeiten können im einzelnen allerdings sicherlich noch präzisere Bestimmungen enthalten, so in Hinblick auf seinen (sprachlichen) Handlungsbegriff, den er auch im therapeutischen Zusammenhang weiter reflektierte (s. a.a.O.: 69ff.), oder auch seine strikte Absage an den Physikalismus bzw. logischen Positivismus (so insbes. in Bezug auf Carnap, a.a.O., S. 19-21), zur Schrift s.u..
Insofern ist B.s Schicksal ein dramatisches Beispiel für den Bruch einer wissenschaftlichen Karriere durch die erzwungene Emigration. Allerdings versuchte B. durchaus, seine Arbeiten vor der Emigration weiterzuführen - der Herausgeber der geplanten Gesamtausgabe, Achim Eschbach, spricht sogar von einer Kontinuität in seinem Werk. [16] Dabei waren die Schwierigkeiten des Exils bei B. sicher nicht nur einseitig: B. war von seinen früheren USA-Aufenthalten verstört durch den dort seiner Meinung nach rapide voranschreitenden »Kulturverfall«, der ihn die US-amerikanische Entwicklung mit der »bolschewistischen« als eine kongruente Bedrohung des europäischen Erbes sehen ließ. [17] Das tiefe Erschrecken und die Abneigung gegen die US-Gesellschaft haben sicher seine Ablehnung der früher ergangenen Rufe bestimmt – und später, bei dem erzwungenen Exil, die Schwierigkeiten, sich dort zu arrangieren. Als er aber nach dem Krieg wieder ein Angebot erhielt, nach Wien zurückzukehren, lehnte er es in Hinblick auf die Integration seiner Familie in das Leben in den USA ab (was wohl auf seine Frau und die Kinder, kaum auf ihn selbst zutrifft). Seine sprachtheoretischen Arbeiten wurden in den USA im wesentlichen erst nach seinem Tode wahrgenommen; [18] zur postumen Rezeption gehört insbesondere die ausführlich eingeleitete Übersetzung seines Axiomatik-Aufsatzes (s.u.) als Monographie. [19] Eine englische Übersetzung seiner Sprachtheorie ist 1990 in Europa erschienen. [20] Es ist signifikant, daß B. zwar 1941 in die Linguistic Society of America eintrat – aber nur bis 1948 Mitglied blieb.
B.s gesamtes Werk als Psychologe und Mediziner kann hier nicht gewürdigt werden. [21] Im Folgenden gehe ich ausführlicher nur auf sein sprachtheoretisches Werk ein, das eine Schlüsselstellung in der jüngeren Sprachforschung hat - oder jedenfalls haben sollte. Als Vertreter der Denkpsychologie hat er von Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere an in die sprachwissenschaftlichen Diskussionen eingegriffen hat. Anlaß dazu war die virulente Subsumption der Sprachwissenschaft unter die Psychologie Wundtschen Typs, die jedenfalls die theoretischen Äußerungen in der Folge der Junggrammatiker bestimmte. In Auseinandersetzung mit Husserls Kritik am Psychologismus[22] entwickelte B. seit 1907 in einer ganzen Reihe von Aufsätzen ein sprachtheoretisches Modell, das 1934 in seiner »Sprachtheorie« einen zusammenfassenden Ausdruck finden sollte. Über spezifische Forschungsprobleme hinaus hatten sprachtheoretische Fragen für ihn eine Schlüsselstellung in der Abklärung eines theoretischen Konzepts von Psychologie, wie er es in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Fach in »Die Krise der Psychologie« (1927, s. dazu w.u.) entwickelte. Dort stellte er die Sprachanalyse als kritisches Moment jeder anthropologisch ausgerichteten Wissenschaft heraus und argumentierte damit gegen die verschiedenen reduktiven Ansätze in der zeitgenössischen Psychologie (dabei ausdrücklich mit Einschluß der Psychoanalyse, deren Kritik der vierte Abschnitt des Buches gilt, S. 162 – 199): gegen die Dominanz sexueller Triebkräfte stellte er eine weniger festgelegte Ausrichtung der "Lust" als Energie gerade auch für kognitive Aktivitäten, insbes. als Funktionslust, die nicht nur frühkindliches Verhalten bestimmt (vgl. auch die ähnliche Kritik bei W.Stern ).
Gegen die Reduktion auf »Seelisches« (das „Erleben“) und damit die Reduktion von Sprache auf dessen Ausdruck (so insbesondere gegen Wundt gerichtet) stellte er die Konstitution von Sprache in sozialen Bezügen, dabei aber gegen die Reduktion auf Kommunikation i.S. von Verhaltenssteuerung (die eben auch bei Tieren gegeben ist). Im expliziten Anschluß an Husserl stellte er die reflexive Dimension von Sprache heraus, die sich im Sinn des Handelns ausdrückt (dessen Fehlen für ihn die Abgrenzung zu tierischem Verhalten begründet, so komplex dessen symbolische Aspekte auch sein mögen: ausdrücklich spricht er auch bei den Leistungen höherer Tiere von einer Semantik). Im Kontext der damaligen ganzheitlichen Debatten (z.B. bei Spranger und Freyer) forderte er eine »Strukturanalyse«, die Sprachanalyse für alle einschlägigen Disziplinen paradigmatisch macht, insbesondere aber für die Psychologie. Husserls Zeichenbegriff ist für ihn die Grundlage für einen theoretischen Ansatz in Abgrenzung zu allen »natürlichen« Reduktionsversuchen. Sehr detailliert musterte er die Ressourcen von Ausdrucksformen (Gesten, Mimik, Laute) und stellte heraus, daß deren Deutung vor allem durch die Möglichkeit metaphorischer Übertragung von bereits vollzogenen Deutungen durchaus offen ist. Dabei bleiben aber alle solche Deutungen ikonisch gebunden. In der Überwindung solcher ikonischer Bindungen liegt für ihn das konstitutive Merkmal von Sprache, das deren „Darstellungsfunktion“ begründet (die er 1934 dann auch als Untertitel seiner „Sprachtheorie“ nahm), die Sprache von „natürlichen“ Ausdruckssystemen unterscheidet, bei denen er nur von einer „Art von Sprache“ (zur Verdeutlichung sprach er so auch von Lautsprache, wie es allerdings damals in solchen Darstellungen üblich war).
Im übrigen war die Professionalisierung der Psychologie damals ebenso wenig abgeschlossen wie die der Sprachwissenschaft, sodaß die »Revierabgrenzung« für B. auch noch ein offenes theoretisches Problem war. Darauf zielen bei ihm auch terminologische Abgrenzungen; so wenn er öfters die Sprachwissenschaft im umfassenden Sinne reklamiert, der er später im Kontext der Diskussion mit den Pragern auch die Linguistik im engeren Sinn gegenüberstellt. Hier seien nur einige Etappen in der Entwicklung von B.s einschlägigen Überlegungen genannt: Gewissermaßen programmatisch für das ganze Werk steht seine ausführliche Rezension zu Marty, [23] in der er ein umfassendes Verständnis von Sprachwissenschaft reklamiert (»alle Forschungen, deren Objekt die Sprache ist«, S. 947). Im engeren Sinne der Rezension stellte er eine theoretische Rekonstruktion der Analysen in der Nachfolge Husserls gegen Martys Begriffstaxinomien, wobei bei seiner formalen Kritik an begrifflichen Unklarheiten bei Marty allerdings untergeht, daß dieser mit seiner Betonung der konstitutiven Rolle von synsemantischen Sprachformen gegenüber autosemantischen durchaus das in den Blick nahm, was er selbst später als Struktur des Symbolfelds entwickelte, s.u.
In diesen frühen Arbeiten entwarf B. einen funktionalen Ansatz, der in der Unterscheidung von Kundgabe, Darstellung und Beeinflussung (die nicht in jeder Äußerung gleich bestimmt sein müssen) schon das Organonmodell seiner späteren Sprachtheorie enthält. Damit wandte er sich gegen jede Art von Reduktionismen: die Sprachanalyse/Sprachwissenschaft kann weder von der Psychologie, noch von der Logik (hier auch gegen die frühe Position Husserls), noch von der Soziologie her entwickelt werden – sie verlangt eine eigene Wissenschaft. B. ist insofern sicher einer der entschiedensten Vertreter einer Neubegründung der Wissenschaften durch eine methodologische Fundierung – für die Sprachwissenschaft einer der wichtigsten. Sein vollständiges Modell mit den drei Dimensionen Kundgabe (später ersetzt er diesen Terminus, der auch in Husserls Argumentation zentral ist, durch Ausdruck), Auslösung (später: Appell), Darstellung entwickelte er dann weiter in: »Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes«; [24] es ist das überzeugende Plädoyer für eine strukturale Analyse der sprachlichen Leistungen, die strikt von der empirischen Untersuchung (der Rekonstruktion von Prozessen, insbes. der ontogenetischen Aneignung der Sprache und der ethnologisch gestützten Untersuchung der phylo-/soziogenetischen Sprachentwicklung) zu trennen ist. Hier zeigt er insbesondere, daß die verschiedenen Äußerungskategorien (Aussage, Aufforderung, Frage) und die zugeordneten syntaktischen Strukturmuster keine Reduktion auf eine geringere Anzahl von Dimensionen erlauben.
Die zentrale Kategorie der Denkpsychologie, die B. in die sprachwissenschaftliche Argumentation einführte, ist das Schema – aus der Kantischen Transzendentalphilosophie hergeleitet, als Korrelat zum Gestaltbegriff der empirischen Forschung expliziert (s. hier die Parallelen bei Selz). Dieser Begriff dient ihm zur Entwicklung grammatischer Kategorien, die nicht aus den Elementen einer niederen Stufe induktiv hergeleitet werden können, wie insbesondere in der Syntax Kategorien wie Satz, s. etwa zur Entwicklung des Schemabegriffs im Kontext experimenteller Untersuchungen zum Denken (Gedankenformen, insbes. auch syntaktisch verknüpfter Formen, gegenüber protokollierbaren »Denkerlebnissen«, Vorstellungen) »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge I. Über Gedanken«; [25] zusammenfassend auch im zweiten Teil seines Referats »Über das Sprachverständnis vom Standpunkt der Normalpsychologie aus« auf dem 3. Kongreß für experimentelle Psychologie; [26] zur Entwicklung von syntaktischen Schemata in »Invarianten« gegenüber den Belegungen der syntaktischen Variablen s. etwa schon »Vom Wesen der Syntax«; [27] sowie »Über den Begriff der sprachlichen Darstellung«, [28] wo er die theoretische Begrifflichkeit (wieder bes. in Bezug auf die Syntax) aus dem kognitiv-kontrollierten Umgang mit Sprache, nicht aus der Taxinomie (historisch zufälliger) Datenaggregate zu entwickeln fordert. Damit brach B. gewissermaßen durch die Schallmauer der buchhalterischen Faktenkompilationen in den damaligen Syntaxdarstellungen, wie sie etwa in Behaghels Arbeiten repräsentiert sind (nicht von ungefähr erschien der Beitrag von 1922 in einem Band, mit dem sich die »moderne« kulturanalytische Richtung darstellte).
Folgenreicher wurden B.s Verbindungen zu einem der damals dynamischsten Zentren der sprachwissenschaftlichen Entwicklung, dem Prager Linguistenkreis. Eine von deren führenden Figuren, N. S. Trubetzkoy, war als Professor für Slawistik B.s Kollege in Wien, zu dem er engen Kontakt hatte (s. bei diesem). Über ihn nahm er an dem Phonologiekongreß 1930 in Prag teil; ansonsten blieben die Kontakte zu den Pragern wohl auf die regelmäßige Verbindung zu Trubetzkoy vor Ort in Wien beschränkt; allerdings veröffentlichte B. mehrfach Beiträge in den »Travaux«, zuletzt in Bd. 6, 1935. [29] B. fand hier kongeniale Ansätze vor – und so nahm er die Entwicklung der Phonologie in Abgrenzung zur Phonetik zum Anlaß, sein denkpsychologisch fundamentales Prinzip der abstraktiven Relevanz als grundlegend einzubringen. In der kritischen Auseinandersetzung mit den Pragern, insbes. mit seinem Wiener Kollegen Trubetzkoy, wurde B.s theoretische Kritik am endemischen sprachwissenschaftlichen Psychologismus produktiv. Trubetzkoy hatte sein Phonologiekonzept zunächst im Sinne der »psychophonetischen« Communis Opinio in Hinblick auf »Lautvorstellungen« entwickelt – das verhinderte eine weitergehende theoretische Durchdringung der Problemstellung, ermöglichte aber gleichzeitig die »unauffällige« emblematische Rezeption des Neuen: die Rede von Phonemen anstelle von Lauten breitete sich schnell aus (bes. auch bei den Wiener Kollegen Ettmeyer, Richter u.a.) und bestätigte den Psychologismus junggrammatischer Observanz. B. attackiert diese »Materialentgleisung« sprachwissenschaftlicher Analysen in »Erlebnisdeutungen« in der Husserlschen Tradition (in der »Sprachtheorie« spricht er sogar sarkastisch von der »Metzgeranalyse«, die nicht ohne die Vorstellung eines direkten »materiellen« Korrelats der theoretischen Begriffe auskommt, dort S. 58).
Eine explizite Kritik an Trubetzkoy bzw. den Pragern veröffentlicht er bei diesen selbst (»Phonetik und Phonologie«), [30] in der er eine materiale Analyse der Äußerungen (sowohl in phonetischer Hinsicht wie in psychologischer) von einer zeichentheoretischen unterscheidet, die auf funktionalistische Kriterien gegründet ist (auf sein Prinzip der »abstraktiven Relevanz« der Phonemanalyse – hier findet sich bei ihm schon das Konzept der Phonologie als funktionaler Phonetik, s. S. 43). Es ist diese Kritik, die Trubetzkoy zum konsequenten Ausbau seiner phonologischen Theorie bringt: in den »Grundzügen« erkennt dieser auch B.s entscheidende Rolle an (s. a.a.O., S. 17 ff). In Hinblick auf die Phonologie kommt B. hier mit Überlegungen zum Abschluß, die er seit den Anfängen seiner experimentellen Forschungen verfolgt hat (s. seine Analyse der »akustischen Sprachwahrnehmung« in dem erwähnten Referat auf dem 3. Kongreß für experimentelle Psychologie 1909, in dem ihm aber noch die Redeweise von Buchstaben für Laute unterläuft, S. 97). Bei den Prager Linguisten entwickelte er auch sein eindeutigstes Plädoyer für eine empirisch orientierte Sprachtheorie, die Formalisierung nicht i. S. deduktiver Ableitungen betreibt – hier auch gegen seine Einvernahme durch Sprachphilosophen, die aus dem monologischen Denkansatz der Tradition nicht ausbrechen können (hier auch mit einer Polemik gegen Husserl, S. 9), s. »Das Strukturmodell der Sprache« [31
B. war damals einer der prominentesten Psychologen, für den sich die Auseinandersetzung mit sprachwissenschaftlichen Problemen zwangsläufig aus der klinisch-experimentellen Praxis ergab. In seinem oben schon erwähnten systematischen Aufriß der Lage des Faches: "Die Krise der Psychologie" [32]stellt er die Notwendigkeit von "Strukturanalysen" gegen die damals dominierenden "ganzheitlichen" Ansätze (s.o.), wobei für ihn die Sprachanalyse paradigmatisch ist – faktisch benutzte er hier einen fachgeschichtlich angelegten Aufriß zur Darstellung seines eigenen Forschungsprogramms (explizit mit dem Hinweis auf seine „Sprachtheorie“ als work in progress). Es ist eine synoptische Abklärung sehr unterschiedlicher Forschungsfelder, die er hier zur Modellierung mustert: explizit auch mit einer Würdigung des deskriptiven Gewinns behavioristischer Arbeiten (so beschränkt die dabei ins Feld geführten theoretischen Modelle auch sein mögen), im Rückgang auf die unumgängliche Sichtung der biologischen Grundlagen für anthropologisch zu fassende Fähigkeiten, die mit denen der Tiere abgeglichen werden müssen (mit der Ausdifferenzierung des Umgangs mit Zeichen beim Menschen gegenüber der Verarbeitung von Signalen bei Tieren); und schließlich nicht zuletzt auch eine formale Modellierung mit technischen Konzepten wie dem notorischen Sender-Empfänger-Modell als Explikation für seinen Grundbegriff der Steuerung, den er über die wechselseitige Steuerung als Grundlage sozialen Verhaltens bis in die Ausdifferenzierung der Fähigkeit zur Darstellung von Sachverhalten verfolgt.
Für dieses Unternehmen kann er auf seine bereits unternommenen Analysen zurückgreifen. Das gilt für die Arbeiten zur Syntax im Rahmen von denkpsychologischen Forschungen, aber z.B. auch für die Differenzierung der Sprachfunktionen bei einem ganzheitlichen Ansatz, die kindliche Sprachentwicklung in klinischer Beobachtung zu verfolgen (s. »Die geistige Entwicklung des Kindes«); [33] hier stellte sich das Problem der relativen Autonomie der sprachlichen Form gegenüber biologischen Faktoren ebenso wie gegenüber sozialen Umweltfaktoren. Konsequent stellte er seine Überlegungen in den Horizont einer umfassenden Semiotik, wo er nicht nur Sprache mit anderen Symbolsystemen (Musik, kartographischen Darstellungen u. dgl.) verglich, sondern (i. S. der kognitiven Orientierung der neueren Sprachwissenschaft sehr aktuell) den für die Sprachtheorie nötigen Begriff der Modellierung dem der (ikonischen) Abbildung gegenüberstellte und so die Grammatiktheorie fundierte (»Die Symbolik der Sprache«). [34] In diesem Sinne organisierte er auf dem 12. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1931 in Hamburg einen »Sprachtag«, an dem neben Psychologen (u.a. H. Werner und K. Goldstein) auch der Philosoph E. Cassirer sowie G. Ipsen und L. Weisgerber teilnahmen. [35] B. selbst referierte dort über »Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile« (a.a.O., S. 95-122), wobei er sein Organonmodell vorstellte, sich aber auch ausführlich mit sprachwissenschaftlichen Grundlagendiskussionen befaßte – außer mit der Prager Phonologie z.B. passim mit de Saussure . 1933 stellte er sein ausgearbeitetes theoretisches System zum ersten Mal vor (»Die Axiomatik der Sprachwissenschaften«). [36] 1934 bildete die »Axiomatik« in überarbeiteter Form den ersten Teil seines theoretischen Hauptwerkes »Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache«. [37]
Mit dieser "Axiomatik" versuchte B. die begrifflichen Grundlagen einer Sprachtheorie herauszustellen, indem er die Spezifik von Sprache gegenüber anderen Symbolsystemen identifizierte. Auf vier zunehmend spezifischeren begrifflichen Ebenen klärt er das im Abgleich mit anderen Systemen. Auf der ersten Ebene formulierte er sein "Organonmodell" (s. 24 ff.), das mit der Ausdifferenzierung der drei Pole Sender, Empfänger, Gegenstand und den ihnen zugeordneten Funktionen Ausdruck, Appell, Darstellung inzwischen fester Bestandteil "semiotischer" Reflexion geworden ist (und auch in vielen Einführungsdarstelllungen mit der Reproduktion des Schemas von S. 28 sedimentiert ist) - wobei in der Regel übersehen wird, daß auf dieser Abstraktionsebene für B.s Überlegungen noch die Äquivalenz von Sprache und anderen kommunikativen Systemen gilt (weshalb das Modell auch oft als "Kommunikationsmodell" firmiert). Die spezifischen Strukturen entwickelte B. dann auf den folgenden Ebenen, wobei für die Sprachstrukturen vor allem die vierte Ebene entscheidend ist, auf der er das für ihn konstitutive sprachlich aufgespannte Symbolfeld begründete: anders als einfache Zeichensysteme (Signale mit Flaggen u. drergleiche) sind sprachliche Zeichen grammatisch formatiert und erlauben dadurch die Artikulation von Sätzen, s.u. (er spricht zur Abgrenzung von diesen von dem "Zwei-Klassen-System" der Sprache), bes. S. 73 ff.. Diese Überlegungen bildeten die Grundlage für ein ausdifferenziertes Arbeitsprogramm an seinem Institut, an dem seine Mitarbeiter(innen) spezifische Aufgaben übernahmen, wie er auch im Vorwort der "Sprachtheorie" herausstellt.[38]
Über die systematische Entfaltung seines Modells hinaus hatte B. hier den vielleicht bis heute am weitesten durchgeführten Versuch unternommen, die methodische Neubegründung der Sprachwissenschaft, die seit dem Ende des 19. Jhdts. im Gang war, theoretisch zu unterbauen. Er betrieb das im Rahmen eines sehr viel umfassenderen Unternehmens: im gleichen Sinne hatte B. bzw. das von ihm geleitete Institut eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der modernen, empirisch fundierten Sozialwissenschaft (s. bei (Albu-)Jahoda, Hetzer, Lazarsfeld). In diesem Sinne markiert die »Sprachtheorie« einen Wendepunkt in den methodologischen Diskussionen in Deutschland: auch die Auseinandersetzung mit Saussures »Cours« ist bei B. nicht mehr eine Frage assoziativer Rezeption sondern einer (kritischen!) Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Implikationen. Über den »axiomatischen« Entwurf einer umfassenden Sprachforschung, die keine Reduktion der Sprache auf eine der drei Dimensionen: Darstellung (sachverhaltsbezogen), Ausdruck (früher: »Kundgabe« – sprecherbezogen) und Appell (früher: »Beeinflussung« – hörerbezogen) erlaubt, führt er hier die theoretischen Grundlagen der Darstellungsdimension aus (entsprechend dem oben zu seinen Arbeiten zur Phonologie und Syntax Gesagten; dabei aber auch mit erst in jüngster Zeit gewürdigten wichtigen Überlegungen zum sprachlichen Feld, das auch morphologische und Wortbildungszusammenhänge bestimmt). Die sprachliche Dimension »Kundgabe« vs. »Ausdruck« findet entsprechend seinem Ausgangspunkt, darin keine genuine sprachanalytische Frage zu sehen, ihre Berücksichtigung in seiner »Ausdruckstheorie«, [39] wo die symbolische (und damit kulturspezifische) Ausgestaltung primär bestimmter Funktionsinterpretationen von Gesten durchgängiges Thema ist (s. insbes. S. 58ff., 82ff., 137ff., 178ff.). Die Abgrenzung des spezifischen Gegenstandes der Sprachtheorie von Erscheinungsformen des Ausdrucks war durchgehend bei ihm die Achse für seine Abgrenzung von der erlebnis-fundierten psychologischen Tradition, in der für ihn vor allem Wundt stand (s. im „Krise“-Buch von 1927, bes. S. 30 – 39)
Die längst noch nicht eingeholten konzeptuellen Modellierungen B.s fundieren in seinen gestalttheoretischen Grundlegungen. Mit deren Feldbegriff löste er sich von den anschaulichen Bindungen der zeitgenössischen (und weitgehend auch heutigen) theoretischen Reflexion, insbesondere auch von psychologischen Reduktionen. Symbolische Strukturen lassen sich nicht von der materialen Beschaffenheit der Zeichen (und auch nicht von dem psychischen Substrat ihrer Handhabung) her erklären, sondern von ihrer Wertigkeit im symbolischen Feld, das mit ihnen gewissermaßen notwendig projiziert wird (das war bei B. die Husserlsche Vorgabe). Dabei sind zwei Stufen im Feldaufbau zu unterscheiden: einerseits die noch »empraktisch« verankerten Feldstrukturen: das Zeigefeld, das mit seiner Verankerung in der Sprechsituation für die Interpretation der Äußerung unverzichtbar ist, das aber die sprachlichen Potentiale insofern auch durch die kommunikative Bindung nicht voll zur Geltung bringt. Das erfolgt erst im Symbolfeld, bei dem die Bedingungen für die Interpretation der Äußerung symbolisch artikuliert werden. Auf die Freisetzung von kommunikativen Bindungen zielen die grammatischen Strukturierungen, die in der kommunikativen Praxis nur in dem Ausmaß genutzt werden, wie es situativ erforderlich ist (und d. h. in vielen Fällen überhaupt nicht, wenn empraktisch eine grammatische Artikulation nicht erforderlich ist). Vor diesen Hintergrund entwickelt B. die Grundlagen für eine Grammatiktheorie, deren Grundbegriff Satz von ihm als »geschlossenes und wohlbesetztes Symbolfeld« (1934: 366) expliziert wird. Im Gegensatz zur Rezeption B.s als Vorläufer einer funktionalistischen Sprachbetrachtung ist für diesen (wie ja auch für Husserl) der kommunikative Akt nicht grundlegend, der außer von empraktischen vor allem auch noch durch Ausdrucksaspekte (s. o.) bestimmt ist, sondern die perspektivische Fluchtlinie der Darstellung als Freisetzung des Symbolfeldes von kommunikativen Zwängen. Damit entwickelte B. die Grundlagen für eine theoretische Ausarbeitung des Konzepts des Sprachausbaus, gegen eine reduktive Engführung der sprachwissenschaftlichen Reflexion, wie sie seitdem dominant geworden ist.
Sprache ist für B. der komplexe Ausbau vorsprachlicher Leistungen, zu denen insbes. auch kommunikative Praktiken gehören. Daher wird dieses sprachliche Potential vor allem in den grammatischen Formen greifbar; in dieser Hinsicht geht B.s weit über das hinaus, was zeitgenössisch sonst in der Sprachtheorie geleistet wurde (s. etwa bei Cassirer oder R.Hönigswald). Das erklärt im übrigen auch seine frühe Rede von den für die Sprache konstitutiven „Ordnungszeichen“ (z.B. „Krise“: 62) – der Terminus wurde durch die spätere Ausarbeitung der Faktoren des Symbolfeldes obsolet. Im kommunikativen Default-Fall (wie wir heute sagen) ist Sprache nicht oder nur rudimentär gefordert; insofern zeigt sich die Sprachstruktur in vollem Sinne nur da, wo nicht-sprachliche Mittel nicht hinreichen: in dem mit Sprache eröffneten Symbolfeld, das in der alltäglichen (kommunikativen) Praxis nur als eine Art Grenzwert fungiert. So ist bei ihm die argumentative Grundfigur für die Entwicklung der grammatiktheoretischen Grundbegriffe die "schrittweise Erlösung des Satzsinnes aus den Umständen der Sprechsituation" („Krise“: 373 und so öfters), wobei er mit Stufen operiert: von empraktischen (also kommunikativ-interaktiv gebundenen) Äußerungen mit der Dominanz des Zeigfeldes über narrative Äußerungen, deren "Darstellungsgehalt" vom aktuellen Zeigfeld frei ist (ebd. 379), bis hin zu logischen Aussagen, die er als "reflexive" sprachliche Akte faßt: "Die Logik besinnt sich auf die Struktur des Darstellungsgerätes vom Typ Sprache und stellt Sätze hin, an denen die Konstruktionsbedingungen aller einfachen und komplexen Gebilde des Systems und aller Operationen, wodurch sie auseinander hervorgehen, einsichtig werden." (ebd. 384).
Wie radikal neu B. seine Sprachtheorie aufbaute, wird deutlich, wenn man ihre formale Seite als Markiertheitstheorie liest. Dabei macht es den Rang von B.s Werk aus, daß er seine Grundüberlegungen bis zu grammatischen Einzelfragen durchzog (etwa in dem ausführlichen Kapitel über Kasus, "Sprachtheorie" 1934: 236f.): z.B. keine Markierung im Default-Fall (bei Bezeichnungen für Unbelebtes als Objekt wie im ie. Neutrum) gegenüber der Akkusativ-Markierung bei Belebtem als Objekt (ebd. 239-240). Hier erweist sich B. als konsequenter Strukturalist, der das Husserlsche Konzept der Fundierung in diesen Analysen im Symbolfeld umsetzt, in dem die Formen eine Bedeutung als relativen Wert haben. Das macht auch B.s Sonderolle in der psychologischen Forschung aus: für ihn läßt sich die kognitive Funktion einer sprachlichen Form nicht bestimmen, ohne ihren Wert in einem solchen (sprachspezifischen!) Feld bestimmt zu haben – während nicht nur damals in der Forschung sonst sprachliche Formen direkt mit »Gedanken«inhalten verknüpft wurden und werden.So verstand es sich für B. auch von selbst, daß er seine Argumentationen immer in einem sprachtypologischen Horzont abzugleichen versuchte - so eingeschränkt er dabei in seinem Überblick auch war: für ihn war selbstverständlich, daß die gewohnten grammatischen Strukturen sprachspezifische Idiosynkrasien waren, die auch also solche durchsichtig werden müssen, wie er es zu analysieren versuchte.
Die konsequente Weiterführung seiner Überlegungen im Sinne einer Reflexion auf den Sprachausbau wäre eine Theorie der Schrift gewesen, für die sich aber in der "Sprachtheorie" nur kursorische Bemerkungen finden. [40] Die Grundlage dazu bietet sein Vierfelderschema, mit dem er die meist diffus amalgamierten Dimensionen der Sprachreflexion isoliert hat (dort in §4, dem sog. "dritten Axiom" seiner Axiomatik, s. S. 48 ff.), mit einer systematischen Trennung von prozessualen Begriffen gegenüber strukturellen auf der einen Seite und dabei dem unterschiedlichen konzeptuellen (bzw. empirischen) Status der Begrifflichkeit auf der anderen. Prozessual sind die beobachtbaren Handlungen wie ihre analytische Modellierung in theoretischen Konzepten, für die er in der Nachfolge Husserls von Akten spricht. Demgegenüber sind das „Sprachwerk“ (als Resulat der Sprachhandlung) genauso wie das Sprachgebilde, die extrapolierbare Sprachstruktur (in der Saussureschen Terminologie: die langue), im sozialen Raum objektiviert und daher strukturell zu analysieren. Mediale Aspekte wie die Mündlichkeit, Schriftlichkeit oder auch Gebärden (bei nativen Gebärdensprachlern) sind demgegenüber sekundär: für jede in einer solchen medialen „Modalität“ beobachtbare sprachliche Handlung ist die Analyse im Sinne des Vierfelderschemas durchzuführen. Zwar spricht B. in diesem Text wie auch in früheren fast immer von der Lautsprache (s.o.), aber darin liegt bei ihm keine Einschränkung der Argumentation: das ist letztlich nur exemplarisch zu sehen.
Einige weiterführende Überlegungen dazu finden sich im Nachlaß (s. Q), in einem Konvolut mit zumeist handschriftlichen Notizen, das „Sprache und Schrift“ überschrieben ist. [41] Im Vordergrund steht die Isolierung der strukturellen Aspekte von Sprache gegenüber medialen, die historisch kontingent sind. Bei Gesprochenem kann von Sprache nur in Hinblick auf seine Zeichenstruktur die Rede sein, artikuliert im Symbolfeld – und als solche nicht an ein spezifisches Medium gebunden. Insofern hat für ihn die phonologische Analyse Modellcharakter für die Überwindung der Bindung an die mediale Anschaulichkeit, die im Sinne des Zeigfeldes nur instrumentell fungiert. Zwischen den unterschiedlichen medialen Formen der Repräsentation von Sprache gibt es daher eine Homologie: mehrfach hebt er hervor, daß gesprochene Sprache notwendig schreibbar ist. Die historische Frage nach der Erfindung der Schrift und damit nach der vorschriftlichen Sprachpraxis darf diese systematische Frage nicht verstellen. Unterschiede zwischen den verschiedenen Schriftsystemen, die er detailliert mustert (ausgehend von den Überblicken, die damals Jensen vorgelegt hatte, an die er sich auch in den Formulierungen anlehnt) sind demgegenüber sekundär; diese unterscheiden sich allerdings danach, wieweit sie sprachliche Strukturen sichtbar machen. Die optimale Form haben sie in der „Buchstabenschrift“, die er auch als „Phonemschrift“ bezeichnet (er spricht von der "Genialität der Phonemschrift"), die den analytischen Bau der Sprache graphisch repräsentiert, was bei anderen Schriftformen nur rudimentär der Fall ist. Ausdrucksformen überlagern diese Strukturen beim Gesprochenen wie beim Geschriebenen, weshalb insbesondere die Graphologie schrifttheoretisch nicht einschlägig ist. Von der zeichentheoretischen Grundbestimmung der Schrift dürfen eben auch "ganzheitliche" (in der Forschung gestalttheoretisch modellierte) Apekte nicht ablenken - in der "Sprachtheorie" gibt B. in dieser Hinsicht sogar explizit Wundts analytischer Modellierung recht (s. dort S. 277). Insofern hat B zwar die (nicht nur damals übliche) perspektivische Verkürzung der systematischen Betrachtung der Schrift auf die Frage nach ihrem „Ursprung“ überwunden, aber er ist hier nicht weiter zur Frage nach der Schrift als Ressource für die Darstellung gegangen, wenn diese (anders als die "Lautsprache") der kommunikativen Bindungen enthoben ist – in dieser Hinsicht finden sich nur relativ nichtssagende Verweise auf die rhetorische Tradition (und die „Dichtung“ …).[42]
Eine genaue Lektüre von B. könnte der gegenwärtigen Sprachwissenschaft das geschäftige Bemühen um eine vorgeblich ganz andere »Grammatik« der gesprochenen Sprache ersparen. Die dazu buchhalterisch aufgelisteten Erscheinungen zeigen im B.schen Sinne, daß keine vollständige Freisetzung des Symbolfeldes erfolgt ist, wobei auch B. schon die pragmatischen Faktoren, die das begründen, analysierte. Dabei blieb B. auch hier strikt im Rahmen der Sprachanalyse: gegen Husserl argumentierte er, daß die symbolischen Formen zwangsläufig sprachspezifisch sind (und nicht deduziert werden können). Zugleich endet die sprachliche Analyse an den Vorgaben des Symbolfeldes – vereinfacht: den Belegungen der Variablen des Satzschemas mit Nenn-Zeichen (heute sagen wir im Sinne der Prädikatenlogik: Prädikate), die durch Feld-Zeichen (grammatische Markierungen) eingebunden sind (im § 27 der "Sprachtheorie" erweitert er die Analyse über die Satzgrenze hinaus auf Text- und Diskurszusammenhänge). Alle weiteren Spezifizierungen sind eine Sache des außersprachlichen Wissens, gebunden an kulturelle Prämissen – was gerade auch in Hinblick auf heutige Bemühungen um eine kognitive Überwissenschaft eine bemerkenswert klare Position ist. Mit dem späten Husserl stellte er heraus, daß Sprache auch nicht auf das Symbolfeld (die Darstellungsfunktion) reduziert werden kann, sondern Äußerungen immer empraktisch (situativ) verankert werden müssen, um interpretiert werden zu können.
Die Bühler-Rezeption ist symptomatisch für die Entwicklung der Sprachwissenschaft. In Deutschland war B. zunächst eine unbestrittene Autorität: das gilt so insbes. für die antijunggrammatisch eingestellten Neuerer, die sich mit sprachtheoretischen Fragen befaßten (von E. Hermann über K. Vossler bis L. Weisgerber), [43] s. auch bei Benjamin. Das blieb auch nach seiner Verfolgung so: [44] bei Glässer (1939) fungierte er als primäre theoretische Autorität – und auch nach dem Krieg: bei den ehemaligen Neuerern wie Porzig figuriert die »Sprachtheorie« an prominenter Stelle (s. Porzig (1950 und folgende Auflagen), ebenso auch z.B. bei Brinkmann). Ende der 50er Jahre bemühte man sich auch wieder um den Exilanten B.: 1960 (!) hielt er in der BRD den Festvortrag auf dem Psychologenkongreß und erhielt auch sonst die Gelegenheit, seine Theorie zusammenhängend vorzustellen (»Von den Sinnfunktionen der Sprachgebilde«) [45] – bemerkenswert vor allem durch den Nachdruck, mit dem er dabei seine Auseinandersetzung mit Husserl herausstellte, vor allem mit dessen Spätwerk, den »Cartesischen Meditationen«, die er auch schon 1934 in der »Sprachtheorie« aufgegriffen hatte.
Dieser symbolischen Präsenz B.s entspricht aber keine Wirkung: wo die methodisch-operationale Reorientierung der Sprachwissenschaft nicht mitvollzogen wurde, wie es für die damalige deutschsprachige Sprachwissenschaft im großen und ganzen gilt, konnte B.s Versuch, sie theoretisch zu rekonstruieren, auch keine Wirkung haben. [46] In den USA aber wurde er als Sprachwissenschaftler überhaupt nicht zur Kenntnis genommen – und auch nicht bei den Emigranten hinreichend gewürdigt, die unter seinem Einfluß gearbeitet hatten, wie etwa Roman Jakobson, auch wenn dieser ihn öfters erwähnt. [47] Hinweise auf B. bzw. sein Fehlen in der US-amerikanischen Debatte finden sich allerdings bei einem anderen psychologischen Emigranten, Heinz Werner (s. z.B. dessen »Symbol Formation«, 1963: 52), mit dessen Arbeiten B. sich in seinen früheren Schriften auch eingehend auseinandergesetzt hatte. Interessant wäre es, die B.-Rezeption in Frankreich zu verfolgen, wo zumindest E. Benveniste sich mit ihm auseinandergesetzt hat und sich auf ihn bezieht . [48] Vermittelnd wirkte hier vor allem B.s Teilnahme am 11. Internationalen Psychologen Kongreß 1937 in Paris, wo er in einem der Hauptreferate seinen Ansatz vorstellte (»Der dritte Hauptsatz der Sprachtheorie. Anschauung und Begriff im Sprechverkehr«) [49] – bemerkenswert aktuell in der anschaulichen Ausgrenzung seines Gegenstandes, u.a. in der Abgrenzung von Sprache und filmischen Darstellungsmitteln (B. nahm bei diesem Kongreß an der von V. Brøndal geleiteten Sektion »Psychologie et Linguistique« teil). Hinweise auf B finden sich so durchgängig in neueren französischen Arbeiten zur Sprachanalyse, die sich nicht auf eine enge philologische oder auch strukturale Sichtweise festlegen lassen, aber um eine Klärung der begrifflilchen Grundlagen bemüht sind. [50]
Ein eigener Wirkungsstrang findet sich aber in der Philosophie, ausgehend von Karl Popper (1902 - 1994), der 1928 in Wien bei B. promoviert hatte (mit einer Dissertation über "Die Methodenfrage der Denkpsychologie"), nachdem er bei ihm auch eine Lehrerausbildung absolviert hatte. [51] In seiner heftigen Kritik an der seiner Meinung nach geradezu lächerlich reduzierten Vorstellung von Sprache bei den neueren Sprachphilosophen, vor allem auch im "linguistic turn" der wissenschaftstheoretischen Ausprägung, ging Popper explizit auch auf die B.sche Modellierung der Sprache zurück, die ihm demgegenüber explizit als begriffliche Grundlegung dient; dabei glaubte er allerdings, B.s drei Sprachfunktionen: Darstellung, Ausdruck und Kundgabe, um eine "argumentative" bzw. "explanatorische" Funktion ergänzen zu müssen [52]. Faktisch paraphrasierte er damit aber nur das umfassende Darstellungskonzept, wie es B. mit Külpe schon in der Bonner Zeit expliziert hatte (s. o.).
In den 1960er Jahren kam es in der BRD zu einer »Neuentdeckung« B.s bei denen, die sich gegen die deutsche Tradition auf die Rezeption vor allem der US-amerikanischen Sprachwissenschaft verlegt hatten, die in der »Sprachtheorie« aber einen Beleg für eine »kommunikationswissenschaftliche« (oder wie es später hieß: pragmatische) Revision des Strukturalismus fanden, s. etwa G. Ungeheuer, »Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie Karl Bühlers«, [53] der davon spricht, daß B. »vielen Linguisten unbekannt oder nur in Bruchstücken vertraut ist« (S. 2067), oder D. Wunderlich, »Karl Bühlers Grundprinzipien der Sprachtheorie«. [54] Aber eine umfassende Auseinandersetzung mit B., die nicht nur Versatzstücke aus dem Werk zur Bestätigung landläufiger Ansichten herausklaubt, insbesondere auch mit seinen Ansätzen zu einer umfassenden Theoriebildung mit Einschluß der Dimension des Sprachausbaus, steht noch aus, s. aber schon das zitierte Sammelwerk von A. Eschbach 1984 (Q) sowie inbesondere zur »Sprachtheorie« den Band der TCLP 2018 (T. Hoskovec, Hg.) (Q) . Zur neueren Rezeption von B. im russischen Sprachraum (1993 erschien eine russische Übersetzung der »Sprachtheorie« in Moskau), s. jetzt auch die entsprechenden Beiträge in Ehlich/Meng (2004).
In den letzten Jahren ist eine systematischere Beschäftigung mit B. zu verzeichnen, auch in eigens gewidmeten Tagungen u.dgl., s. die Hinweise in Eschbach (2012 -Q). Darauf kann hier nicht mehr eingegangen werden.[55]
Q: BHE; Stammerjohann (1996) (B. Schlieben-Lange); IGL (C. Römer); DBE 2005; International Encyclopedia of Social Sciences, New York: Macmillan 1967 (A. Wellek); die im Text genannten Arbeiten von Ch. Bühler, Camhy, Eschbach, Garvin, Lebzeltern, Sebeok u.a.; Coser 1984: 37ff.; Kowall (1983); A. Eschbach,(Hg.), Bühler-Studien. 2 Bde, Frankfurt: Suhrkamp 1984, dort in Bd. 2: 273 - 289 eine Bibliographie (zusamengestellt von R. Kamp); A. Eschbach, K.B. - Leben und Werk, in: ds. (Hg.), K.B. - Schriften zur Sprachtheorie. Tübingen: Mohr 2012: xi - xxiii. Hinweise von H. Hetzer. Zur neueren Forschung zu B., insbesondere auch mit Rückgriff auf den Nachlaß, s. T. Hoskovec (Hg.), K.B., eine Sprachtheorie wiederentdeckt (= Travaux du Cercle lingustique de Prague, N.S. 7), Prag: OPS, Kanina 2018. Ein Teil des Nachlasses (vor allem der handschriftliche) ist an der Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie an der Univ. Graz zugänglich (ausführlicher Katalog von Y. Ueda / U. Höfer, erstellt 2003); ein weiterer Teil, darunter vor allem die von B. genutzten und gesammelten sekundären Materialien, wird jetzt im Archiv der Univ. Wien aufbereitet und soll dort zugänglich gemacht werden (Pressemitteilung des Archivs vom 7.12.2017).
[1] Die Dissertation "Studien über Henry Home" ist wieder zugänglich im Nachdruck von B.s frühen Schriften: A. Eschbach (Hg.), K.B. - Sprache und Denken. Köln: von Halem 2015: 16 - 101.
[2] Zuerst in drei Teilen im Archiv für die gesamte Psychologie 1907 - 1908 gedruckt, wieder zugänglich in Eschbach (2015 - wie Anm. 1), zusammen mit weiteren frühen psychologischen Schriften, insbesondere auch der Kontroverse mit Wundt.
[3] Zugänglich in dem Sammelband Eschbach (2015 - wie Anm. 1). B.s Herangehensweise liegt auf der Linie einer damals durchgängigen Abkehr von der positivistischen Matrix, die den Wissenschaftsbetrieb des späten 19. Jhd. dominiert hatte. Was B in seinen weiteren Arbeiten als das konstitutive "Aha-Erlebnis" bei kognitiven Strukturen bezeichnet hat, die entdeckt werden müssen statt im kumulativen Fortschreiten von elementaren Wahrnehmungen aufgebaut zu werden, ist ein durchgehendes Element bei der Generation der damaligen Neuerer im Wissenschaftsbetrieb: systematisch entwickelt bei Husserl, der für B. auch schon in seinen frühen Arbeiten eine grundlegende Autorität war (in gewisser Weise geerbt von seinem Forschungsaufenthalt bei Stumpf), vor allem auch bei den andern Gestalttheoretikern, zu denen B. insofern auch zu rechnen ist, aber auch z.B. bei Goldstein, der den gleichen kognitiven Sprung als kategoriale Einstellung gegenüber symbolischen Strukturen artikulierte - bis hin zu Benjamin, für den die kategoriale Besonderheit eines Kunstwerks sich nur "jäh" in einem eigenen Akt erschließt.
[4] S. dazu auch B.s Darstellung von Külpe in: Lebensläufe aus Franken (= Veröff. d. Ges. f. Fränkische Geschichte, 7. Reihe), Würzburg:Kabitzsch u. Mönnich 1922, Bd. 2: 244 - 255. Bei der Darstellung bon Külpes universitären Aktivitäten spricht B. dort immer von "wir". (Der Hinweis auf diesen Text fehlt in Bibliographie von Kamp in Eschbach 1984 Q).
[5] So in der von Selz 1923 posthum veröffentlichten Bonner Logik-Vorlesung (s. bei Selz), dort bes. S. 293 - 294, ausgehend von den detailliert entwickelten Schlußverfahren der formalen Logik. Letztlich wurde damit nur die Begrifflichkeit der philosophischen Tradition der Antike fortgeschrieben, bei der die Sprachanalyse auf die Darstellung von Sachverhalten, auf den logos apophantikos, ausgerichtet war (zu gr. apo-phainoo "darstellen", apo-phasis "Darstellung").
[6] Zu den Umständen von B.s Berufung nach Wien und der Einrichtung des Instituts beim städtischen Schulamt, s. G. Benetka, Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922 -. 1938. Wien: WUV-Universitätsverlag 1995, sowie ds. < Geschichte der Fakultät für Psychologie der Universität Wien> Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, unter: http://homepage.univie.ac.at/margarete.halmetschlager/download/Geschichte_Fak_Psychologie.pdf. Außerdem V. Fadrus, Prof. Dr. Karl Bühlers Wirken an der Wiener Universität im Dienste der Lehrerbildung, Lehrerfortbildung und der Neugestaltung des Österreichischen Schulwesens, in: Wiener Z. f. Philos., Psych., Päd. 7/1959: 3-25. Den Hintergrund bildete das damals in der österreichischen Lehrerausbildung verlangte obligatorische psychologische Studien-"Modul", das von den dafür zuständigen Hochschullehrern (in der Regel damals mit einer philosophischen Denomination) zu gewährleisten war. Entsprechend gab es von diesen Bemühungen um eine entsprechende personelle Aufstockung. In diesem Sinne war auch an der Universität Graz A. Meinong [1853-1920] aktiv geworden, der mit B. einen zumindest brieflichen Kontakt hatte.
[7] S. dazu mit Dokumenten A. Eschbach, »Einige kritische Notizen zur neuesten Bühler-Forschung«, in: Historiogr. Linguistica 10/1983: 149-158.
[8] Sie traten also nicht aus wie die direkt betroffenen jüdischen Vorstandskollegen William Stern und David Katz.
[9] Zu dem dominanten politischen Hintergrund für B.s Verhaftung und Entlassung, ebenso wie zu den folgenden Rangeleien um die Gleichschaltung des Instituts (Nachfolger wurde G. Ipsen), s. Heiß 1993. Aufschlußreich für die damalige universitäre Konstellation in Wien ist das Verhalten des Tierpsychologen Konrad Lorenz (1903-1989), der bei B. studiert hatte und von diesem nachdrücklich gefördert worden war (insbesondere bei seiner Habilitation 1935 in Wien). Als engagierter Nationalsozialist machte er sich sogar Hoffnungen, das nach B.s Entlassung »freigewordene« Institut zu übernehmen. B. selbst hat im Mai 1938 in seinem "Lebenslauf" (s. die folgende Fn. 10) seine Unterstützung des Nationalsozialisten Lorenz als eine Art Entlastungsargument gegenüber den politischen Angriffen angeführt, s. dazu (mit ausführlich zitierten Briefauszügen u. dgl.) V. Hofer, »Konrad Lorenz als Schüler von K. B.«, in: Zeitgeschichte 28/2001: 135-159.
[10] Vorher mußte er noch einen "Lebenslauf" (datiert 21.5.1938) unterzeichnen, indem er sich als "unpolitisch" deklarierte, bei dem auch "aktive Nationalsozialisten" wie K. Lorenz (s.u.) Unterstützung gefunden hatten. Dort heißt es, daß er auch den Eid auf Hitler abgelegt habe, sodaß seine Festnahme nur "irrtümlich" erfolgt sein konnte. Unterzeichnete hat er ihn mit "Heil Hitler!". Abgedruckt ist dieses irritierende Dokument bei T.A.Sebeok, K.B., in: M.Krampen u.a. (Hgg.), Die Welt als Zeichen. Klassiker der modernen Semiotik. Berlin: Severin u. Siedler 1981: 205 - 232, hier: S. 228 - 229. Alles spricht dafür, daß er es nicht selbst verfaßt hatte, sondern daß es ihm vorgelegt wurde und er es unter Druck unterzeichnete, s. Eschbach, Fn.7.
[11] S. Ch. Bühler, »Die Wiener psychologische Schule in der Emigration«, in: Psych. Rundschau 16/1965: 187-196. Hildegard Hetzer beschreibt ihn vorher als einen relativ realitätsfernen, politisch naiven, alles in allem wohl eher konservativen Menschen.
[12] S. Ch. Bühler, a.a.O., 187-188.
[13] S. die Andeutungen in der Autobiographie von Charlotte B.*, s. bei dieser.
[14] »Theory of Language«, hg. und eingeleitet von A. Eschbach, Amsterdam: Benjamins, übers. von D. F. Goodwin; Neuausgabe mit einer Einleitung von W. Abraham (im gleichen Verlag) 2011, der auf die ausstehende Rezeption verweist.
[15] S. »Europa und der amerikanische Kulturwille«, in: Europäische Rundschau 5/1929: 635-650.
[16] Robert E. Innis (Hg.), »Karl Bühler: Semiotic Foundations of Language Theorie«, New York: Plenum 1982.
[17] S. der Nachruf von Paul Garvin, einem anderen Emigranten, in: Lg. 40/1964: 633-635.
[18] Karl Bühlers Sprachtheorie. Diss. phil (masch.-schr.) Graz 1980.
[19] S. dessen Vorwort zu den vom ihm hg. »Bühler-Studien«, 2 Bde., Frankfurt: Suhrkamp 1984 – dort in Bd. I: 25-30 auch noch eine biographische Skizze über Bühler von seiner Frau Charlotte. Die Kontinuitätsthese vertritt Eschbach auch in seiner Einleitung zur englischen Übersetzung der »Sprachtheorie« von 1990 (s. Anm. 11).
[20] S. dazu die Ausgabe und die ausführliche Biographie von Gustav Lebzeltern (Hg.), »Karl Bühler: Die Uhren der Lebewesen und Fragmente aus dem Nachlaß«, in: Sb. d. Österr. AdW., Phil-hist. Klasse 265/III, Wien: Böhlau 1969.
[21] Das gilt insbesondere auch für die theoretischen Grundsatzdebatten in der damaligen Psychologie, die u.a. zur Formierung der Gestaltpsychologie führten. B., der selbst auch an deren "Herd", dem Berliner Institut von Stumpf, studiert hatte, hat sich daran mit polemischen Beiträgen beteiligt, in denen er auch Prioritätsansprüche anmeldete, s. dazu Wellek (Q). Zu den im engeren Sinne sprachtheoretischen Zusammenhängen, s. außer den bereits genannten Arbeiten noch A. Eschbach (Hg.), »Akten des Bühler-Symposiums«, Amsterdam: Benjamins 1985; C. F. Graumann/Theo Herrmann (Hgg.), »Karl Bühlers Axiomatik«, Frankfurt/M.: Klostermann 1984.
[22] In seinem gesamten Werk sind die Bezüge auf Husserl durchgehend bestimmend. In seiner "Sprachtheorie" (1934, s.u.) ist Husserl im Register mit 15 Textverweisen nach Brugmann (28), Paul (24) und Wundt (21) der meist angeführte Autor - de Saussure findet sich 12mal.
[23] In: Göttingische Gelehrte Anz. 171/1909: 947-979.
[24] In: Idg. Jb. 6/1920: 1-20.
[25] In: A. f. d. gesamte Psych. 9/1907: 297-365, bes. 339ff., Teil II: Über »Gedankenzusammenhänge«, ebd. Bd. 12/1908: 1-122. Es handelt sich um seine Würzburger Habilitationsschrift.
[26] S. den »Bericht«, München 1909: 94-130.
[27] In: V. Klemperer /E. Lerch (Hgg.), »Idealistische Neuphilologie« (FS Karl Vossler), Heidelberg: Winter 1922: 54-84.
[28] In: Päd. F. 3/1923: 282-294.
[29] An den Treffen des Zirkels selbst hat er nie teilgenommen, s. dazu jetzt Ehlers (2005) und auch schon Oldrich Leska, Karl Bühler und die Prager Schule, in: A. Eschbach (Hg.), Bühler-Studien, Bd. 2: 263-272, Frankfurt: Suhrkamp 1984.
[30] In: Trav. Cercle L ing. Prague 4/1931: 22-48.
[31] In: Trav. Cercle L ing. Prague 6/1936: 3-12.
[32] Jena: Fischer 1927.
[33] Jena: Fischer 11918, 21924, dort zur Sprachentwicklung bes. S. 214ff.
[34] In: Kantstudien 33/1928: 405-409 – Text eines Vortrags auf dem Psychologenkongreß 1927.
[35] S. den »Bericht« des Kongresses, hg. von G. Kafka, Jena: Fischer 1932: 95-210 und 461-465. S. dazu auch bei K. Wolf.
[36] In: Kantstudien 38/1933: 19-90.
[37] Jena: Fischer 1934, 2. Auflage Stuttgart: Fischer 1965. Auf diesen Wiederabdruck der "Axiomatik" beziehen sich die folgenden Seitenangaben dazu.
[38] Dazu gehörte insbesondere Bruno Sonneck (1907-1984), der bereits 1933 bei B. promoviert hatte ("Das Satzproblem im Rahmen der Bühlerschen Sprachtheorie", masch.schr. Dissertation [60 S.] der Universität Wien). Es handelt sich um eine bemerkenswert selbstbewußte und über Strecken ausgesprochen lakonisch redigierte Arbeit, in der ihr Verfasser sich geradezu als Sprachrohr von B. präsentiert. Trotz ausgiebig angeführter zeitgenössischer Beiträge fehlt darin jeder Verweis auf Husserl (extensiv diskutiert er dagegen z.B. Nehring); er rekurriert vielmehr auf seine empirischen kinderpsychologischen Arbeiten für die Fundierung der Argumentation, also gerade nicht im Husserl.-B.schen Sinne auf konzeptuelle Strukturen ohne Zeitstruktur. Insofern bleibt noch zu klären, was B. mit dem Hinweis in der "Sprachtheorie" S. 232 meinte: "Eine immanent-kritische Studie des Fortschritts der Husserlschen Phänomenologie in Hinblick auf sprachtheoretische Probleme bietet eine saubere und subtile Dissertation, die abgeschlossen vor mir liegt; ich hoffe sie mit anderen sprachtheoretischen Arbeiten in Kürze veröffentlichen zu können". In der "Ausdruckstheorie" (1933) hatte Sonneck als Anhang einen Abschnitt aus Quintillian üer Mimik und Gestik übersetzt.
Dagegen vermerkte B. im Vorwort der "Sprachtheorie" ausdrücklich Käthe Wolf als diejenige, die sich theoretisch mit Husserl befaßte, s. bei dieser. Sonneck und Wolf waren Bs. Assistenten am Institut (finanziert aus den Mitteln der Rockefeller-Stiftung. Auch bei Benetka (1995, s. Anm. 6) findet sich nichts, was den Hinweis auf Sonnecks Husserl-Studien erklären könnte; auch A.Eschbach konnte als Kenner der B.schen Verhältnisse keine Aufklärung liefern (pers. Mitteilung).
[39] Jena: Fischer 1933, 2. Auflage Stuttgart: Fischer 1968.
[40] S. dazu W. Raible, »Konzeptionelle Schriftlichkeit, Sprachwerk und Sprachgebilde. Zur Aktualität K. B.s«, in: Rom. Jb. 39/1988: 16-21.
[41] Dort paginiert mit 11961 – 11975. Aus der Gliederung geht hervor, daß es der Entwurf für ein „Drittes Kapitel“ in einem geplanten Buch war. Die Bemerkungen, z.T. auch Zettel, die B. umsortiert und gelegentlich auch nur angeheftet hat, verweisen darauf, daß die Texte aus verschiedenen Zeiten stammen. Einiges ist durch die „Sprachtheorie“ überholt, anderes geht aber auch über diese hinaus – nicht zuletzt auch der andere konzeptuelle Rahmen, der bis in Exzerpte aus Goethes Morphologie reicht.
[42] Auch sonst sind diese Notizen noch sehr vorläufig. Zwar verweist er für diese rhetorischen Traditionen auf Aristoteles, nicht aber auf dessen axiomatische Grundbestimmung von Schrift als Repräsentation dessen, "was in dem Gesprochenen ist" - und eben nicht als Abbildung des Lautlichen selbst (s. dazu ausführlich Maas, "Die Schrift ist ein Zeichen für das, was in dem Gesprochenen ist" - Zur Frühgeschichte der sprachwissenschaftlichen Schriftauffassung, in: Kodikas/Code 9 / 1986: 247-292) - was recht genau B.s Grundanahme von der "Schreibbarkeit" mündlicher Sprache entspricht.
[43] S. etwa die ausführliche Auseinandersetzung mit ihm durch E. Winkler, »Karl Bühlers Sprachtheorie«, in: Germ.- rom. Ms. 24/1936.
[44] Schließlch war B. zwar rassistisch verfolgt, aber nicht selbst als Jude stigmatisiert; insofern fielen Verweise auf ihn nicht unter die Zitierzensur..
[45] In: R. Wisser (Hg.), »Sinn und Sein. Ein philosophisches Symposion«, Tübingen: Niemeyer 1960: 95-112.
[46] S. Kainz' geschwätziges Vorwort zur Neuauflage der »Sprachtheorie« 1965. Eine eigene Analye erforderte der Umgang mit B. in der deutschen "neuhumboldtianischen" Entwicklunglinie, die ihn auf eine kommunikative Sicht auf Sprache reduziert. Dafür steht (in der Tradition der charakterisierenden Typologie) z.B. Johannes Lohmann (1895 - 1983), der es 1942 fertigbrachte, B.s "Sprachtheorie" als "wenig durchdachte Kompilaton" abzuqualifiizieren (ds., K.B.s 'drittes Axiom', in: Acta Linguistica 3/ 1942-3: 5 - 16, hier S. 5) - allerdings mit einer durchaus aufschlußreichen Diskussion von Bs. "Vierfelder"-Schema. In seinem etwas verschrobenen Spätwerk ("Philosophie und Sprachwissenschaft", Berllin: Duncker & Humblot 1965) kritisiert er B. explizit als Repräsentanten einer kommunikativen Reduktion der Sprachreflexiont, s. dort S. 60). Durchgängig war das ein Topos vor allem in der bis in die 1960er Jahre in der westdeutschen Germanisitik dominierenden "Sprachinhaltsforschung", vor allem so bei Weisgeber, auch wenn dieser B. meist nicht explizit anführt, vgl. z.B. von ihm "Zweimal Sprache", Düsseldorf: Schwann 1973, z.B. S. 101. Ggegen diese Rezeptions-, besser: Verdrängungstradition richteten sich die weiter unten angeführten jüngeren Arbeiten am Ende der 1960er Jahre.
[47] Jakobson reproduziert B. in seinem epochemachenden Kommunikationsmodell zwar weitgehend, erwähnt ihn aber dabei nur als Repräsentanten des »traditional model of language«, das er selbst eben überwindet, in: Th. Sebeok (Hg.), Style in Language, Cambridge, Mass.: MIT Press 1960, 71978, hier S. 355.
[48] Benveniste nahm die »Sprachtheorie« auch in die Bibliographie der grundlegenden Werke bei seiner redaktionellen Überarbeitung von 1937 von der 8. Auflage von Meillets »Introduction à l'étude comparative des langues indo-européennes«, auf (s. Nachdruck Alabama: Univ. Alabama Press 1964: 485).
[49] In: Pieron/Meyerson 1938: 196-203.
[50] Ein relativ beliebig herausgegriffenes Beispiel, so bei V. Monteil, L'arabe moderne. Paris: Klincksieck 1960.
[51] Im übrigen eine bemerkenswerte Parallele zu Wittgenstein (bei dem das aber keine vergleichbaren Spuren hinterlassen hat). Daß Popper allerdings dann B.s Assistent gewesen sein soll, wie Eschbach (Q) kolportiert, ist ein Legende. Popper war wie seine Frau bis zur Auswanderung 1937 nach England in Erwartung der sonst drohenden rassistischen Verfolgung Hauptschullehrer in Wien.
[52] S. von ihm, Conjectures and refutations. London: Routledge, Kegan Paul 1963, überarbeitet 1969: 134 - 135 und 295.
[53] In: »To Honor Roman Jakobson«, Bd. III, Den Haag: Mouton 1967: 2067-2086.
[54] In: Muttersprache 79/1969:52-62.
[55] Erwähnt seien nur die Travaux du Cercle linguistique de Prague, NS 7 / 2018 (T. Hoskovec (Hg.), Karl Bühler, eine Sprachtheorie wiederentdeckt. Prag: PLK 2018).